Manila. Die kleine Hütte, in der sich die Familie Lopez versammelt hat, ist aus Stein, das Dach ist undicht, gerade mal zwei Räume gibt es. Es ist feucht, riecht muffig, Insekten krabbeln auf dem Boden oder fliegen umher. Über der Tür hängt ein Bild von Justin, er wurde nur 24 Jahre alt. Wenn Luisito Lopez vom 18. Mai 2017 und dem Tod seines Sohnes erzählen soll, dann wird er oft unterbrochen, von Gloria, Justins Großmutter, oder von seinem Bruder Nestor, Justins Onkel.
Es passierte spät am Nachmittag jenes Donnerstages im Stadtteil Tondo der philippinischen Hauptstadt Manila, im Slumviertel Morong Street. Luisito: „Jemand schrieb meinem Sohn eine SMS, er solle zum Bahndamm gehen.“ Der Junge lief mit einer Gruppe von Freunden los, zu den 200 Meter entfernten Gleisen. Als er dort ankam, waren die Jungen plötzlich von Polizisten umringt, in Zivil und Uniform.
Nestor: „Seine Freunde rannten weg, die Polizisten bekamen nur Justin zu fassen und stießen ihn zwischen die Schienen.“ Dort bekam der 24-Jährige einen epileptischen Anfall. Luisito: „Er hatte oft epileptische Anfälle, die Polizisten aber dachten, er machte sich lustig.“ Nestor: „Dann habe ich acht Pistolenschüsse gehört.“ Großmutter Gloria: „Als ich zu den Gleisen kam, sah ich meinen Enkel mit ausgestreckten Armen zwischen den Schienen liegen.“
Das, was Justin passiert ist, passiert seit zwei Jahren sehr häufig in den Slums von Manila. Die Polizei nennt ihr Vorgehen „Tokhang“ — „Tok“ steht für „klopfen“ an der Tür und „Hang“ für „festnehmen“. Menschenrechtsorganisationen haben einen anderen Begriff für die Aktion: „Extra Judicial Killings“ (EJK), Töten ohne Prozess.
Der Drogenkrieg wird mit harten Mitteln geführt: Die Polizei nimmt Verdächtige nicht mehr fest, sondern tötet sie meist gleich vor Ort. Es gibt keine Anklage, keine Beweisaufnahme, kein Urteil. Die Exekutive handelt in Manila unabhängig von der Judikative, Rückendeckung bekommen sie dabei vom Präsidenten selbst: Rodrigo Duterte.
Vor fast zwei Jahren, im Juni 2016, gewann Duterte die Wahl – unter anderem, weil er der Bevölkerung damals versprach, die Straßen der großen Städte von Drogen und Kriminellen zu befreien. Er benutzte schon damals eine menschenverachtende Sprache: „Hitler hat drei Millionen Juden getötet – ich werde drei Millionen Drogensüchtige töten.“
Tatsächlich hat Hitler sechs Millionen Juden umbringen lassen, und unter Duterte sollen bereits 20.000 Menschen bei Polizeieinsätzen getötet worden sein. Wie viele davon Dealer, Drogensüchtige und Unschuldige waren, lässt sich nicht mehr sagen. Das System Duterte funktioniert zumindest zum Teil: Die Kriminalitätsrate ging tatsächlich um ein Fünftel zurück, allein im ersten Jahr seiner Amtszeit – parallel steigt die Zahl der Toten.
In den ersten Monaten der Duterte-Regierung gab es einen internationalen Aufschrei, Medien berichteten, zeigten Bilder von Leichen, denen ein Schild umgehängt war: „Ich bin ein Dealer.“ Als Papst Franziskus und der damalige US-Präsident Barack Obama das Vorgehen kritisierten, bezeichnete Duterte sie als „Hurensöhne“, und in Richtung der Europäischen Union sagte er schlicht: „Leckt mich.“ Das Töten hat nicht aufgehört, auch jetzt noch im April 2018 gibt es in jeder Nacht neue Leichen.
Chito Gascon, Vorstand der Menschenrechtskommission auf den Philippinen, ist einer der wenigen hochrangigen Politiker, die sich gegen diese Tötungen stellen. „Das Problem ist, dass wir wenig tun können, solange die Öffentlichkeit aufseiten des Präsidenten ist“, sagt er. Dessen Beliebtheit liegt nach wie vor bei rund 80 Prozent. Gascon wurde kurz vor Dutertes Präsidentschaftswahl nominiert und ist jetzt noch mindestens zwei Jahre im Amt.
„Am Anfang waren es mehr als 100 in einer Nacht“, sagt er, „inzwischen sind es viel weniger, aber es hört nicht auf.“ Seine Kommission geht von bis zu 20.000 Toten aus, die im Drogenkrieg sterben mussten. Offiziell gibt die Polizei an, für 4100 Tote verantwortlich zu sein, die „in Notwehr“ erschossen wurden. Doch jetzt regt sich erstmals Widerstand gegen dieses Vorgehen.
In seiner Hütte berichtet Luisito Lopez davon, dass die Drogen bei der armen Bevölkerung durchaus ein Problem sind, vor allem Shabu, wie Crystal Meth auf den Philippinen genannt wird. „Justin hat ungefähr ein Jahr lang Shabu genommen“, sagt Luisito. „Justin hatte das Gefühl, dass er mit der Droge keine epileptischen Anfälle mehr bekam.“ Die Familie versuchte, Justin davon wegzubekommen. „Erst am Morgen jenes 18. Mai hat er seiner Mutter versprochen, nie wieder Shabu zu nehmen.“
Es ist das Letzte, was sie von ihrem Sohn noch in Erinnerung hat, bevor er starb. Aber mit den Drogen gehandelt habe er nie. „Er war ein guter Junge, hatte einen Job in einer kleinen Werkstatt, wo er aus Aluminium Töpfe herstellte.“ Dafür bekam er umgerechnet zwei bis drei Euro am Tag. Damit unterstützte er seine Familie.
Die Lopez-Familie ist arm und kann sich keinen Anwalt leisten. Nach Justins Tod fühlten sie sich zunächst allein. Großmutter Gloria: „Sie gaben uns 280 Pesos als Kompensation.“ Das sind umgerechnet fünf Euro. Sie schüttelt den Kopf. „Diese Tiere, damit werden sie nicht durchkommen.“
Nach der Beerdigung von Justin ging sie zur Polizei und beschwerte sich. „Ich habe sie angeschrien, dass mein Enkel kein Dealer war“, erzählt sie. Aber die Polizisten sagten ihr nur: „Der Präsident steht hinter uns, Sie haben keine Chance.“ Dann aber sprach Rubylin Litao sie an, sie sagte, sie sei von der Organisation Rise Up (steh auf). Die kümmert sich um einzelne Fälle der Opfer von „Tokhang“ und versucht, die Tötungen zu dokumentieren und zu untersuchen.
Rubylin Litao ist für viele Familien die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit. Sie hält den Kampf gegen Drogen vor allem für einen Kampf gegen die Ärmsten der Bevölkerung: „Die meisten Familien haben nicht den Mut, sich offen gegen den Staat und die Polizei zu stellen.“ Litao kennt den Fall Lopez, vor allem deshalb, weil es einer von drei Fällen ist, die aktuell vor Gericht verhandelt werden. „Für uns ist es vor allem Überzeugungsarbeit, dass die Familien ein Recht darauf haben, vor Gericht gehört zu werden.“
Auch ihrem Büro haben die Beamten schon einen überraschenden Besuch abgestattet. „Sie wollten uns einschüchtern, aber wir werden weitermachen.“ Litao denkt, dass im Fall von Justin Lopez der Polizei zumindest Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Aber ob die Gerichte unabhängig sind? Bei dieser Frage lächelt sie nur. „Das werden die Urteile zeigen.“
Rückenwind bekommt die Organisation durch einen Fall, der im August vergangenen Jahres weltweites Aufsehen erregte. Der 17 Jahre alte Kian Delos Santos wurde am 16. August tot in einer Sackgasse im Norden Manilas gefunden. Auch ihn beschuldigte die Polizei, ein Drogenhändler zu sein und sich mit Waffengewalt gegen die Verhaftung gewehrt zu haben. Aber es gab Kameraaufnahmen und Zeugen, die dem widersprachen.
Außerdem war der Junge in seiner christlichen Gemeinde und im Freundeskreis als besonders engagiert bekannt. Die Familie Delos Santos kommt ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen, aber auch sie strengte ein Gerichtsverfahren an. Der Vater wurde Teil des Zeugenschutzprogramms und zog in einen anderen Teil Manilas. Das Urteil wird im Sommer erwartet.
Duterte hält weiter am Image des Hardliners fest
Die Prozesse von Delos Santos und Lopez haben erste Konsequenzen für die philippinische Polizei zur Folge gehabt. Es wurden Regeln eingeführt, wie eine „Tokhang“-Aktion durchgeführt werden soll: Es müssen nichtpolizeiliche Zeugen anwesend sein, oder der Vorgang muss mit Kameras aufgezeichnet werden. Aber Duterte hält weiter am Image des Hardliners fest. Die starke Polizeipräsenz ist in den Straßen Manilas spürbar, vor allem abends.
Taxifahrer und Shop-Besitzer – egal, wen man fragt, sie alle unterstützen den Präsidenten. Der Kampf gegen Drogen geht so weit, dass selbst das Rauchen von Zigaretten im öffentlichen Raum verboten ist. Wer es doch tut, muss mit hohen Geldstrafen oder Gefängnis rechnen.
Großmutter stimmte selbst für Duterte im Jahr 2016
In dem Slum, wo die Straßen ganz eng sind und die Abwasser vor den Eingängen entlangfließen, dort also, wo die Familie Lopez lebt, wird überall geraucht. Hier gelten die Regeln nicht, mit denen Duterte eine neue Zeit einläuten will. Großmutter Gloria stimmte selbst für Duterte im Jahr 2016. Jetzt aber sagt sie eisern: „Ich wünsche mir nur noch, dass er stirbt.“ Die Familie hat außer dem Foto über der Tür nicht mehr viel, was sie an Justin erinnert, erzählt der Vater.
Justins Schwester Jery holt ein Parfüm hervor, Marke Poison, und ein T-Shirt von Dieckies. „Er wollte immer aussehen wie ein Gangster“, sagt sie. Vater Luisito: „Die Polizei kam nach seinem Tod einmal zu uns, um uns diese Kette zu geben.“ Der Vater spielt mit der Kette, mit dem kleinen Kreuz daran und sagt: „Justin wurde am 31. Dezember geboren, damals war überall Feuerwerk. Es war der glücklichste Tag in meinem Leben.“