Journal

Tadzio Müller nimmt den Klimakollaps persönlich

Es heisst ja immer, dass alles mit allem zusammenhängt, die grossen und kleinen Dinge in der Welt, der Schmetterling und der Wirbelsturm, der Wirbelsturm und die Finanzkrise und alles mit dem Sack Reis in China. Wer dafür wirklich ein Gefühl bekommen will, muss mit Tadzio Müller sprechen. Bei ihm hängt Sex mit der Zerstörung unserer Umwelt genauso zusammen wie Wirtschaftspolitik mit der eigenen Psyche. Tadzio spricht schnell, er wechselt zwischen Englisch und Deutsch mehr als jeder Tiktoker und er sieht für seine 48 Jahre wirklich gut aus: glatte Haut, frische Augen, sportlich gekleidet. 

Den Grund dafür sagt er gleich zu Beginn des Treffens in Kreuzberg: Er lebt seit 15 Monaten ohne chemische Drogen. Er habe aus der «Klimadepression» herausgefunden, sagt er und kann auch prominent auf sein eigenes Buch verweisen, dass diesen Weg zurück ins sein Leben als Aktivist ganz gut dokumentiert – schon im Buchtitel: «Zwischen Friedlicher Sabotage und Kollaps – Wie ich lernte, die Zukunft wieder zu lieben». Es ist eine wütende Streitschrift, die versucht, ein aufgeklärtes Leben für all die zu skizzieren, die akzeptiert haben, dass der Kollaps der «Welt wie wir sie kennen» nicht mehr aufzuhalten ist. Zwischen den Zeilen ist es auch eine Beichte geworden.

Schon im Vorwort, auf den ersten Seiten des Buches, schreibt Tadzio Müller, seine «queere Sicht auf Politik», sei geprägt ist von seiner Erfahrung als «schwuler, HIV—, drogen- und sexpositiver Mann». Deshalb werde Scham eine grosse Rolle spielen in seinem Buch. All das ist keine Überraschung für alle, die zu seinen 12.000 Follower auf X gehören (@faggotsforfuture), seinen Newsletter «Friedliche Sabotage» abonniert haben, oder eines seiner durchaus radikalen Interviews im Spiegel gelesen hat, wo er von der «grünen RAF» erzählt. Tadzio Müller ist eine sehr laute, sehr gut informierte – und gleichzeitig die wohl ungewöhnlichste und sehr queere Stimme in der deutschen Klimadebatte. 

Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist der Sohn eines Wirtschaftsanwalts in der globalisierungskritischen Bewegung unterwegs. Er hat den Namen Tadzio, weil es eine Figur aus Thomas Manns Roman „Tod in Venedig“ ist. Nicht weil Thomas Mann schwule Weltliteratur geschrieben hat, sondern weil der Name nach Weltläufigkeit klingen sollte. Wegbegleiter sagen anerkennend über Müller, dass er schon immer so war: selbstbewusst, schlau und gut vernetzt in der Klima-Bewegung und zwischendurch auch in der Politik. Seit dem Jahr 2008 baut er als Kommunikationsberater die Klimabewegung in Deutschland auf – und arbeitet parallel für die linke Rosa-Luxemburg-Stiftung als Referent.

Er erinnert sich gern an vielen Proteste in den 2000ern, wie der gegen die Castor-Transporte im Wendland. «Wir haben es damals extra nicht Sabotage genannt», sagt er über diese Zeit, «aber wir haben den physischen Transport aufgehalten mit friedlichen Mitteln.» Er war damals der sichtbarste Pressesprecher, lebte bis 2006 noch ungeoutet mit einer Frau zusammen. Er sagt: «Ich bin jeden Abend neben einer Frau eingeschlafen, die ich geliebt habe, aber mit der ich kaum Sex hatte.» Er nennt es bewusst nicht Doppelleben, sein Schwulsein spielte erst später eine Rolle. 

Als er sich dann 2007 nach Berlin zog und sich dort ins Leben stürzte, wurde es umso zentraler in seinem Leben. Er arbeitete viel und ging abends aus, hatte eine Beziehung, trennte sich, steckte sich 2010 mit dem HI-Virus an. «Ich hatte einen Liebhaber, von dem ich wusste, dass er positiv war.» Sie haben aufgepasst, weiss er noch, aber im Nachhinein ist er sich nicht sicher, ob er sich woanders angesteckt hat. «Die Schuld- und Schamfrage habe ich aber inzwischen längst überwunden.» Er nimmt seine Medikamente und ist froh, dass er kaum Nebenwirkungen hat. 

Tadzio Müller gründet in Berlin mit die Anti-Kohle-Kampagne «Ende Gelände» und beteiligt sich später an den Demonstrationen im Hambacher Forst und Lützerath. Immer wieder zieht er viel Positives für sich aus diesem Gemeinschaftsgefühl, postet auf verschiedenen Plattformen auch begeistert Videos von den Versammlungen von der «Letzten Generation». Als langsam deutlich wird, dass immer mehr Deutsche deren Protest ablehnen, sie abfällig «Klimakleber» nennen, da merkt er, dass etwas zu Ende geht, auch für ihn. 

In dieser Zeit im Jahr 2022 macht er drei Dinge, die er heute als Fehler bezeichnet. Eines ist ein unglücklicher Tweet nachdem ein LKW-Fahrer eine Radfahrerin überfahren hatte – lange war nicht klar, ob der Rettungswagen wegen eines Klimaprotests im Stau stand. Tadzio Müller schrieb nur: «Shit happens». Später entschuldigte er sich glaubwürdig, aber da war zum ersten Mal ein wirklich böser Zynismus zu erkennen. 

Ein zweiter Fehler war das Interview im Spiegel, in dem er vor einer «grünen RAF» warnt. Er sagt darin voraus, dass ein kleiner Teil der Klimabewegung sich irgendwann radikalisieren werde. Er bezeichnet die Stör-Aktionen der Aktivisten als «Notwehr» und sagt: «Wenn die Repression gegen Notwehraktionen zu heftig ausfällt, werden einige in den Untergrund gehen.» 

Er rudert in einem zweiten Interview ein Jahr später zurück, doch da hatten schon zu viele in so verstanden, dass er Gewalt gegen Menschen für wünschenswert erachte. Die «grüne RAF» wird ihn noch lange begleiten. Auch beim Gespräch im Frühling 2025 nennt er es einen «bewussten Provokationsversuch», der aber gescheitert sei. Die RAF rufe zu viel Panik beim Bürgertum hervor, sagt er, weil eben Menschen getötet wurden. Diese Dynamik habe er damals unterschätzt. 

Der dritte Fehler ist vielleicht der gravierendste, weil es ihn noch länger verfolgen wird: Er beschliesst, seine Sexualität radikal offen zu leben, zum einen verbreitet er explizite Videos auf sozialen Netzwerken. Noch Jahre später werden diese Clips immer wieder von seinen Gegnern benutzt werden. Vor allem greifen diese Gegner dann auch auf eine Dokumentation des Y-Kollektivs zurück. Der Name des Films, der noch immer bei Youtube zu finden ist, lautet recht eindeutig «Chemsex – Warum einige Schwule auf Drogen Sex haben». In jenen fast 32 Minuten zeigt sich Tadzio Müller mehrfach nackt beim Drogenkonsum und in verschiedenen sexuellen Positionen. 

Am Ende der Doku sitzt er angezogen im Park mit seinem Ex-Partner, er sieht fertig aus von mehreren wachen Nächten – aber er versucht weiterhin eine Lanze zu brechen für das offene, schamfreie Reden über Sex und Drogenkonsum. «Wenn wir hier von einer mit Alkohol durchsoffenen Nacht mit Sex reden würden, wäre es noch nicht einmal ein Thema», sagt er. «Drogen, weil sie so moralisch belegt sind, kann man ihnen unglaubliche Wirkungsmacht zuschreiben.» 

Die Kommentare unter diesem wirklich offenherzigen Video reichen von mitleidig-besorgt über hämisch-lästernd bis zu dankbar-anerkennend. Manche Kommentare sind auch lustig: «Die Oma neben mir in der Bahn ist auch geflasht.» Kaum ein anderer Film des öffentlich-rechtlichen Netzwerks Funk wurde so kontrovers diskutiert wie dieser. Er ist auf den ARD-Seiten nicht mehr zu finden. Der Autor Nico Schmolke überlegt noch immer, einen zweiten, längeren Film zu drehen. Ob er noch einmal Tadzio Müller als Protagonisten nehmen würde, weiss er nicht. 

Auch Tadzio Müller hat die Arbeit am Film als zwiespältig in Erinnerung. «Die Absprache war es», erinnert sich Tadzio, «einen vorurteilsfreien Film über Chemsex zu drehen.» Das Ziel war, die Scham aus dem Thema herauszuhalten. Den Film, den jetzt alle kennen, ist eine zweite Version, die erste Version sei laut Müller besser gewesen, weniger moralisierend. «Chemsex ist für mich wie freies Klettern am Felsen», sagt Tadzio, «es ist hochrisikohaftes Verhalten, aber jedes Gehirn reagiert anders auf Amphetamine und gerade ADHS-ler haben oft das Gefühl, unter Drogen eine Kontrolle über ihr Gehirn zu haben.» Er habe den Konsum lange kontrollieren können, mehr als zehn Jahre – bis er «keinen Grund mehr hatte, es zu kontrollieren.»   

Ungefähr zu jener Zeit überfällt ihn die Depression, die – wie immer bei ihm – mit allem zu tun hat: Politik, Klimakollaps, Sex und seine gescheiterte grosse Liebe. Er schreibt das in seinen Newslettern und in Texten, die in Tageszeitungen erscheinen. Dort erzählt er in seiner typischen Sprache, wie die Klimakrise in immer auch persönlich betrifft. Für ihn ist die Katastrophe längst ein «Jetzt-Problem». Er schreibt, «dass es mit ziemlicher Sicherheit schon zu spät ist, den Kollaps des globalen Klimasystems verhindern; zu spät, um das Überschreiten der immer wieder erwähnten Kipppunkte zu verhindern. Kurz: Es ist zu spät, um uns zu retten. Sorry to burst your bubble

Wenn er heute auf diese Zeit kurz nach der Pandemie zurückblickt, ist ihm nicht mehr alles zugänglich. «Es gab Momente damals, da bin ich zu einer Fridays Demo gegangen oder irgendeine Blockade und habe mich danach so sinnlos und deprimierend angefühlt, dass ich nach Hause gekommen bin und erstmal weiter Drogen genommen habe.» In den tiefen Phasen seiner Depression wollte er sich selbst auch auslöschen, sagt er. «Ich hatte meine Zukunft schon verloren und konnte mir ein Leben über 2024 und 2025 hinaus nicht mehr vorstellen.» Das einzige, worin er damals einen Sinn sah: „Gib mir Tina, Tina, Tina und dann will ich mich unter irgendwelche random Typen legen.“ Tina ist der Spitzname für eine Droge, die eigentlich Meth-Amphetamin heisst oder: Crystal Meth. 

Der Weg zurück für Tadzio Müller beginnt im Sommer 2022, als Malte C. getötet wird. Der 25-jährige Transmann bemerkt, wie Lesben auf dem CSD in Münster beleidigt werden. Als Malte den Täter zur Rede stellt, wird er selbst angegriffen und von dem erst 20 Jahre alten Angreifer, Deutscher Junior-Boxmeister, schliesslich so schwer verletzt, dass er fünf Tage später im Krankenhaus stirbt. Für Tadzio war das ein Wendepunkt. 

«Ich weiss noch, ich kam selbst gerade aus einer durchfeierten Partynacht, als ich Anfang September vom Tod von Malte erfuhr.» Er sei in solchen Tagen besonders empfindlich, besonders «durchlässig». Tadzio Müller las in der Meldung einen Angriff auf einen der wenigen Safe Spaces, den Schwule und Lesben noch haben: den Christopher Street Day. «Der Tod von Malte hat mich irgendwie wachgerüttelt, hat mir einen Fluchtpunkt gegeben, auf den ich mein Leben wieder ausrichten konnte.» Es hat Tadzio Müller daran erinnert, dass es auch einen aktiven Weg heraus aus der Depression gibt: Wir müssen uns wieder verteidigen. «Egal, wie dunkel es ist, wir sind handlungsfähig.»

In seinem Buch beschreibt er auch, wie sich diese Selbstermächtigung auch auf die Klimabewegung übertragen lässt. Er führt dafür Schweden als Beispiel an, ein Land, dass sich nicht nur wegen der Nähe zu Russland, sondern auch wegen des rauen Klimas auf widrige Umstände vorbereiten muss. Seit einigen Jahren gibt es dort auch eine Bewegung «Preppa Tillsammans», die genau das zum Thema macht: Wie bereitet sich eine Gesellschaft auf den Klimawandel vor? Was tun, wenn der Strom ausfällt oder wenn Wirbelstürme Alltag werden? Der Zivilschutz steht im Zentrum. 

Für Tadzio muss sich das auch auf Deutschland und auch auf die queere Community übertragen. «Das kann damit anfangen, dass wir lernen, Stich- oder Schusswunden zu verarzten», sagt Tadzio Müller, «aber Preppen bedeutet auch, sich auf den Fall vorzubereiten, wenn die HIV-Medikamente nicht mehr vom Staat übernommen werden.» Zum Teil werde dieser Zustand gerade schon vorbereitet in den vereinigten Staaten. «Ich kenne Menschen, die reden darüber Buyers Clubs zu gründen, also Kollektive, die HIV-Medikamente sammeln und sie an alle Mitglieder günstig weitergeben.» 

Das gleiche gelte auch für trans Menschen, denen in den USA gerade der Zugang zu Hormonen oder zu Operationen deutlich erschwert wird. Die Welt verändert sich gerade sehr und einst sicher geglaubte Errungenschaften stehen plötzlich wieder in Zweifel. So eben auch die Sicherheit von Schwulen und Lesben auf einer Pride Parade in Europa. 

Wenn Tadzio Müller von solchen Treffen mit Aktivisten erzählt, überschlägt sich wieder, aber nicht so rauschhaft wie in dem Chemsex-Video, sondern vor Begeisterung für die gegenseitige Hilfe, die Menschen bereit sind zu leisten. «Gerade unter HIV-Positiven ist manchmal eine Stimmung, die besonders Mut macht», sagt Müller, «denn sie haben eine wirkliche Erinnerung an Ihre Katastrophe vor 40 Jahren.» Sie seien alle Überlebende und das allein treibt sie aus der Lethargie. Tadzio nennt es «wirklich empowering.» Selbst wenn für ihn die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten ist, er will möglichst vorbereitet sein darauf.

Seit zweieinhalb Jahren ist das wieder sein Hauptjob, Sachen zu sagen, die Leute nicht hören wollen, oder wie er sagt: «erklären, was verrückte Menschen machen und warum.» Nichts anderes hat er beim Thema Chemsex getan, auch wenn das wohl vorerst scheiterte. Die Geschichten rund um diese Zeit will er hinter sich lassen, auch wenn sie ihm immer wieder vorgehalten werden. Wenn das passiert, kann er inzwischen nur mit den Schultern zucken. Ja, und? Gibt es nicht Wichtigeres zu besprechen, den Klimakollaps zum Beispiel? Die schmelzenden Polkappen? Die steigende Gewalt gegen queere Menschen? Es klingt nach: «I’ve moved on, you should, too.»

Am jenem Septemberabend im Jahr 2022, als er vom Tod von Malte C. in Münster erfährt, ist Tadzio Müller genau so müde und «durchlässig» wie er war zum Berliner Alexanderplatz gefahren. Dort trafen sich rund 20 Menschen zu einer Mahnwache. „Das waren wenig Leute, aber es war für mich der Anfang von etwas.“ Die Hoffnung, das merkte er in dem Augenblick, komme nämlich nicht allein von der Aussicht auf Erfolg, sondern aus den Beziehungen mit Menschen. «Und die entstehen, wenn wir versuchen, die Zukunft besser zu machen.» 

Er dachte plötzlich darüber nach, sich zu wehren. Wie wäre es mit einem pink-silber gekleidetem Kampfkollektiv gegen rechte Schläger? Und statt Waffen haben sie Riesen–Dildos in den Händen? „Bad Ass“ eben. Er will die Idee noch einmal überdenken. Aber nichts tun – ist keine Option mehr. 

Der trockene Humor aus Wuhan: Warum Witze über China in Deutschland funktionieren

Moni Zhang hat schlechte Laune, ein Schüler hat sie verprügelt, danach hat ihre Lehrerin ihr gesagt, sie sei hässlich. Dann kommt ihre Mutter nach Hause und erwischt sie beim Fernsehen. „Wenn das noch einmal passiert, schlage ich dich tot“, brüllt die Mutter. Moni ist verzweifelt, niemand liebt sie. Sie überlegt aus dem Fenster zu springen. „Aber wir wohnen im Erdgeschoss.“ Kurz darauf nimmt Moni Zhang ein Küchenmesser in die Hand und verletzt sich am Arm. Sie ist 13 Jahre alt – und wenn sie rund 20 Jahre später in Berlin auf der Bühne von dieser durch und durch furchtbaren Situation erzählt, beendet sie diese mit: „Keine Sorge, das Messer war Made in China, mir ist nichts passiert.“  

Der Vortrag „Child from Wuhan“ ist seit ein paar Monaten online auf YouTube zu sehen. Die 35-Jährige Chinesin Moni Zhang hat zwei Jahre lang diese einstündige Comedy-Show auf verschiedenen Bühnen in Europa aufgeführt, auch beim berühmten Festival Fringe in Edinburgh. Sie erzählt darin auf Englisch von ihrer Kindheit in der 14-Millionen-Stadt, die vor dem Jahr 2020 nur wenige kannten. Danach wissen alle Zuschauer zumindest, dass Wuhan Chinas „Frühstückshauptstadt“ und das dort berühmteste Gericht „ReGanMian“ heißt, das sind scharfe Sesam-Nudeln. Doch immer wieder bringt sie die Zuschauer auch zum Weinen. 

Wie schnell Moni Zhang selbst emotional wird bei Gesprächen über ihr Leben, wird auch am Freitag deutlich, als sie in einem indischen Restaurant in Berlin Friedrichshain sitzt. Sie spricht sehr laut, so dass sich mehrere Restaurant-Gäste nach ihr umdrehen, weniger irritiert als eher interessiert, als wäre sie ein Hollywood-Star, den sie gerade nicht zuordnen können. Dreimal wird sie weinen während des Gesprächs, einmal, als es um ihre Kindheit geht, einmal, als sie vom Tod ihres Vater spricht, und am Ende einmal vor Rührung.

„Ich weine oft auf der Bühne“, sagt sie, „wenn die Atmosphäre dafür richtig ist und das Publikum mitgeht – dann passiert es.“ Dann sei die Aufführung auch ein Teil ihrer Therapie irgendwie. „Ich erinnere mich dann so stark an meine Vergangenheit in China und erlebe alles noch einmal.“ Natürlich sei ihr bewusst, dass andere auch eine schlimme Kindheit haben. Zum Beispiel schaue sie gerade „Love is blind – Germany“ auf Netflix, um ihr Deutsch zu verbessern. „Da gibt es einen Waisenjungen und das ist ja wohl noch schlimmer, als mit einer Mutter aufzuwachsen, die ab und zu böse Dinge sagt.“ Liebe sei eben kompliziert, gerade in Familien. 

Vor zehn Jahren kam Moni Zhang nach Europa, für ein BWL-Studium in den Niederlanden, ihre Mutter hat ihr das ermöglicht – und dann nach Berlin, wo sie endlich ihren Traum verwirklichte und begann, als Stand-Up-Comedian zu arbeiten. Im Gegensatz zu New York oder London ist der Markt für englisch-sprachige Comedy noch recht offen. Sie kann an fast jeden Abend zwei bis drei Auftritte haben und ihre Witze ausprobieren. Das ist zwar finanziell mit viel Selbstausbeutung verbunden, aber sie hat auch schnell Erfolge. Das mag damit zu tun haben, dass ihr Stil auf eine Art radikal ist: Sie spricht recht freizügig über bisexuelle Erlebnisse, über Suizidversuche und eben über ihre schwierigen Familie. 

In ihrer zweiten Show „Asian Daddy, dead“ erzählt sie, warum die letzten Worte ihres Vaters zu ihr „Geh weg, ich habe kein Geld“ waren. Gleich zu Beginn sagt sie, dass sie „traditionell chinesisch“ erzogen wurde: „Das heißt: ganz ohne Selbstbewusstsein.“ Ihr Leben lang habe sie an den Spruch ihres Großvaters denken müssen, der sie einst warnte: „Du sprichst zu laut und zu viel, so findest du nie einen Ehemann.“ Sie habe ihm geantwortet: „Aber Großvater! Ich bin erst fünf Jahre alt, ich hab noch fünf Jahre Zeit, einen Mann zu finden, oder?“ Erst jetzt, seitdem sie in Europa sei, mache sie sich Gedanken über Dinge wie „Glücklich-sein, Redefreiheit und den weiblichen Orgasmus“. 

Solche Witze funktionieren beim Publikum – und immer wieder wird auch klar, dass sie solch eine Show nicht in China machen könnte. Sie war gerade in Schanghai und habe dort gesehen, dass es dort jetzt auch eine englisch-sprachige Szene für Comedians gibt. Aber in China seien Witze anders. Ein chinesischer Witze gehe so: „Wie steckt man einen Elefanten in drei Schritten in den Kühlschrank? – 1.: Kühlschranktür auf, 2.: Elefant rein, 3.: Kühlschranktür zu.“ 

Einen Vorteil haben chinesische Stand-up-Comedian aber in ihrer Heimat: Es gibt noch nicht so viele von ihnen und so landen auch mittelmäßige Auftritte schnell sehr viele Klicks im Internet oder bei sozialen Medien. Der Markt ist einfach für alles: riesig. Aber Moni Zhang möchte lieber weiter in Deutschland leben. „Ich glaube, in China würde meine Witze der Großteil der Bevölkerung nicht verstehen.“ 

Sie hat auch Angst, dass sie harte Kritik bekommt. Schon jetzt sind ihre härtesten Kritiker unter ihren Videos auf Youtube oder Instagram häufig Chinesen. „Du spielst hier nur das Opfer“, schreiben sei dann oder auch Beleidigungen über ihre Größe oder ihre Körperform oder darüber, dass sie nicht verheiratet sei oder kritisieren ihren Lebensstil. Single-Frauen über 27 Jahren heißen umgangssprachlich noch immer „Left over Ladies“. Politische Themen lässt sie ohnehin aus: Witze über Taiwan oder den Präsidenten passen nicht in ihr Programm.

Inzwischen gibt es im englischsprachigen Raum viele asiatische Vorbilder, die mit Comedy erfolgreich wurden. In den USA füllen Ronny Chieng und Ali Wong mit ihren Shows große Hallen und haben eigene Netflix-Specials. Ein Vorbild von Moni Zhang ist die Chinesisch He Huang, die in Australien gerade sehr erfolgreich ist. He Huang beginnt eine ihrer Shows so: „Ich bin He, das ist mein Name, nicht mein Pronomen. Ich bin Made in China. Noch jemand hier im Saal? Niemand? Dann aber sicher die Stühle und Tische – und die Vorhänge wahrscheinlich auch.“

Witze über China sind auch weiterhin Zhangs Markenzeichen und bisher ist sie in Deutschland damit noch sehr besonders. In „Child from Wuhan“ erzählt sie, dass sie ihren Hund „Panda“ genannt hat („Weil ja jeder Chinese einen Panda zuhause hat“), dass chinesische Kinder laut ihrem Großvater nur etwas wert sind, wenn sie männlich sind („Meine Dildosammlung zählt leider nicht, glaubt mir“) und wenn sie dann irgendwann doch einen Witz zu ihrer Heimat („Hust hust“) Wuhan macht, in dem sogar die Kommunistische Partei vorkommt, dann sagt sie danach in Richtung einer chinesischen Gruppe im Publikum: „Das hier war ein Witz, ok? Kann ich nach der Show eure Telefone kontrollieren?“ 

Ihr neuestes Vorbild sind aber deutsche Comedians wie Cindy von Marzahn. Moni Zhangs nächstes Ziel sei, fließend Deutsch zu sprechen. Aktuell hat sie das Niveau C1 erreicht, müsste theoretisch auch dieses Interview auf Deutsch schon führen können. Aber sie spreche noch zu viel Englisch im Alltag, sagt sie, dass solle sich bald ändern, wenn sie an der Uni neue Freunde kennen lernt. Comedy soll weiterhin eine Rolle in ihrem Leben spielen, sie wird auch wieder auf deutschen Bühnen auftreten – dann eben auf Deutsch, der Sprache ihrer neuen „Heimat“. Das Wort sagt sie schon jetzt auf deutsch. 

Sie lässt sich im Restaurant das Essen einpacken. Sie hat kaum etwas gegessen, weil sie die ganze Zeit gesprochen hat. Ganz am Ende hat sie vor Rührung feuchte Augen, als sie vom Besuch ihrer Mutter erzählt, die schließlich so viel geopfert habe, damit es ihrer Tochter einmal besser gehe. Vielleicht ist es nicht so wichtig, dass sie das mit der Comedy-Karriere nie verstanden hat.

„Und das ist die Ironie“, sagt Moni Zhang, „dass meine Mutter, die stark gehbehindert ist, immer arm war, dass sie aber ein glücklicher Mensch mit vielen Freunden ist, während ich in Berlin zwar ein schönes Leben habe, aber mit Depressionen kämpfe und nur einen engen Freund habe und der ist auch noch aus Finnland!“ Aber dann trocknet sie ihre Tränen und sagt grinsend: „Vielleicht habe ich Glück und ein Neo-Nazi schlägt mich zusammen, dann schreib ich einen Bestseller und werde berühmt. So läuft das doch hier, oder?“ 

«Ich habe zwölf Stunden verloren»

Als Gerd Holler* wach wird, liegt er auf einem Krankenhausbett. Er weiss zuerst nicht, wo er ist. Im Rettungswagen? Warum bewegt sich alles um ihn herum? Er versucht, sich aufzurichten, aber das geht nicht, seine Arme sind festgebunden. Um sein Bett herum stehen vier Menschen in blauer Krankenhauskleidung und reden auf ihn ein. Er merkt, er ist in einer Art Schockraum, durch das Fenster sieht er den grauen Tageshimmel.

Einer fragt laut, immer wieder: «Was haben Sie genommen? Was haben Sie gemacht?» In seinem Arm ist eine Kanüle, er hängt am Tropf, Gerd schaut an sich herunter und ist überwältigt von Scham. Er trägt noch immer seinen schwarzen Cockring von letzter Nacht.

Als Gerd davon im Februar 2025 erzählt, sitzt er in einem warmen Café in Schöneberg, fast 15 Monate nach jenem 3. November 2023, als er nackt im Schöneberger Klinikum aufwachte. Ein schwuler Kellner bringt einen Birnen-Walnuss-Kuchen und flirtet ein bisschen mit seinen Kunden. Es sitzen noch alte Damen im Café, die manchmal etwas zu laut lachen, was gleichzeitig auch etwas Leichtigkeit in den Raum bringt. Draussen wird es langsam dunkel und nichts an der Umgebung deutet an, worum es in den folgenden zwei Stunden für Gerd noch einmal gehen wird.

Eine Drogenmischung, die ihm beinahe das Leben kostet Er sieht etwa zehn Jahre jünger als seine 65 Jahre aus, kommt gerade von Arbeit, und trotzdem hat er sich bereit erklärt, noch einmal zu erzählen, was damals passierte. Damit es anderen nicht passiert, damit er abschliessen kann? Vielleicht einfach, damit es raus ist, und damit es hier am Tisch in Berlin und auch im Leben ein Happy End gibt. Gerd wird mehrfach in Tränen ausbrechen während des Gesprächs, aber der Walnusskuchen und der Cappuccino helfen, und schliesslich: Ich habe überlebt.

In jener Nacht machen die Ärzt*innen ein toxikologisches Blutbild. Was sie feststellen in seinem Blut, ist: Alkohol, Kokain, Viagra, Crystal Meth und Valium, eine an sich schon gefährliche Mischung. Die sogenannten K.O.-Tropfen oder das GHB, das ihm beinahe das Leben gekostet hat, werden aber nicht untersucht. Ein Grund ist, er gilt in dieser Nacht als ein «normales Drogenwrack», nicht als Opfer einer Straftat.

Doch als Gerd dort liegt, will er erst einmal nur nach Hause. Als seine unkontrollierten Bewegungen schwächer werden, als seine Gedanken langsam an Klarheit gewinnen, kommt eine Psychiaterin zu ihm ans Bett. Sie spricht mit ihm darüber, was passiert ist; er weiss noch, dass sie zweifelnd schaut, wenn er von einem Überfall spricht.

Vielleicht liegt es an seiner Psychose, die noch nicht ganz vorbei ist, oder daran, dass er viele ihrer Fragen mit «Ich weiss es nicht» beantwortet. Und bis heute treibt ihn eine Tatsache um, ein Satz, den er damals zuerst formuliert: «Ich habe ungefähr zwölf Stunden verloren.»

Eine neue Epidemie in der schwulen Community Was in dieser Zeit passiert ist, wird wohl in gewisser Weise für immer verloren bleiben. Laut Statistik kommt solch ein Fall rund 10 Mal pro Tag in Berlin vor: Dass jemand wegen Drogenkonsums ins Krankenhaus eingeliefert wird. 271 Mal sind Menschen in Berlin im Jahr 2023 an Drogenkonsum gestorben.

Das ist der höchste Wert, der jemals in der Stadt gemessen wurde. Im Oranienpark in Berlin Kreuzberg steht deshalb eine Parkbank in Regenbogenfarben, um daran zu erinnern, dass Drogensucht häufig in gesellschaftlichen Randgruppen passiert, auch in der LGBTIQ-Welt.

Gerd lebt schon lange in Berlin, hatte aber nie mit Drogen zu tun. Er hatte Alkohol getrunken, in seinen 20ern und 30ern, das wurde in seinen 40ern für ein paar Jahre zu viel, er machte einen Entzug, setzte mehrere Jahre komplett aus – und dann, kurz vor seinem 60. Geburtstag, lud ihn ein Freund in seine Wohnung im Stadtzentrum ein.

Das war ein Musiker, erfolgreich in einem renommierten Orchester, und dieses Date bot ihm eine Line Kokain an. Beide hatten zu dem Zeitpunkt schon wenig Kleidung an, er dachte sich wenig dabei, nahm sie und weiss noch, dass es eine ziemlich lange und sehr gute Nacht war. Dass er vor sieben Jahren so auch seine erste «Chemsex-Erfahrung» machte, war ihm damals nicht klar.

Die Verbindung zwischen Sex und Drogen ist in der schwulen Community weltweit inzwischen zu einer Art neuen Epidemie geworden. Laut einer europäischen Studie konsumieren mindestens 10 Prozent der Homosexuellen regelmässig Drogen beim Sex.

In einer weiteren Studie aus Deutschland gab im Jahr 2024 ein Drittel der befragten Teilnehmer an, regelmässig Crystal Meth, Kokain, GHB, Ketamin oder Mephedrone zu konsumieren. Bis zu 50 Prozent von diesen Konsumenten sehen dahin ein Problem und würden das gern ändern. Rund 1 Prozent sucht sich Hilfe. In der Pandemie stiegen die Zahlen noch einmal an.

Fehlendes Geld und geplünderte Konten Gerd geht in jener Nacht am 3. November 2023 quer durch Schöneberg vom Krankenhaus nach Hause. Er hat sich selbst noch am gleichen Tag entlassen, aber aus irgendeinem Grund verläuft er sich immer wieder.

Er ist auch abgelenkt, in seinem Entlassungsbrief steht das Wort «ungepflegt», was ihn immer noch verletzt. Erst spät abends kommt er in seine Wohnung und findet ein grosses Chaos vor. Alle seine Aktenordner liegen auf dem Boden. Alle Kabel sind aus den Wänden gezogen, auch das Telefonkabel. Das kennt er nur aus Kriminalfilmen, wenn ein Täter verhindern will, dass die Opfer die Polizei rufen.

Sein Portemonnaie ist noch da, aber es fehlt Bargeld und sämtliche Karten, auch die der Krankenkasse. Was will der Täter damit? Der Ordner, wo er Geheimzahlen abgeheftet hatte, liegt offen. Er hat eine böse Vorahnung und schaut auf sein Konto. Es fehlten 5381,85 Euro. Sein Girokonto wurde leergeräumt, während er mit seinem Leben kämpfte. Noch weitere 1000 Euro wurden überwiesen. Er ruft die Bank an, sperrt die Karten, ihm wird jetzt klar, er ist Opfer eines Verbrechens geworden.

Mit diesem Erlebnis hätte die Geschichte zu Ende sein können. Denn häufig ist es genau so: Oft ist es Opfern zu peinlich zur Polizei zu gehen, die beschämenden und grausamen Details fremden Menschen gegenüber zu offenbaren. Sie bestellen lieber alle Karten und Ausweise neu, sortieren ihr Leben und machen weiter. Das ist der Grund, warum viele Vergewaltigungen nicht angezeigt, werden, auch Taten im Drogenmilieu, zu dem Gerd nicht gehört, oder doch?

Trotz Scham und Angst zur Polizei Er duscht sich, zieht sich ordentlich an, «nicht ungepflegt, was fällt denen ein», und geht zur Polizeistation ein paar Querstrassen weiter. Es ist mitten in der Nacht, als er Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Das heisst, so ganz unbekannt ist die Person bis heute nicht.

Für ihn hiess er «BLN_BRK96». Das war der Name des Täters auf der Plattform Planetromeo. Inzwischen ist das Profil gelöscht, aber Gerd Holler hat noch immer das Foto gespeichert. Ein glatter, muskulöser Oberkörper, auf der linken Brust ein rundes Tattoo, das sich bis zum Arm fortsetzt.

Dort erzählt Gerd einem Beamten, der sich erstaunlich gut in der Szene auskennt, wie sein Abend verlaufen ist. Wie er zuerst in einer Bar ein Bier trinken wollte, wie daraus drei Bier wurden und noch ein paar Wein. Er hat die Rechnung noch, rund 30 Euro bezahlte er. Schon in der Bar hat er mit BLN_BRK96 gechattet, 2,1 Kilometer entfernt waren sie da zueinander. Er kam zu ihm nach Hause, ein 35 Jahre alter Mann aus Nigeria, der ihm bald nachdem er in der Wohnung war, ein Glas an den Mund setzte und sagte, er solle das trinken. Er trank und danach weiss er nichts mehr.

Einen Teil kann er rekonstruieren. Denn seine Wohnungstür bleibt offen, eine besorgte Kollegin sucht ihn, findet ihn in einem erbärmlichen Zustand. Sie ruft den Notarzt. Er habe wohl sehr seltsame Geräusche von sich gegeben. Seine Beziehung zu besagter Kollegin, sagt er, ist nicht enger geworden. Er hat sich bedankt, aber es ist ihm auch unangenehm, das anzusprechen.

Scham ist der Grund, warum Drogen in Grossstädten gerade unter Homosexuellen ein verbreitetes Problem geworden sind. Viele Schwule, so eine Studie der New York University, nehmen bis ins spätere Lebensalter Drogen, um mit Stressfaktoren wie Diskriminierung und Stigmatisierung umzugehen.

Oft würden diese Faktoren mit dem Alter zunehmen, weil auch die soziale Isolation sich verstärke. Verglichen mit ihren heterosexuellen Altersgenossen sind Homosexuelle doppelt bis dreifach häufiger mit Drogen in Kontakt.

Linien und Comicfiguren: eine weitere Psychose Nur einen Tag nach dem Überfall bekommt Gerd Holler eine weitere Psychose, er kann sich bis heute nicht erklären, was genau passierte, aber er nimmt sich ein Taxi und fährt selbstständig zurück in die Klinik und liefert sich ein, weil er Linien sieht, wo keine sind, Comicfiguren vor seinem Auge erscheinen.

Er bleibt zwei Wochen in der Klinik, er nüchtert komplett aus. Es ist für ihn auch der erste Schritt in eine Therapie, die auch 15 Monate später noch andauert und ihn zurück ins Leben bringen wird.

In Berlin waren 2023 mehr als 7200 Kokainabhängige in Behandlung. Gerade für Homosexuelle gibt es inzwischen mehrere Programme, die auch häufig ausgebucht sind. Nur vier Jahre zuvor waren 2000 Abhängige weniger in Behandlung, eine steigende Zahl. Da nur ein Bruchteil der Süchtigen in Behandlung ist, sei die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich grösser, heisst es.

Auch die Zahl der HIV-Infektionen stieg nach der Pandemie wieder an, berichtet die Aids-Hilfe, weil das Bewusstsein für die Krankheit nicht mehr genügend vorhanden ist – oder durch Drogenkonsum unterdrückt wird.

Auch Gerd Holler hat sich mit dem HI-Virus infiziert während seiner Chemsex-Zeit. Er weiss nicht mehr genau wann, aber wenn er es im Jahr 2021 feststellt, sind seine Blut-Werte schon sehr schlecht. Er hat während der Monate der Pandemie die Übersicht verloren, auch über sich und seinen Konsum, nebenbei hat er immer Vollzeit gearbeitet.

Die Mordkommission schaltet sich ein Er zieht zeitweise zu einem Freund, um nicht allein zuhause zu sein, in der Wohnung, in der er beinahe gestorben wäre. Im März 2024 meldet sich die Berliner Mordkommission bei ihm. Er hat zu dem Zeitpunkt seine Anzeige gegen BLN_BRK96 schon wieder vergessen. Die Beamten bitten Herrn Holler zum Gespräch.

Er nimmt einen Freund mit, um nicht allein zu sein. Zu viert sitzen sie an einem Tisch mit zwei Beamten, beide Profis in ihrem Fach. Sie kennen die Fachbegriffe für die verschiedenen Drogen, kennen die Wirkungen, die Zahlen der Süchtigen, wissen, was NA bedeutet: Narcotics Anonymous, jener Ableger der Anonymen Alkoholikern, die für Drogenabhängige da ist – und weltweit Leben rettet. Einer ihrer Leitsprüche: «Komm wieder, es funktioniert!» Gerd sagt, er fühlt sich wohl bei den beiden Polizisten, gerade weil sie sich so gut auskennen.

Die Beamten erzählen von einem weiteren Opfer des Täters, das nicht so viel Glück wie Gerd. Ein 52 Jahre alter Mann wurde von seinem Ex-Ehemann tot in seiner Wohnung gefunden, 19 Tage nach dem Überfall auf Gerd. Es fehlten Laptop, Geld, eine Rolex-Uhr. Die Beamten sagen ein Wort, das Gerd auch schon häufig gehört hat als Folge von zu viel GHB-Konsum: «Atemdepression.» Daran ist wahrscheinlich der andere Mann gestorben, wegen der Droge im Glas, die gleiche, die auch Gerd trank.

Onlinedates sind tabu Anfang September 2024 liegt dann die Vorladung zum Gerichtstermin in seinem Briefkasten. Fast ein Jahr ist verstrichen, längst lebt er wieder in seiner Wohnung, denkt nur noch manchmal an den Vorfall, dann aber übermannt es ihn oft. Onlinedates sind für ihn schon lange tabu. Auch Ausgehen ist gerade kein Thema. Er fragt sich, wie er so lange leichtsinnig fremde Menschen in seine Wohnung gelassen hat.

Am 9. Oktober, einem Mittwoch, betritt Gerd Holler um 9.15 Uhr den Gerichtssaal in Moabit und wird ihn, wie sein Verteidiger ihm angekündigt hat, fünf Stunden nicht mehr verlassen. Er muss noch einmal genau erzählen, wie alles abgelaufen ist, welche Drogen er wie oft in jener Zeit konsumierte, eine Schulklasse sitzt hinter ihm und schreibt mit, oder sind es Referendare, die etwas lernen wollen? Als er jetzt im Café davon erzählt, weint er noch einmal bitterlich, findet keine Worte, ausser, dass es wie ein Sog war.

Die Verteidigung des Täters versucht, ihn als Süchtigen darzustellen und so die Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Und wieder ist Gerd überrascht, dass ein Richter weiss, was Planet­romeo ist, dass er die Bars in Schöneberg kennt und ungefähr in Kilometerlänge abschätzen kann, wie weit sie vom Tatort entfernt sind. Als der Verteidiger ihn immer eindringlicher nach Details der Drogensucht fragt, ruft ihn der Richter zur Ordnung. «Es reicht!» Die Sitzung wird unterbrochen.

Am Ende des Verhandlungstages zitiert der Richter aus dem Gespräch im Krankenhaus mit der Psychiaterin. Der Brief liegt ihm vor. Gerd Holler habe doch damals der Ärztin gesagt: «Ich kämpfe gegen drei Dämonen – Alkohol, Sex und Drogen.» Der Richter will wissen, ob er bis heute Konsequenzen aus all dem gezogen habe. Fast fürsorglich fragt der Richter: Wie geht es Ihnen denn jetzt?

Gerd Holler kann von diesem Tag noch nicht erzählen, ohne wieder zurückzugehen in diese Stimmung. «Und da ging es mir noch einmal durch den Kopf, der ganze Mist.» Es ging ihm schlecht damals, aber besser als zu der Zeit seines Konsums. Er sagt dem Richter auch: «Es gab eine Zeit zwischen 2018 und 2023, da wollte ich im Grunde nicht mehr da sein.» Er darf dann den Zeugenstand verlassen. Mit dem Angeklagten wechselt er keinen Blick. Er schaut nur auf den Boden.

Neue Ruhe im Leben von Gerd Holler Heute liegt auch das Verfahren wieder einige Monate zurück. Gerd Holler sagt, er schläft besser als vor einem Jahr. Er stand Monate lang unter einer Spannung, die er sich kaum erklären kann. Die ist jetzt weg und einer Ruhe gewichen, die es ihm auch wieder ermöglicht, sich in seiner Wohnung zuhause zu fühlen.

Das Erlebnis mit dem Überfall Ende 2023, Gerd Holler sieht es heute als einen Weckruf. Das Jahr 2024 wurde für ihn eines, in dem er sehr viele Nummern blockierte, manchmal kommen noch heute neue Nummern dazu, die er sperrt, wenn sich Freunde von damals melden. Er geht in Selbsthilfegruppen, beginnt eine ambulante Therapie, die weiterhin andauert. Sie lässt ihm viele Freiheiten, erinnert ihn aber mehrfach in der Woche daran, dass er mit der Sucht eine chronische Krankheit hat, die unbehandelt nur drei Ausgänge kennt: Gefängnis, Anstalt oder Sarg.

Der letzte Rückfall liegt mehr als ein Jahr zurück. Er knüpft wieder an das Leben vor 2018 an. Das gelingt nicht immer, besonders dann nicht, wenn er an die zwölf Stunden denkt, die ihm fehlen. War noch jemand in seiner Wohnung? Wurde er vergewaltigt? Warum hatte er so starke Unterleibsschmerzen, als er da im Krankenhaus aufwachte? Der einzige, der das genau weiss, sitzt derzeit für 7,5 Jahre im Gefängnis.

Champagner-Probleme in West-Berlin: Kai Wegners erster Bürgerdialog

Nur wenige Sekunden später und die Buhrufe wären live im Fernsehen gewesen. Die drei Frauen rufen Buh um genau 19.30 Uhr, als die Live-Reporterin der „Abendschau“ sich hinten im Saal des Maison de France vorbereitet auf ihren Bericht. Die Kamera ist direkt auf die rund 150 Gäste gerichtet, die zum ersten Bürgerdialog des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner nach Charlottenburg-Wilmersdorf gekommen sind. Doch als die RBB-Reporterin zu sprechen beginnt, ist die Stimmung schon wieder recht „ruhig und gediegen“, so nennt sie es in ihrem Bericht.

Und so bleibt es im Grunde auch die ganze Zeit an diesem Abend. Kai Wegner spricht etwa zwei Stunden über Themen wie Bauen, Verkehr, Bildung und Verwaltungsreform und bekommt immer wieder verhaltenen Applaus, aber kaum Gegenwind. Es ist ein Heimspiel für den 51 Jahre alten Mann, der vor zehn Monaten das Amt im Roten Rathaus angetreten hat. Fast könnten Zuhörer den Eindruck gewinnen, die Bürger in Charlottenburg-Wilmersdorf hätten nur sogenannte Champagner-Probleme.

Unter welchem Feuer er und die Stadt gerade thematisch stehen, macht er deutlich, als er gleich zu Beginn das Thema Berlinale anspricht: „Da muss man sich gar nichts vormachen“, sagt er, „die Berlinale hat schweren Schaden genommen.“ Die Stadt müsse sicherstellen, dass Hass, Hetze und Israelfeindlichkeit so eine Preisverleihung nicht dominieren. „Diese Bilder und die Töne will ich nicht aus Berlin hören oder sehen, das gehört nicht zu Berlin und das passt nicht zu Berlin.“

Am Sonnabend war auch Wegner im Publikum, als im Berlinale-Palast die Preise verteilt wurden und mehrere Preisträger und Jury-Mitglieder die Bühne nutzten, um Israel Völkermord vorzuwerfen, ohne den Angriff der Hamas zu erwähnen oder die Geiseln. Doch bis auf diese kurze Ausnahme zu Beginn des Bürgerdialogs wird es ausschließlich um lokale Probleme gehen. Eines der großen Themen, das die Bürger interessiert, ist der Schlangenbader Tunnel, den Wegner auf jeden Fall sanieren möchte, nachdem Städtebauer darüber nachgedacht hatten, ihn abzureißen.

Doch bei diesem Dialog wird deutlich, viele Bürger warten darauf, dass er endlich wieder in Betrieb genommen wird und die Wohngebiete vom Durchgangsverkehr entlastet werden. Wegner aber liegen solche hyperlokalen Themen, das merken die Zuschauer. Er spricht gern über Umbauarbeiten an der Kantstraße, Baupläne rund um das Denkmal Gleis 17 und die Tangentialverbindung Ost, die er – ganz Insider – als TVO abkürzt. Meist kennt er die Probleme, die angesprochen werden, und wenn nicht, dann entgegnet er: „Das nehme ich mir heute noch einmal mit“ oder „Da will ich ran!“

Das sind zwar die üblichen Sätze, die man so hört von Politikern auf Bürgerdialogen, aber sie funktionieren hier in Charlottenburg sehr gut. Der Applaus ist nie frenetisch, aber er ist immer wieder da. Der Saal ist nicht komplett voll, aber auch nicht so leer, dass es peinlich ist. Bis auf die kurzen Buhrufe in der Mitte bleibt es zudem bis zum Ende auch zivil, was sicher mit der locker-strengen (sie kann das gleichzeitig) Moderation von Wegners Sprecherin Christine Richter zu tun hat.

In der zweiten Hälfte wird es manchmal unfreiwillig komisch, weil sich einige der anwesenden Kreuzberger und Neuköllner doch wundern müssen, was Charlottenburger alles mit dem Regierenden Bürgermeister bereden wollen: „Was tun Sie, damit die Kinder mehr Französisch lernen?“ – „Manche Autos parken an den Straßenecken und bekommen keine Strafzettel!“ – „Manchmal liegen jetzt noch Weihnachtsbäume herum, es ist Februar!“

Vielleicht hat sich deshalb der Regierende zuerst in diesen Bezirk gewagt, weil er wusste, dass er freundlicher empfangen wird als sein sächsischer Parteikollege Michael Kretschmer in irgendeinem seiner Bürgerdialoge, die häufig in Beschimpfungen geendet sind. Doch AfD-nahe Themen wie Einwanderung, Clan-Kriminalität oder Russland stehen an diesem Abend am Kudamm nicht auf der Agenda. Als Nächstes will Kai Wegner übrigens am 15. April um 17 Uhr im Bezirk Treptow-Köpenick mit Bürgern in den Dialog treten.

Sicherlich werden da andere Themen besprochen als in Charlottenburg. Die Buhrufer werden dann vielleicht wiederkommen. Eine von ihnen ist Grit Bürgow aus Pankow. Zusammen mit vier Freunden ist sie gekommen, um ihre Bürgerinitiative Grüner Kiez Pankow vorzustellen. „Seine Partei ist doch schließlich dafür angetreten“, sagt Bürgow, „dass sie die grünen Berliner Hinterhöfe erhalten will“. Bürgow kämpfe dafür, dass für neue Gebäude nicht noch mehr alte Bäume gefällt werden müssen. Und das war der Grund für ihren Unmut: Wegner will die A100-Verlängerung, auch wenn dafür Bäume gefällt werden.

Doch selbst mit Grit Bürgow steht Kai Wegner nach dem Ende des Bürgerdialogs noch länger zusammen und redet freundlich. Er wirkt in solchen Momenten sehr zugänglich, als wären die Bodyguards und das große Presseteam nicht immer um ihn herum. Bei so viel Nähe war es fast überraschend, dass niemand ihn nach seiner privaten Beziehung zur Bildungssenatorin gefragt hat, zumindest wäre dafür die letzte offene Fragerunde „ohne thematischen Bezug“ gut gewesen.

So aber bleibt es für alle Beteiligten ein höflicher Abend auf dem Kudamm, bei dem Wegner für die Sanierung der bestehenden Radwege („wichtiger als neue Radwege“), für die Randbebauung des Tempelhofer Felds („wir brauchen eine Stadtdebatte“) und schließlich für saubere U-Bahnhöfe wirbt. Messen lassen, das betonte er mehrfach, wolle er sich am Erfolg der Verwaltungsreform. Kai Wegner: „Da will ich rein.“ Seine Sprecherin: „Sie dürfen jetzt gern klatschen.“

Trostfrauenstatue in Moabit: Warum das Bezirksamt sie abbauen will

Am Unionsplatz in Moabit sitzt eine junge Frau aus Bronze und schaut ernst in Richtung Ringbahn, bei Tag und Nacht, ihre Hände zu Fäusten geballt, auf ihrer Schulter ein Vogel. Die Statue sitzt auf einem Stuhl als warte sie auf etwas. Ihre nackten Füße sind von Blumensträußen bedeckt, einige sind verwelkt, andere ganz frisch.

Der zweite Stuhl ist Teil des Denkmals, er ist frei, lädt jeden ein, sich hinzusetzen. Ein Text neben dieser Statue erzählt von dem Martyrium von rund 200.000 „Trostfrauen“ in Südkorea während des Zweiten Weltkriegs, die unter japanischer Besatzung sexuell missbraucht wurden. Erst im Jahr 1991 brach eine dieser sogenannten Trostfrauen ihr Schweigen. Japan hatte zuvor das Thema weitestgehend verschwiegen und abgewiegelt. Und auch danach dauerte es bis zum Jahr 2015, bis Korea und Japan sich auf eine Zahlung für die Trostfrauen einigten, um das Thema zu beenden.

Doch Nataly Jung-Hwa Han gehört zu denen, die diese Einigung nicht akzeptieren wollen. Han, Vorstandsmitglied des Korea-Verbands, steht am Dienstagvormittag vor der Statue. „Diese Einigung haben die beiden Regierungen unterschrieben, ohne die Betroffenen einzubeziehen“, sagt sie wütend. Der Korea-Verein hat deshalb mit koreanischen Spenden damit begonnen, in verschiedenen Städten in Europa Kopien der Original-Statue aufzustellen. Sie nennen sie „Friedensstatue“.

Das Original steht seit 2011 in Seoul, direkt vor der japanischen Botschaft – und sorgt seitdem für alles andere als eine Befriedung. Danach folgten die ersten Kopien in Australien, Nordamerika und Kanada, wo sie zum Teil noch immer stehen. Seit 2020 steht eine in Berlin-Moabit und führt dazu, dass Japan immer wieder diplomatische Wege bemüht, die Statue zu entfernen. Als der Regierende Bürgermeister Kai Wegner neulich auf Besuch in Japan war, verkündete er anschließend in einer Pressemitteilung, das Problem mit der Statue „lösen“ zu wollen.

Nataly Jung-Hwa Han will, dass die Statue eine dauerhafte Genehmigung für den Standort an der Bremer Straße bekommt. „Diese Statue ist wie der CSD oder Black Lives Matter“, sagt sie, „eine Bewegung aus der Bevölkerung!“ Sie spricht von Schulklassen, die sich in Berlin mit diesem Thema auseinandersetzen und die Statue dann besuchen. Die Deutsch-Koreanerin weiß, dass Holocaust-Vergleiche in Deutschland schwierig seien, sagt aber: „Japan ist wie Deutschland ein Tätervolk und muss auch im Ausland an seine Taten erinnert werden, auch wenn es ihnen nicht passt.“

Wegners Sprecherin Christine Richter bezeichnet in einer Stellungnahme gegenüber der Berliner Zeitung die „Trostfrauen-Skulptur“ als „lediglich geduldet“. Das Land Berlin teile die Einschätzung des Auswärtigen Amtes, dass der japanisch-koreanische Konflikt um die Trostfrauen-Frage seit 2015 endgültig gelöst sei. Zuständig sei letztlich das Bezirksamt Mitte. Dessen Sprecher nennt die Statue ein „Kunstwerk, welches ohne Wettbewerbsverfahren im öffentlichen Raum aufgestellt wurde“. Das könnte nur temporär möglich sein. „Für jede dauerhafte Nutzung braucht es einen Wettbewerb, da könne das Amt keine Ausnahme machen.“

Am Dienstag gegen zwölf Uhr steht plötzlich Martha Kleedörfer vor der Friedensstatue. Kleedörfer sitzt für die Linke im Bezirksverband Mitte. Für sie ist die Statue ein wichtiger Ort für die Aufarbeitung von Gewalt an Frauen in Kriegen weltweit und speziell im Pazifikkrieg. „Da die Aufarbeitung in Japan nicht stattfindet, finde ich es richtig, wenn es hier mit innovativen Möglichkeiten versucht wird.“

Was die Politikerin „innovative Möglichkeiten“ nennt, ist auch eine Art von Guerilla-Erinnerungskultur: Die Statue wurde mit ähnlichen kurzen Genehmigungen in Dresden, Frankfurt und Kassel aufgebaut. In Kassel und Dresden wurde sie nach wenigen Monaten wieder abgebaut. In solchen Momenten stellt sich Nataly Han dann vor ein Mikrofon und spricht laut von „Heuchelei“ und „Machtmissbrauch“.

In Berlin, das mit Tokio eine Städtepartnerschaft teilt, wurde diese Statue nun auf öffentlichem Grund aufgestellt, durchaus in dem Wissen, dass Japan das nicht gefallen wird. Als die Duldung durch das Bezirksamt dann auslief, versuchte der Korea-Verband über Unterschriften und Lobbyarbeit, den Erhalt der Statue durchzusetzen.

Der Senat schlägt nun einen Kompromiss vor, ein neues Denkmal soll an die Stelle der sogenannten Friedensstatue kommen. „Das jetzige Mahnmal hat nur die japanische Besetzung Koreas im Zweiten Weltkrieg zum Gegenstand“, sagt Senatssprecherin Richter und schlägt „ein übergeordnetes Denkmal“ vor, „das sich allgemein dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen in kriegerischen Auseinandersetzungen widmet“. Der Senat begrüße die zeitnahe Errichtung eines solchen Mahnmals sehr.

Die derzeitige Genehmigung läuft am 28. September aus, bis dahin werde das Straßen- und Grünflächenamt den Korea-Verband zum Abbau auffordern. Am 19. September wollen die Statuenverteidiger vor dem Bezirksamt in Mitte demonstrieren. Bereits überreicht haben sie eine Unterschriftensammlung, unterzeichnet von 3000 Anwohnern, die sich für diese Statue einsetzen. Im Internet läuft unter Change.org eine Petition mit aktuell 39.396 Stimmen für den Erhalt.

Am Dienstag läuft auch Susanne N. an der Statue vorbei. Die 63-jährige gebürtige Berlinerin ist gerade hier im Kiez zu Besuch, kennt die Statue aus ihrer Heimat Australien. Dort stand sie in einem Vorort von Sydney, in Strathfield. Es kam zur Abstimmung der Anwohner und die Statue musste letztlich abgebaut werden. Hier in Moabit sei Susanne N. für den Verbleib der Skulptur. Sie sagt: „Aber es geht ja hier nicht um Empathie, letztlich geht es auch hier um Geld.“

Bürgermeister in Sachsen: „Wir hatten hier keine ‚Naziaufzüge‘, sondern Montagsdemos“

Wenn ein Sattelschlepper durch Glashütte donnert, den bewaldeten Hügel hinab in das enge Flusstal, kann es minimale Erschütterungen in den vielen Uhrenmanufakturen geben. Sven Gleißberg erzählt von den feinen Messungen, die im Ort durchgeführt werden, in dem alles etwas empfindlich ist. Gleißberg, der aus Dresden stammt und früher bei der Sparkasse arbeitete, ist seit dreieinhalb Jahren Bürgermeister. Glashütte ist für seine Präzisionsuhren weltberühmt. Politisch ist die Gegend eine Hochburg der AfD.

Zum Termin erscheint Gleißberg im blauen Anzug und mit einer Vintage-Uhr aus Glashütte, ein Modell, das auch im Uhrenmuseum im Zentrum des Ortes zu finden ist. Er spricht sehr deutliches Sächsisch und verliert in keinem Moment während der fast drei Stunden seine freundliche Angespanntheit.

Siebter Teil unserer Serie „Der Osten und seine Bürgermeister“: Sven Gleißberg, 40, parteiloser Bürgermeister von Glashütte, Sachsen, Landkreis Sächsische Schweiz -Osterzgebirge.

Herr Gleißberg, kürzlich hat der Spiegel Ihrer Stadt ein Porträt gewidmet, wie kam der Bericht hier an?

Ich fand positiv, dass sich ein Redakteur wirklich mal die Zeit genommen hat, Land und Leute hier in unserer schönen Heimat kennenzulernen. Sicherlich nicht nur ich werde des Öfteren mit der Frage konfrontiert: „Werden bei Ihnen Uhren von Nazis zusammengebaut?“ Die Reportage konnte, glaube ich, einen guten Einblick geben, dass es hier viel mehr und vor allem auch sehr viel Positives zu berichten gibt. Persönlich freue ich mich natürlich, dass sich der Redakteur am Ende auch ein Stück weit in Glashütte verliebt hat. Vielleicht geht Ihnen das ja nach unserem Gespräch und dem gemeinsamen Rundgang genauso.

Hatten Sie denn viel schlechte Presse?

Ich kann mit Stolz sagen, der Name Glashütte ist auf der gesamten Welt bekannt. Ich bin seit knapp drei Jahren im Amt als Bürgermeister, und verschiedenste Redakteure, auch internationaler Medien, waren in den letzten Monaten bei mir. Da ist es schon schade, wenn mehr über gewisse Parteien berichtet wird als über unsere schöne Heimat und über das, wofür wir eigentlich stehen: erstklassige Handwerkskunst, und das seit fast 180 Jahren!

Glashütte in Sachsen: Manufakturen für Präzisionsuhren, aber kein SupermarktMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Da sind wir schon bei der AfD. Was sagen Sie zum Wahlergebnis in Sachsen?

Ich bin zunächst einmal sehr dankbar, wie gut die Wahl organisiert wurde. Die mit 78 Prozent hohe Wahlbeteiligung in Glashütte und seinen Ortsteilen ist ein positives Zeichen für eine lebendige Demokratie, die wir alle sehr schätzen und pflegen. Was das Wahlergebnis betrifft, kam es nicht wirklich überraschend.

Was heißt das Ergebnis für Ihre Kommune?

Das ist noch nicht absehbar. Wir hoffen auf eine zügige Regierungsbildung und erwarten, dass die Bedürfnisse der Kommunen, insbesondere im ländlichen Raum, in der zukünftigen Landespolitik berücksichtigt werden.

AfD in Sachsen: „Nicht jeder, der sie wählt, ist ein Nazi“

Wie sind denn Ihre Erfahrungen mit der AfD vor Ort?

Zuerst: Ich würde diese Partei persönlich nicht wählen und sehe Teile ihrer Aktivitäten und auch handelnder Akteure kritisch. Ich bin aber auch gegen das pauschale Urteil: „Jeder bei der AfD ist rechtsextrem, oder jeder, der die AfD wählt, ist ein Nazi.“ Wir haben hier in Glashütte keine „Naziaufzüge“. Wir hatten Ende 2021, Anfang 2022 Montagsdemonstrationen wegen Corona, ja. Auch mit diesen Teilnehmern kam ich ins Gespräch, und wir haben uns sachlich zu unseren Positionen ausgetauscht. Wenige Wochen später wurden diese Demonstrationen auch bis zum heutigen Tag eingestellt.

Das klingt, als machten Sie es wie Michael Kretschmer, der auch den persönlichen Kontakt mit Gegnern selten scheut.

Das habe ich mir aber nicht von ihm abgeguckt, so ist mein Naturell, so bin ich schon immer. Bürgernähe ist mir wirklich ein wichtiges Anliegen. Unser Zusammenleben hier in den 16 Ortsteilen ist vor allem durch die zahlreichen Vereine geprägt. Mehr als 70 sind das – Schützenvereine, Sportvereine, Heimat- und Kulturvereine, querbeet. Alle tragen etwas für das Miteinander bei. Dafür wünsche ich mir noch mehr Wertschätzung.

Wollten Sie schon immer Bürgermeister werden?

Nein, ich war aber schon immer politisch interessiert, hatte mich auch ehrenamtlich in Vereinen eingebracht und eine eigene Wählervereinigung gegründet. Ziel war es, den Bürgern eine parteiunabhängige Alternative zu bieten. Denn worum geht es hier auf kommunaler Ebene? Um Kitas, um Straßen, um Schulen, um Grünflächen, Winterdienst, Feuerwehren und vieles, vieles mehr.

Da ist doch Glashütte gut aufgestellt, oder?

Wir haben nahezu Vollbeschäftigung, unsere Kommune ist wirklich leistungsstark. Wir sanieren gerade eine Kita und bauen ein neues Feuerwehrgerätehaus für jeweils rund drei Millionen Euro sowie ein neues Vereinshaus für knapp eine Million Euro. Im nächsten Jahr fangen wir an, eine weitere Kita für knapp fünf Millionen Euro neu zu bauen. Und wir haben in den letzten Jahren auch schöne Spielplätze gebaut.

Warum wählen trotzdem so viele die AfD?

Es gibt sicherlich verschiedene Beweggründe. Häufig hört man, dass überregionale Themen oder Entscheidungen aus Berlin oder Brüssel eine wesentliche Rolle spielen. Wenn ich auf die letzten Jahre schaue, war die AfD hier bei uns nur wenig aktiv, hat kaum Anträge eingebracht und auch in Bezug auf die neue Legislatur keine klaren Ziele formuliert.

Liegt es daran, dass die Bürger auf die Dinge blicken, die in Glashütte fehlen? Es gibt kein Schwimmbad, keinen Supermarkt, kein Hotel.

In Bezug auf das Schwimmbad gab es bei uns die gravierenden Hochwasser 2002 und 2013. Das ehemalige Schwimmbad befindet sich nun im Anstauraum des neu entstandenen Hochwasserrückhaltebeckens, sodass es an dieser Stelle nicht wiedererrichtet werden konnte. Zum damaligen Zeitpunkt gab es Fördergelder für einen Neubau, doch leider konnte durch Streitigkeiten über einen Alternativstandort keine Einigung erzielt werden. Eine spätere Initiative für den Bau eines Naturbades in Glashütte wurde in einem Bürgerentscheid mehrheitlich abgelehnt – eine Entscheidung, die sowohl von der Verwaltung als auch von den Bürgern respektiert werden muss. Aber es gibt Themen, die sind mit Geld nicht zu lösen.

Bürgermeister Gleißberg: „Die AfD fällt hier nicht durch innovative Ideen auf.“Markus Wächter/Berliner Zeitung

Fehlender Supermarkt: „An unserer Arbeit im Rathaus liegt es nicht“

Sie meinen den Edeka? Der wurde vor zwei Jahren geschlossen, und seitdem hat Glashütte keinen Lebensmittelmarkt.

Richtig, unsere Bürger müssen in den benachbarten Ortsteil fahren. Nach der Schließung des Marktes gab es Gespräche mit Eigentümern verschiedener Grundstücke, die aber leider gescheitert sind. Wir haben zehn Lebensmittelanbieter angefragt, neun würden sofort einen Markt eröffnen. Es liegt schlichtweg am fehlenden Platz. Wir sind in intensiven Gesprächen; was uns derzeit noch fehlt, ist die Unterschrift für die Verlängerung eines Pachtvertrages. Aber auch ein meines Erachtens sehr, sehr gutes Kaufangebot für ein Grundstück wurde unterbreitet, aber bisher ausgeschlagen.

Da steht man als Bürgermeister ein bisschen in der Schusslinie?

Anfangs sollte ich der Buhmann sein, und mir wurde unterstellt, ich tue nichts. Das ganze Gegenteil war der Fall. Dann gab es auch noch das Transparent: „Warum steht die Zeit hier still? Glashütter fordern einen Einkaufsmarkt!“ Ich hätte ja auch gern eine Unterschriftenaktion gemacht, aber das fordern allein bringt es ja nicht. Am Ende konnten wir nur vermitteln und das Vertrauen herstellen. Aktuell liegt es zumindest nicht an unserer Arbeit im Rathaus und auch nicht an Edeka.

Von Ihrem Büro aus blicken Sie auch auf Geschäfte, die schon da sind.

Einige ist uns glücklicherweise erhalten geblieben, ja. Da wären eine Post, ein Kindermodeladen, zwei Bäcker, ein Fleischer und ein Florist, ein Elektro- und ein Buchladen, mehrere Boutiquen und ein kleines Restaurant sowie mehrere Bistros, in denen man gut essen kann. Klar, früher gab es noch mehr Geschäfte und Gaststätten, aber früher haben auch mehr Menschen hier gewohnt.

Hat die AfD zu solchen Themen hier Vorschläge?

Die AfD fällt hier nicht durch innovative Ideen auf. Auf ihren Plakaten und Flyern waren schon immer mehr Slogans, die nichts mit dem Ort hier zu tun hatten. Und auch aus meiner Arbeit der letzten drei Jahre, in denen ich selbstverständlich auch mit den Stadträten von der AfD zusammengearbeitet habe, ging es nie aktiv um Themen zur Entwicklung von Glashütte.

Sie haben vor dreieinhalb Jahren gegen einen AfD-Kandidaten gewonnen.

Ja, ich bin im Oktober 2021 mit knapp sechzig Prozent gewählt worden. Nach der Wahl hat mich selbstverständlich interessiert, wer die rund vierzig Prozent waren, die im zweiten Wahlgang für den Kandidaten der AfD gestimmt hatten. Schließlich bin ich doch Bürgermeister aller Glashütter und möchte auch im Sinne aller Bürger unsere schöne Stadt weiterentwickeln. Bisher hat sich aber noch keiner geoutet, und alle sagen, sie hätten mich gewählt. Kann ja so nicht ganz stimmen.

Geht das, anonym bleiben in einem kleinen Ort?

Also ich arbeite absolut transparent und bin meines Erachtens ein Bürgermeister zum Anfassen. Aber in sozialen Medien sind manche Nutzer auch mit Fake-Accounts unterwegs. Na ja, bei einigen Decknamen weiß ich aber schon, wer dahintersteckt. Prinzipiell versuche ich, auf alle Nachrichten und Kommentare einzugehen, auch auf Anfeindungen im Netz. Ich lösche prinzipiell auch keinen Kommentar und pöbele selbstverständlich nie zurück, sondern antworte stets sachlich und auf Augenhöhe. So wie es eigentlich für jeden selbstverständlich sein sollte.

Sie bekommen keine Hasskommentare?

Wenn Sie meine Frau fragen würden, die würde Ihnen sagen, ich sollte schon mal etwas zur Anzeige bringen. Beispielsweise schrieb einmal jemand: „Da zieht sich die Schlinge für den Bürgermeister langsam zu.“ Ich bin da aber nicht empfindlich, alles gut.

Sie haben keine Partei im Rücken. Hilft das, weil Sie sich nicht bei bundesweiten Themen wie Einwanderung oder Gendersternchen positionieren müssen?

Also ich musste auch in der Verwaltung entscheiden, ob ich mit „Sternchen“ kommuniziere. Für mich gibt es bei Stellenausschreibungen männlich, weiblich, divers und ansonsten gibt’s Mann und Frau. Punkt. Und sonst will ich im Stadtrat auch keine bundespolitischen oder europäischen Themen diskutieren. Das funktioniert bei uns mittlerweile auch ganz gut.

Und was ist schwieriger ohne Partei?

Als reiner Alleinkämpfer kann niemand etwas erreichen in der Politik. Wenn es beispielsweise um die Verbesserung der Anbindung an den regionalen Verkehrgeht, brauchen Sie zwingend Kontakte und das Netzwerk in die Landes- und die Bundesebene, um Unterstützung und auch Fördermittel zu erhalten.

Was wünschen Sie sich für Glashütte für die kommenden Jahre?

Ich würde mir sehr wünschen, dass wir uns trotz der vielleicht unterschiedlichen politischen Ansichten nicht spalten lassen. Ich höre manchmal aus dem Vereinsleben, dass es dort zu politischen Diskussionen und Streitereien kommt, die letztlich vielleicht in Ausstiegen enden. Das finde ich sehr bedauerlich. Ich habe im Freundeskreis auch Menschen, von denen ich weiß, sie wählen die CDU, die Grünenoder die Linke, und sicherlich habe ich auch Freunde, die wählen AfD. Sie gehören trotzdem weiter zu meinem Freundeskreis, da es abseits vom politischen Diskurs viele weitere Themen gibt und das persönliche Miteinander viel wichtiger ist.

Philipp Ruch im Pfefferberg-Theater: „Ein Tag AfD an der Macht, dann ist es vorbei“

Irgendwann mitten an diesem etwas chaotischen Montagabend im Pfefferberg-Theater sagt Philipp Ruch einen Satz, der zunächst einmal nach einer Provokation klingt: „Es ist nicht interessant, was Sophie Scholl getan hat.“ Er meint damit, dass die eigentlichen Taten der Münchner Studentin, die mit ihrem Bruder Hans zu den bekanntesten Helden des Nazi-Widerstands zählt, zwar jetzt als so mutig gelten – aber sie haben eben damals nicht dazu geführt, dass sich etwas ändert. Ruch weiter: „Wir hätten uns auch in der Beurteilung der Zeit rund um die Machtergreifung eher auf die konzentrieren sollen, die mitgemacht haben.“

Genau darum geht es in seinem neuen Buch, das sich in weiten Teilen wie ein Weckruf liest, den der Titel schon andeutet: „Es ist 5 vor 1933: Was die AfD vorhat  – und wie wir sie stoppen“. Es ist ein Plädoyer für ein Verbotsverfahren gegen eine Partei, die, Ruchs Argumentation folgend, den Rechtsstaat genauso zerstören wolle, wie es einst die NSDAP angekündigt und getan hat. „Nehmen Sie diese vulgären Dilettanten ernst“, fordert Ruch in seinem Buch und meint jene „unterirdische, proleten- und ekelhafte“ AfD, die er als „Alternative zum Grundgesetz“ bezeichnet. Das Buch ist eine Kampfansage.

Doch bei der Buchpräsentation im fast ausverkauften Pfefferberg-Theater braucht der Funke lange, bis er überspringt. Die Band Ausklang, laut eigener Aussage die Lieblingsband von Philipp Ruch, spielt freundliche Fahrstuhlmusik, die für den Anlass fast zu gut gelaunt klingt. Dann betritt André Schmitz die Bühne, langjähriger Berliner Kulturstaatssekretär und offenbar Fan von Philipp Ruch und allem, was der Philosoph, Journalist und Aktivist so in den letzten Jahren auf die Beine gestellt hat.

Ruch, Jahrgang 1981, wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt durch Aktionen, die er mit der Künstlergruppe Zentrum für Politische Schönheit organisiert hat. Im Jahr 2016 haben sie mit dem Projekt „Flüchtlinge Fressen“ einen Gladiatoren-Kampf mit Flüchtlingen vor dem Gorki-Theater inszeniert; im Jahr 2021 haben sie massenweise Flyer von der AfD bezahlen und produzieren lassen, aber diese nicht ausgeliefert. Am bekanntesten ist wohl noch immer ihre Aktion aus dem Jahr 2017, als sie ein kleines Holocaust-Mahnmal direkt in die thüringische Nachbarschaft von Björn Höcke gebaut haben.

In einem kleinen Film werden zur Buchpräsentation am Montagabend dann noch einmal Beispiele gezeigt, doch je länger das Vorprogramm an diesem Abend dauert, umso länger fragt man sich, wann es endlich um das Buch gehen wird, das doch hier im Mittelpunkt stehen sollte. Bevor Ruch selbst das Wort ergreift, dürften die beiden Publizisten Georg Diez und Lea Rosh ausführliche Vorträge halten. Die 88-Jährige hat das Parteiprogramm der AfD mitgebracht und zitiert fassungslos daraus: Waffenrecht erleichtern, Euro abschaffen, mehr Russland, weniger USA. Sie fragt: „Wie kann man so etwas wählen?“ Sie schließt mit: „Wir sind nicht Weimar, aber wir können viel daraus lernen.“

Erst rund 45 Minuten, nachdem die Veranstaltung begonnen hat, ergreift der Gastgeber das Wort, und es beginnt der „flammende“ Teil des Abends, der doch eigentlich die ganze Zeit hätte lodern sollen. Ruch ärgert sich darüber, dass so viele Informationen für alle zugänglich sind, aber nur bei ihm zum Handlungsimpuls führen. „Geschichte wählt immer den schlimmstmöglichen Ausgang“, sagt er und bringt als Beispiele die Wahl von Trump und den Beginn des Ukrainekriegs. „Die AfD will die gesamte politische Elite auslöschen“, sagt er und nennt die Zeit, in der wir jetzt leben „Vorkriegszeit“.

Das ist der etwas apokalyptische Ton, der auch das Buch durchzieht, aber der auch dessen Reiz ausmacht. „5 vor 1933“ lenkt den Fokus weg von der Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hin zu den Jahren davor. Ruch erklärt schlüssig, warum er die Abwehrpolitik der Weimarer Republik besser bewertet als die der heutigen Regierung. Mehr als 2000 Beweisstücke hat das Zentrum für Politische Schönheit zusammengetragen, um die Verfassungsfeindlichkeit der AfD nachzuweisen. Ruchs Meinung nach gehört die Partei längst verboten. Die Toleranz den Parteimitgliedern gegenüber hält er für verhängnisvoll. Er schreibt: „Sie werden sich dafür rächen, nicht ernst genommen worden zu sein.“

Die Diskussion an diesem Abend im Pfefferberg geht etwas schleppend voran. Georg Diez assoziiert frei zu Begriffen wie „Erotik des Faschismus“ und einem „allgemeinen Ohnmachtsgefühl“ und fordert etwas überraschend alle dazu auf, sich doch auch einmal die Jahre 1939 und 1935 anzuschauen. Lea Rosh erzählt noch einmal, wie sie es geschafft hat in fast zwei Jahrzehnten das Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins Wirklichkeit werden zu lassen. Sie dankt noch einmal ihrem Mann, der in der ersten Reihe sitzt. Er hätte sie immer wieder aufgebaut an schlimmen Tagen. Ein besonderer Moment an diesem Abend. „Viele gehen anders raus aus dem Mahnmal, als sie reingegangen sind“, sagt Lea Rosh.

Ob das auch für diesen Abend gilt? Erst nach zwei Stunden, gegen 22 Uhr, merkt Philipp Ruch, dass der Abend fast vorbei ist, ohne dass eine Zeile aus dem Buch vorgestellt wurde. Er lässt – ganz Demokrat – abstimmen, wer noch eine Passage hören möchte, und beginnt zu lesen. Er kann das sehr gut, das laute Vorlesen. „In der AfD sind keine Trumpisten oder Rechtspopulisten“, liest er von der Seite 79 in seinem Buch. „Sie sind vulgärer, ordinärer und in gewisser Weise dümmer.“ Der Umsturz werde abrupt kommen. Und wenn die AfD nur einen Tag an der Macht sei: „Dann ist es vorbei“, sagt Philipp Ruch. Im Hintergrund klopft es leise, es ist Lea Rosh, die mit ihrem Fächer ans Mikrofon schlägt.

Indonesien hat einen TikTok-Opa gewählt: Warum das auch eine gute Nachricht ist

Noch sind die Wahlergebnisse nicht von allen 17.000 Inseln Indonesiens ausgezählt, aber schon jetzt ist ein Satz des Präsidenten-in-spe Prabowo Subianto für alle ein Thema: „Wir brauchen Europa nicht mehr.“ Prabowo wird sehr wahrscheinlich ohne eine weitere Stichwahl der neue Präsident des Inselstaates werden. Das aber wäre kein Sprung in unbekannte Gewässer, als der seine Wahl häufig bezeichnet wird.

Prabowo tritt mit Gibran Rakabuming Raka als Vize an, dem ältesten Sohn des amtierenden Präsidenten Joko Widodo, den alle nur Jokowi nennen. Die Indonesier haben also Kontinuität gewählt. Sicher, Prabowo ist auch ein ehemaliger General, dem empfindliche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Aber Indonesiens Wähler hatten nie Scheu vor Militärs in politischen Positionen.

Mehr als 50 Prozent der Indonesier sind jünger als 40 Jahre, gerade die junge Bevölkerung hat Prabowo gewählt. Aber nicht, weil ihnen die Folterungen egal sind. Sie sprachen auf das clevere Rebranding des 73 Jahre alten Militärs als freundlichen Opa im Gewand einer Comic-Figur an, die überall zu sehen war: auf Plakaten und auf TikTok. Prabowo tanzte ähnlich steif wie Trump bei seinen Auftritten, aber er lächelte viel – und in Indonesien haben alte Männer mit mächtigen Freunden noch viel Einfluss.

Indonesier erhoffen sich von seiner Amtszeit vor allem mehr Wohlstand. In den letzten Jahren boomte die Volkswirtschaft, Prabowo will sein Land weiter auf diesem Wachstumskurs führen und das mit großem Selbstbewusstsein: „Wir brauchen Europa nicht mehr.“ Der Westen reagiert geschockt, dabei wäre es auch seltsam, wenn das Land auf Europa angewiesen wäre – vor allem, da Europa in den vergangenen vier Jahrhunderten den Inselstaat vor allem ausgebeutet hat.

Indonesien will endlich selbst an seinen Rohstoffen verdienen. Beispiel Stahlindustrie: Indonesien hat noch vor sechs Jahren kaum Stahl produziert, nun exportiert es ihn im Wert von rund 20 Milliarden US-Dollar, nach Investitionen, die zum Großteil aus China stammen. Auch bei Nickel ist Indonesien seit Jokowi streng, und das wird unter Prabowo weitergehen: Zugang gibt es nur für Länder, die investieren, und China hat schon jetzt viele Lieferketten aufgebaut.

Die Frage wird daher auf lange Sicht eher: Brauchen wir besseren Zugang zu Indonesien? Jahrzehntelang gab es enge Verbindungen: Helmut Kohl war mit dem ehemaligen Präsidenten Suharto so eng, dass die größte Moschee Jakartas einen deutschen Architekten hat und der Kanzler zur Eröffnung kam. Über die Jahre ist der deutsch-indonesische Dialog etwas eingeschlafen. Dabei hat die deutsche Botschaft die begehrteste Adresse der Hauptstadt: Jalan Thamrin Nummer 1.

Doch die Botschaftsadressen werden sich bald ändern, wenn Indonesien seine neue Hauptstadt auf Borneo öffnet. Dort ist es klimatisch milder und die Erdbebengefahr ist geringer. Derzeit ist die Retortenstadt „Nusantara“ (wörtlich: Archipel) noch im Bau, die ersten Ministerien sollen in diesem Jahr umziehen. Deutschlands Stellung im „Archipel“ und in ganz Asien wird sich dort gut ablesen lassen.

Nach sechs Monaten auf Lachgas: „Ich spüre meine Beine nicht mehr“

Lucas Wellmann* nennt es Fliegen, dieses Gefühl, das er wieder und wieder erreichen wollte. „Wenn ich mich richtig konzentriert habe“, sagt er, „und stark und lang an dem Luftballon gezogen habe, dann die Luft angehalten und mich in meine Couch eingekuschelt habe – dann hat sich das angefühlt wie fliegen.“ Er sei dann in einer anderen Welt gewesen. „Ganz, ganz weit weg.“

Dann war er nicht mehr der 32-Jährige aus Prenzlauer Berg, der frisch Geschiedene, der gerade „zwischen zwei Jobs“ lebte, der in seiner kleinen Wohnung auf der Couch saß, vor der sich die Lachgasflaschen stapelten, dazwischen schwarze Luftballons – sondern er war eben weg. Manchmal stundenlang, die ganze Nacht, bis zum nächsten Morgen und länger. Ein Luftballon nach dem anderen, nach etwa 35 Ballons ist solch eine Kartusche leer, eine kostet rund 30 Euro. „Es gab Nächte, in denen habe ich zehn Kartuschen weggezogen.“

Lucas Wellmann war ein halbes Jahr süchtig nach Lachgas. An diese Zeit wird er derzeit jeden Tag erinnert: Wenn die U-Bahn einfährt und er noch auf der Treppe ist, kann er nicht nach ihr rennen. Sein Kopf will es zwar, aber der Befehl dazu erreicht seine Beine nicht mehr. Wer es weiß, merkt, dass Wellmann etwas staksig läuft. „Es fühlt sich an, als seien meine Beine von der Hüfte abwärts eingeschlafen, sie fühlen sich taub an.“ Sein Archillessehnenreflex funktioniere nicht mehr, und manchmal habe er auch noch Lücken im Kurzzeitgedächtnis.

Begonnen hat es für Wellmann vor einem Jahr im September. Er lief an einem der letzten Spätsommerabende mit Freunden durch seinen Kiez, und einer kam auf die Idee, Lachgas bei einem Spätkauf zu besorgen. Sie saßen zu fünft dann noch bis spät zusammen und zogen an den Ballons. Sie wiederholten das zwei-, dreimal, erzählt Lucas Wellmann, und als der Herbst begann und er einmal allein zu Hause war, kaufte er zum ersten Mal eine Kartusche nur für sich. Dann brachte er sich allein zum Fliegen.

Der Stoff, der in solchen Momenten seine Lunge fast komplett ausfüllt, heißt Distickstoffmonoxid. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist dieses Gas farblos, riecht süßlich und wirkt sofort schmerzlindernd. Wer es direkt aus der Kartusche konsumiert, riskiert schwere Lungenschäden und Verbrennungen an den Lippen. Wohl deshalb wird es meist mit Luftballons verkauft. In Deutschland fällt Lachgas nicht unter das Betäubungsmittelgesetz, gilt also offiziell nicht als Droge. Damit sind Konsum und Verkauf erlaubt.

Auf vielen Websites wird darauf hingewiesen, dass es nicht körperlich abhängig macht, sondern nur psychisch. Die moderne Suchtmedizin macht diesen Unterschied längst nicht mehr. „Psychische Abhängigkeit passiert im Kopf“, sagt Tomislav Majić, Oberarzt im St.-Hedwig-Krankenhaus, „und der ist auch ein Teil des Körpers.“ Lachgas löse keine phyischen Entzugssymptome aus, wie Zittern und Übelkeit, aber es gebe durchaus Symptome für Abhängigkeit. In seiner psychiatrischen Abteilung habe er nur selten mit Lachgas zu tun gehabt. Doch er höre in der Fachwelt immer häufiger von Patienten, die mit bleibenden Schäden nach dem Konsum von Lachgas zum Arzt kommen.

Die Taubheit, die Lucas Wellmann nach einer Weile in den Füßen spürte, ging zunächst wieder zurück. „Ich hatte immer wieder mehrere Wochen ohne Konsum“, sagt er. „Da hab ich Freunde getroffen, oder meine Brüder haben mich zu sich eingeladen.“ Das war eine Zeit, in der sich immer wieder besorgt Menschen aus seinem Umfeld bei ihm meldeten und fragten, ob alles okay sei. In den Tagen ohne Konsum dachte er, er habe alles im Griff. Dann aber verlor er seinen Job, seine Frau hatte ihn schon vorher verlassen, und er hatte begonnen, sich bei verschiedenen Menschen Geld zu leihen: für Lachgas.

Lachgas ist seit etwa 250 Jahren als Rauschmittel bekannt, seine chemische Zusammensetzung wurde ungefähr zeitgleich mit der von Sauerstoff ermittelt. Es dauerte noch 70 Jahre, also bis ins Jahr 1844, bis sich erstmals ein Patient mit Lachgas betäuben ließ, um sich einen Zahn ziehen zu lassen. Im 19. Jahrhundert dann erlangte das Rauschmittel kurzzeitig Beliebtheit auf Jahrmärkten, und es wurden in England erste „Luftballon-Partys“ gefeiert, doch dann wurde es von anderen Rauschmitteln verdrängt. In den 1970ern war es kurzzeitig noch einmal beliebt und in Berlin dann wieder in den 2010er-Jahren.

Laut Psychiater Tomislav Majić konsumieren vor allem junge Menschen Lachgas, zum Teil als Mutprobe. „Sie wissen nichts bis wenig über die Probleme, die mit dem Konsum einhergehen können.“ Es beginnt mit Koordinationsstörungen, unter anderem verursacht durch Vitamin-B12-Mangel, der nach häufigem Lachgaskonsum auftritt. Dieser Mangel kann schwere chronische Folgen für das Rückenmark haben, bis zur Querschnittslähmung. „Außerdem können Schäden im Gehirn durch Sauerstoffmangel auftreten.“

Bei Lucas Wellmann wurden die Symptome immer heftiger. Schließlich ging er in einer der ersten Nächte im damals noch neuen Jahr 2024 in die Notaufnahme. „Ich hatte Atemnot und dachte, ich sterbe“, sagt er. „Alles in meinem Körper hat vibriert.“ Er saß acht Stunden im Warteraum – nicht ungewöhnlich für einen Fall, der nicht mehr akut ist. „Sie haben es dann heruntergespielt und gesagt, ich solle kein Lachgas mehr konsumieren.“ Als er einige Wochen später zum zweiten Mal nachts in der Notaufnahme saß, gaben sie ihm eine Überweisung zum Neurologen. Zu einem Suchttherapeuten schickten sie ihn nicht.

Lachgas-Rausch mit Folgen: Regelmäßiger Konsum kann zu einer Nervenschädigung und zu einem Vitamin-B12-Mangel führen.Annette Birschel/dpa

Psychiater Majić sagt, dass bei Lachgas das passiere, was bei anderen Drogen in der Geschichte passiert sei: Es wird zunächst verharmlost. Auch bei Heroin, Kokain und bestimmte synthetische Opioide hätten Ärzte die Gefahren erst mit einiger Verzögerung gesehen. „Außerdem wird Lachgas von Ärzten zur Betäubung benutzt und darüber hinaus zum Schlagen von Schlagsahne verwendet.“

Lucas Wellmann ging nur selten selbst zum Späti, meist bestellte er die Kartuschen bei einem Lieferdienst, weil er dazu auch gleich noch Essen bestellen konnte. Die Lieferdienste bringen neben Alkohol und Zigaretten auch das Lachgas. Auf dem Etikett steht zwar Sprühsahne, es gibt Geschmacksrichtungen wie Kokos, Erdbeere oder Ananas. Doch wenn jemand zehn große Kartuschen bestellt, ist auch dem Lieferdienstleister klar, dass sich damit jemand schädigen könnte.

Eine Sprecherin des Lieferdienstes weist auf Anfrage der Berliner Zeitung darauf hin, dass anders als gesetzlich vorgeschrieben auf der Plattform ein Mindestalter von 18 Jahren für diese Produkte gelte und dies bei Auslieferung überprüft werde. Einige wenige Händler bieten Lachgas auf der Plattform an, aber die Nachfrage sei gering. Die Regulierung liege nicht beim Lieferanten, sagt die Sprecherin, sondern bei den Behörden. Auch Späti-Besitzer verweisen gern auf die Behörden, wenn sie auf die Lachgas-Käufer angesprochen werden.

Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit sagt gegenüber der Berliner Zeitung, die Behörde verfolge „sehr aufmerksam die Berichterstattung der Medien“, in denen häufiger Einzelfälle geschildert werden, „bei denen Jugendliche im gesamten Bundesgebiet nach dem Konsum von Lachgas gesundheitlichen Schaden genommen haben“. Viele junge Menschen wissen demnach noch zu wenig über die möglichen gesundheitlichen Risiken, hätten keinerlei Problembewusstsein.

Auch Lucas Wellmann wusste wenig über Lachgas, erst als es zu spät war, fand er die Websites, auf denen von den drastischen Folgen die Rede war. Er hatte bis dahin nur Alkohol und Partydrogen konsumiert, doch nie so viel, dass es problematisch wurde. Drei- oder viermal im Jahr, sagt er, habe er auf Partys durchgefeiert. „Das war bis dahin nicht mein Ding.“ Er meint, Lachgas habe bei ihm so gut funktioniert, weil der Effekt sofort da war. „Ein tiefer Atemzug, und ich war weg.“

Der Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit merkt auch an, dass es noch Lücken gebe im Wissen der Behörden. „Bezogen auf die Risiken von Distickstoffmonoxid liegen bisher noch zu wenige Daten vor.“ Bekannt sei jedoch, dass häufiger Konsum das Knochenmark und das Nervensystem schwer schädigen könne. „Der Mischkonsum mit anderen Drogen birgt weitere Risiken.“

Wellmann hatte innerhalb weniger Monate 25 Kilogramm zugenommen, hatte über Wochen die Wohnung kaum verlassen. Im März dieses Jahres begannen seine Eltern und Geschwister ihn immer wieder dazu zu drängen, seine Wohnung auch mal wieder zu verlassen. „Meine Geschwister haben mir sehr viel geholfen“, sagt Lucas, „auch ein guter Freund von mir.“ Sie hätten sich nicht abwimmeln lassen und seien mit ihm für längere Zeit weggefahren. Seit April hat er keinen Ballon mehr angerührt, hat die Reste weggeworfen, die er zu Hause hatte.

Der Berliner Senat will prüfen, ob eine gesetzliche Regulierung durch Warnhinweise, Werbe- und Abgabeverbote vorgenommen werden kann. Dies muss aber auf Bundesebene passieren. Der Bundesrat hat Mitte Juni dieses Jahres den Beschluss gefasst, gegen Substanzen wie Lachgas vorzugehen. Vor allem das Land Nordrhein-Westfalen war mit einer parteiübergreifenden Initiative vorgeprescht.

Die meisten konsumieren das Gas aus einem Luftballon.imago

Wann die Regierung sich des Themas annimmt, ist unklar. In Großbritannien und den Niederlanden ist Lachgas seit 2023 verboten. In der Schweiz und Dänemark gelten strenge Vorgaben.

Derzeit bekommt Lucas Wellmann eine akute Vitamin-B12-Therapie, zum Teil per Infusion. Doch es ist nicht sicher, wie viel seiner Empfindungen zurückkehren und welche Schäden chronisch bleiben werden. In einer Psychotherapie bearbeitet er derzeit die Frage, warum er sich „abschießen“ muss, wovor er eigentlich wegfliegen wollte. Die 25 Kilo Übergewicht ist er während des Sommers losgeworden. „Ich hab gemerkt, dass Schwimmen wieder geht. Das war ein gutes Gefühl.“ Was die Droge noch angerichtet hat, erfährt er bei einem MRT-Scan, den er demnächst machen will. Wellmann: „Ich habe etwas Angst davor.“

*Name von der Redaktion geändert

Berliner „Abendschau“-Legende Ulli Zelle: „Ich rieche den Osten noch am Wannsee“

Ulli Zelle läuft Marlene Dietrich hinterher. Die Filmdiva liegt in ihrem Sarg, der im Schritttempo vom Rathaus Schöneberg zum Friedhof gefahren wird. Ein großer Moment für Berlin – und Ulli Zelle, der Reporter, soll live von dem Trauerzug berichten für die “Abendschau”. Doch der Kameramann ist nirgendwo zu sehen. Der ist nämlich starker Raucher und verschnauft irgendwo oder raucht. Kurz darauf steht Ulli Zelle allein an Marlenes Grab und liest ihren Spruch: „Hier steh’ ich an den Marken meiner Tage.“ Kein Kameramann, keine Bilder, keine Liveschalte. Für einen Reporter wie Ulli Zelle ein Desaster.

Noch 32 Jahre später ärgert er sich darüber, dass da jemand seine Arbeit nicht so 100 Prozent ernst nimmt wie er selbst. „Das ist doch ein Moment in der Geschichte dieser Stadt und wir sind Teil davon, das ist doch wichtig!“ Er sitzt im Café Lentz am Stuttgarter Platz – und eigentlich soll es in diesem Gespräch einmal um ihn gehen, um sein Leben, aber schnell wird klar, dass er das nicht mag: Dieses Reden über sich wird ihm bis zum Ende unangenehm sein. Lieber redet er über andere Menschen und vor allem über seine Stadt: Berlin.

Für Zuschauer der RBB-„Abendschau“ ist Ulli Zelle so etwas wie ein täglicher Begleiter durch die Stadtgeschichte. Seit fast 40 Jahren ist er der bekannteste Außenreporter des Senders. Wenn irgendwo etwas passiert in Berlin, dann steht am Abend meist daneben der gebürtige Niedersachse und hält sein Mikrofon jemandem vors Gesicht. Er wirkt dann professionell unverbindlich und gleichzeitig fast altmodisch kumpelhaft.

Er hat den Reichstag mit verhüllt, den Palast der Republik mit abgerissen, das Sony Center mit eröffnet, das Tacheles mit untergehen sehen; immer im Februar hat er am roten Teppich geduldig die aufgeregten Berlinale-Stars auf dem Weg zu ihrer Premiere betreut, und jedes Jahr am 1. Mai ist er den fliegenden Flaschen mit ausgewichen.

Herr Zelle, würden Sie noch einmal Meryl Streep im Interview die Hände wärmen?
Wenn mich jemand fragt, dann ja, warum nicht? Sie hat mich darum gebeten, und vielleicht geht es auch, weil ich von Haus aus nicht so ein Macho-Testosteron-Typ bin. Ich bin schon immer ein Softie gewesen.

Mussten Sie sich verändern?
Ich passe mich irgendwie schon den Gepflogenheiten an. Also ich würde eben heute den einen oder anderen Witz nicht mehr in der Anwesenheit von Frauen machen.

Gendern Sie?
Sprache verändert sich, das war schon immer so. Manchmal ist es mir zu umständlich, aber ich habe kein Problem mit dem Gendern.

Hier im Lentz am Stuttgarter Platz ist es manchmal mühsam, ihn zu einer solchen Innenschau zu überreden. Viel interessanter ist doch, uns ein Lied vorzuspielen, das ihm gefällt, oder ein Foto zu zeigen, das er beim letzten Rolling-Stones-Konzert aufgenommen hat, oder dass gerade einem Fahrradfahrer zwei Meter entfernt etwas aus dem Korb gefallen ist. Ulli Zelle ruft: „Hey, Sie haben etwas verloren!“ Oder eine ihm bekannte Person läuft vorbei und Ulli Zelle ruft: „Sie kenn ich doch! Wie geht’s?“

Nun, mit 73 Jahren, hat er ein Buch geschrieben. Es heißt „Mein Berlin, mein Leben“ und wird in dieser Woche erscheinen. Im Buch nennt er Berlin ganz am Anfang „meine Vertraute“. Er schreibt: „Wir kennen uns. Und grüßen uns.“ Und trotzdem ist das Buch voller Zweifel, so als wäre es im Grunde nicht genug, bei all diesen historischen Momenten dabei gewesen zu sein. Im Buch gibt es drei Kollegen, die einen kurzen Text über ihn beigesteuert haben. Sie nennen ihn dort eine Reporterlegende. Ulli Zelle sagt, er habe die Texte noch nicht gelesen.

Die wohl wichtigste Nacht in der jüngeren Geschichte Berlins – den Fall der Mauer – hat Ulli Zelle so verbracht, dass ihn viele Hauptstadt-Reporter noch heute beneiden: Am 9. November 1989 hat er im Laufe des Abends von Süden nach Norden jeden Grenzübergang Berlins besucht. Am Ende war er dabei, als die Massen an der Bösebrücke aus dem Osten Berlins zum ersten Mal in den Westen stürmten. Am nächsten Morgen gab es die historische erste „Abendschau“ schon am frühen Morgen um 9 Uhr und dann jede weitere Stunde. Irgendjemand schrie: „Wahnsinn!“

Sein Buch ist eine Sammlung von all diesen Geschichten zwischen Kleingartensparten und großer Gala. Die meisten Kapitel darin sind kurz: zwei, drei oder vier Seiten. Es sind Anekdoten, die etwas über seine Arbeit erzählen; doch das Besondere sind auch im Buch jene Momente, in denen die Kamera nicht läuft. Einer dieser Momente war eben jener am Grab von Marlene. Andere sind seine vielen Besuche in Ost-Berlin.

Und so enthält das Buch auch immer wieder unaufgelöste Erzählungen, so als ob Zelle noch an einem Teil zwei arbeitet, in dem die Geschichten zu Ende erzählt werden. Da ist das „Mädchen aus Ost-Berlin“ – genau wie in Udo Lindenbergs berühmtem Lied hat auch Ulli Zelle kurz vor dem Mauerfall eine Frau im FDJ-Hemd kennengelernt. Er trank mit ihr im Milchhäuschen in Weißensee eine Berliner Weiße. Sie lebte in der Leninallee 300 oder etwas darüber. Er hat sie nie wieder gesehen.

Und da ist auch die Geschichte der Frau, die ihm vor ein paar Jahren das Leben gerettet hat, als er als Sänger seiner Band Ulli und die Grauen Zellen von der Bühne gefallen ist. Auch ihren Namen hat er nie erfahren. Er würde sich so gern bedanken.

Warum haben Sie sich so für den Osten der Stadt interessiert?
Ich wollte irgendwie die Linden sehen und den Palast der Republik und den Fernsehturm. Ich habe andere Westdeutsche nicht verstanden: Nach nur einer Stunde anstehen bist du schon in einer anderen Welt, die Seen sind nicht so voll wie der Wannsee und du kannst Bücher billiger kaufen.

An was erinnern Sie sich noch?
Der Fernsehturm war Preisstufe S, damals, da hat der Kaffee 1,70 Mark gekostet. Und der Zucker war steinhart und in Einwickelpapier mit den Motiven des Tierparks Berlin gewickelt.

Wo sehen Sie heute den Osten?
Ich rieche es manchmal, in Behörden oder Verwaltungen, so ein Desinfektionsmittel, das man damals im Osten verwendet hat. Wenn ich am Wannsee ein altes Boot ausleihe, dann riecht es manchmal auch nach Ost-Berlin.

Ulli Zelle ist in seiner Freizeit viel auf dem Wasser. Seit seinem letzten Bühnenunfall geht das Joggen nicht mehr so gut, er schwimmt nun mehr. Für all diese Dinge wird er bald mehr Zeit haben, denn im März 2025 soll Schluss sein, nach genau 40 Jahren „Abendschau“ – auch wenn er noch die Energie habe, um zehn Jahre weiterzuarbeiten.

Seine Mutter schrieb kurz vor ihrem Tod in ihr Tagebuch, ein Mensch, der nicht arbeitet, sei weniger wert. Er sieht das etwas entspannter und blickt mit großer Liebe im Buch zurück auf seine Eltern. Der Handwerker und die Sekretärin haben lange nicht verstanden, was der Sohn da in Berlin macht. „Ist Fernsehen überhaupt richtige Arbeit?“, fragten sie. „Sie konnten ja in Niedersachsen den SFB damals nicht empfangen“, sagt Ulli Zelle, „deshalb habe ich ihnen manchmal Videokassetten mitgebracht, damit sie verstehen, dass ich wirklich in Berlin einen ordentlichen Job habe.“ Er sagt, sie seien dann schon stolz auf ihn gewesen. Das war ihm auch wichtig. Wenn er in seinem Heimatort ist, bringt er ihnen immer Blumen ans Grab.

Ulli Zelle hat seine Kindheit in Niedersachsen als wirklich glücklich in Erinnerung, rannte mit Holzschwertern durch den Wald. Zur Welt gekommen ist er an einem „schönen Juni-Tag“ in einem Kloster-Krankenhaus in Obernkirchen. Genau auf diesem Gelände, mit Blick auf den gleichen Mühlenteich, verlebte später seine Mutter im Altersheim ihre letzten Tage.

Und da sind wir irgendwie wieder beim Tod gelandet, nicht bei Marlene oder Willy Brandt, aber bei den vielen anderen. Er mag ja diese Klischee-Sätze nicht, so etwas wie: „Die Einschläge kommen näher“, sagt er, „den Satz kriegen Sie von mir nicht.“ Aber der Tod von Otto Sander, sagt er, der habe ihn doch getroffen. „Das war einer der wenigen Berliner Promis, mit dem ich so etwas wie eine Freundschaft verbunden hatte. Wir trafen uns oft bei Veranstaltungen, und wenn es langweilig wurde, ging ich ins Foyer und da standen wir dann und tranken ein erstes Bier.“ Heute schafft er nie mehr als zwei Bier.

Ulli Zelle erzählt dann noch eine Geschichte von Otto Sander und Udo Walz, die er einmal in der Paris Bar erlebt hat. Beide hatten sich gestritten, wer von beiden berühmter ist, und weil sie sich nicht einig wurden, wollten sie es testen und fragten jeden, der an der Bar vorbeilief: „Kennen Sie mich?“ Sie strichen dann auf einem Bierdeckel ab, wer öfter erkannt wurde. Die Geschichte klingt gut, sie hat nur einen Haken: „Ich weiß nicht mehr, wer gewonnen hat.“

Vielleicht macht ihn das erst so sympathisch am Ende dieses langen Gesprächs im Lentz. Irgendwie ist es doch auch egal, wie beliebt jemand ist. Ein Reporter dieser Zeitung, der nun für den Spiegel schreibt, hat einmal in einem Porträt über Ulli Zelle geschrieben: „Andere in seinem Alter sind inzwischen Chefredakteure.“ Aber selbst als Zelle das damals las, dachte er, das wäre nichts für ihn gewesen. „Ich rede lieber mit echten Menschen, das ist doch ein toller Job“, sagt er, „diese Mischung von unterschiedlichsten sozialen Schichten, die in unserem Beruf zusammenzukommen.“ Er komme in beiden Welten ganz gut zurecht, ob Eigenheimbesitzer in Dahlem oder im Block C am Majakowskiring.

Ulli Zelles Internetseite beim RBB sieht aus, als sei sie lange nicht verändert worden. Sie zeigt ihn in zwei Situationen, die seine Arbeit ganz gut zusammenfassen: Das große Bild ist etwas unscharf, zeigt ihn beim Myfest am 1. Mai 2009 in Kreuzberg, inmitten von Feiernden, hinter ihm winken zwei Betrunkene in die Kamera.

Ein zweites kleines Bild im unteren Teil zeigt ihn auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, dem Abend des Terroranschlags. Er zeigt auf die vielen Notarztwagen hinter ihm. Er schaut ernst, nicht geschockt.

Zelle war an jenem Abend schon auf dem Heimweg und musste dann noch einmal zurück in Richtung Zoo. Er wusste damals nur, dass es einen Unfall gegeben hat. Das Ausmaß des Terroranschlags mit 13 Toten wurde ihm erst bewusst, als er am Tatort stand. Wieder war er zuerst ohne Kameramann vor Ort, der noch unterwegs war. Doch dieses Mal nahm er sein Handy und machte die ersten Liveschalten per Telefon. Er sagt, dass er in solchen Momenten in eine Art „Profi-Modus“ schalte.

Ist es schwer, in solchen Momenten ruhig zu bleiben?
In diesen Situationen mache ich zunächst einmal in Anführungsstrichen meinen Job und blende den Hintergrund aus. Natürlich lässt mich das nicht kalt, aber bei einer Liveschalte kommt es auf diese zweieinhalb, drei Minuten an. Geweint habe ich vor der Kamera nicht, aber ich kann auch weinen.

Wenn die Kamera aus ist?
Wir haben einmal ein Kind verloren. Das ist nun schon 20 Jahre her, aber ich gehe noch jeden Monat einmal zum Grab und weine auch immer noch bitterlich.

Haben Sie einen Namen für das Kind?
Einen Namen haben wir, ja. Stella, ein Mädchen. Es gibt immer noch den Grabstein, Gott sei Dank.

Zwei Söhne hat er, Journalist will keiner von beiden werden, aber er ist mächtig stolz auf sie. Tolle Kerle seien sie geworden. „Ich sage ihnen immer: Ich hoffe, ich konnte euch irgendetwas mitgeben, damit ihr eure Zukunft baut.“ Er schaut etwas versonnen, wenn er an sie denkt. Wenn sie abends ausgehen, rufe er ihnen noch immer zu: „Denkt an die drei Ds – keine Drogen, keine Dogmen, keine dummen Dinge.“ Mit Dogmen meint er Sekten oder seltsame Ideologien.

Auch die drei oder vier Ds werden nicht verhindern, dass sie im Alter einige Narben angesammelt haben werden, wie die meisten Menschen. Ulli Zelle hat mehrere, die erste, die ihm einfällt, ist die Narbe am Bauch. Er sagt: „Das war eine Blinddarm-OP, in dem Krankenhaus, wo meine Mutter auch später lag. Ich war drei Jahre alt und bekam danach einen Teddy.“ Den hat er heute noch.