Berlin. Vor einiger Zeit sollte Freya Klier wieder einen Text schreiben für eine große konservative Tageszeitung in Berlin. Als sie ihn abgeschickt hatte, meldete sich eine Redakteurin: „Frau Klier, die Rechtsabteilung hat große Bedenken, diesen Text zu drucken.“ Die DDR-Bürgerrechtlerin wollte kooperativ sein und fragte, was sie ändern solle. Die Redakteurin wurde nervös. „Am besten: gar nichts über die DDR.“ Der Text wurde nie gedruckt.
Mit Freya Klier 30 Jahre nach der Wiedervereinigung zu sprechen, ist tatsächlich ein Ritt durch die Vergangenheit, in der immer wieder Namen auftauchen, die heute noch eine Rolle spielen. Redakteure großer Wochenzeitungen haben ihr gesagt, sie sei „Persona non grata“, und sie erzählt aus den Stasi-Akten großer Politiker, die sie gelesen hat – und wenn sie davon erzählt, wolle es keiner hören. Sie ist nach wie vor unangepasst und noch lange nicht fertig mit diesem Staat, der vor 30 Jahren unterging.
Dieses Jahr legt sie mit „Wir sind ein Volk! – Oder?“ ein Jubiläums-Buch vor, das voller Stimmen interessanter Zeitzeugen ist. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), sein Amtsvorgänger Wolfgang Thierse (SPD) und der CDU-Politiker Peter Tauber erzählen unter anderem von ihrem Verhältnis zu diesem Nationalfeiertag. Aber es gibt dazwischen auch immer wieder kleine Geschichten von Menschen, die als Lehrer oder Fabrikangestellte die Wiedervereinigung erlebt haben.
Eine der beeindruckendsten in dem Band ist die Geschichte von Editha Krummreich, die Abteilungsleiterin in einem Verpackungsbetrieb in Dresden war. Sie hatte zwei Kinder und verlor genau am 3. Oktober 1990 ihre Arbeit endgültig, weil sie 60 Jahre alt war. Nach fast 40 Jahren gab es noch nicht einmal eine Abschiedsfeier. Sie erzählt, wie sie sich „eine Pulle Cognac“ kaufte und wie sie die Affäre mit einem Mann in Leipzig beenden musste, obwohl der immer noch anrief ab und zu, aber stumm am Telefon blieb. Doch nur Wochen später bekam sie einen Job beim Versicherungskonzern Allianz und verkaufte Versicherungen an die Dresdner im Stadtteil Wilder Mann bis zu ihrer Rente mit fast 70 Jahren – dieses Mal gab es übrigens eine Abschiedsfeier.
Editha Krummreich ist die Mutter von Freya Klier. Es war ihr wichtig, dass ihre Mutter einen eigenen Text im Buch bekommt. „Sie war eine tolle, eine kluge Frau“, sagt Freya Klier im September 2020. „Obwohl sie Versicherungen verkaufte und damit auch Geld für die Kinder nach Hause brachte“, sagt sie, „hat sie niemals einen Menschen betrogen.“ Und: Sie war nie in der Partei. Krummreichs Text lässt kein gutes Haar an der DDR, mit der Wiedervereinigung hatte Kliers Mutter mit dem Staat abgeschlossen. Zu viel musste sie darunter leiden.
Sie schreibt, dass, nachdem ihr Mann 1953 aus politischen Gründen ins Gefängnis musste, auch ihr Sohn verhaftet wurde – „weil er und seine Freunde der Polizei ihre Beatles- und Stones-Texte nicht aushändigen wollten“. Als Freya Klier gerade ihren Schulabschluss in der Tasche hatte, machte sie einen Fluchtversuch und wurde ebenfalls ins Gefängnis geschickt. Die Passage, wie die Mutter an einem Tag ihre Familie in unterschiedlichen Gefängnissen besucht, zählt zum eindrücklichsten, was man über die DDR-Zeit derzeit lesen kann.
Freya Klier nutzt ihre Zeit aus dem Gefängnis heute, in dem sie Insassen zeigt, dass es eine Welt nach der Justizvollzugsanstalt gibt. „Ich habe ja selbst gesessen“, sagt sie dann, „und das war eine sehr schwere Zeit, in der ich sehr allein war.“ Mehr als 80 Stasi-Spitzel waren auf sie und ihren Mann Stephan Krawczyk angesetzt und erst jetzt, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, kann man erste Ergebnisse der wiederhergestellten Akten bestaunen, die 1989 vernichtet werden sollten. „Erst jetzt lernte ich, wie bigott der Antifaschismus in der DDR war“, sagt sie, „wie viele Nazis nach dem Kriegsende weiter als Lehrer und Polizisten arbeiten konnten, weil man ihre nationalistische Einstellung gut gebrauchen konnte in einem stalinistischen Staat.“
Diese Fassungslosigkeit, dass wichtige historische Dinge vergessen oder falsch erinnert werden können, zieht sich durch das gesamte Buch. Klier knüpft mit ihrem Einleitungskapitel gar gleich an die Bibel an und nennt es: „Mein 11. Gebot: Du sollst dich erinnern.“ In dem Kapitel erzählt sie auch noch einmal die Geschichte des Arztes aus West-Deutschland, der in den 1990er-Jahren nach Frankfurt an der Oder ging und dort die Gynäkologie-Station leitete. Er scheiterte schließlich an der Ostmentalität, sein Sohn wurde als Wessi gehänselt. Als seine Ehefrau ein Buch über ihre Erfahrungen im Osten schrieb, mussten sie um ihr Leben fürchten. Inzwischen lebt der Arzt in Berlin.
Freya Klier, die lange in Berlin gelebt hat, kennt die Stadt gut. Sie hat mit ihrer Tochter einen wunderbaren Film gemacht über die Oderberger Straße und die Szene der Bürgerrechtler, die sich um diese Straße herausbildete. Sie will auch jetzt wieder Filme machen, weiter Bücher schreiben. „Niemand spricht doch bisher darüber, wie die DDR mit Minderheiten umgegangen ist – zum Beispiel mit Juden.“ Es habe zwar in Erfurt und Dresden jüdische Gemeinden gegeben, aber die seien selten in den Medien aufgetaucht. „Ich war 15 Jahre alt, als ich zum ersten Mal den Satz hörte: ,Dich haben sie wohl vergessen zu vergasen.‘“
Die Wut und Fassungslosigkeit ist der 70-Jährigen geblieben, und sie wird sie weiter ausdrücken. Deshalb auch das Fragezeichen am Ende ihres neuen Buchtitels: „Oder?“ Sie will weiter den Finger in Wunden legen, und es gibt kaum ein Gespräch über den Osten, in dem sie nicht ihren Bruder erwähnt. Er hatte sich nach seinem Gefängnisaufenthalt das Leben genommen. Sie ist überzeugt, er wurde durch Medikamente oder Folter in den Tod getrieben.
Für sie war der Corona-Lockdown auch eine Zeit der Erinnerung. Während ihre Tochter gerade in Neuseeland war und ihre Reise abbrechen musste, dachte sie an die Zelle im Gefängnis. „Keine Uhr, kein Stift, kein Blatt Papier und eine Tür ohne Klinke“, berichtet sie über diese Zeit. „Dagegen war auch der strengste Lockdown der pure Luxus.“ Überhaupt habe doch Deutschland, sagt sie, diese für viele Länder katastrophale Zeit ganz gut überstanden bisher. Und wie es ihre Art ist, formuliert sie eine Feststellung lieber als Frage: „Ist es das, warum ich so gern in Deutschland lebe?“
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 3. 10. 2020.