Berlin – Neulich habe ich zum ersten Mal die Nerven verloren. Es ist ein Abend mit einer Freundin, die Flasche Rotwein steht geöffnet auf dem Balkon, wir hören den geschäftigen Lärm der Oderberger Straße: das Klirren von Essbesteck, das Poltern von Rollkoffern, das Kreischen, wenn aus Versehen etwas Blumenwasser von Balkonpflanzen auf Restaurantgäste tropft (hihi). Doch dann kommt einer dieser Musiker, die keine sind, und spielt „Careless Whisper“ von George Michael auf seinem Saxophon. So wie er es spielt, hasst er den Song. Er trifft nur jeden dritten Ton, und wir auf dem Balkon halten Augen rollend den Atem an. Als er fertig ist, stellt er sich an das nächste Restaurant, also zehn Meter weiter, und spielt das gleiche Lied, genauso schlecht. Danach direkt gegenüber. Beim vierten „I’m never gonna dance again“ wird es mir zu viel: Ich stehe auf dem Balkon, buhe aus Leibeskräften auf die Straße, schreie: „Aufhören!“ – und hasse mich gleichzeitig dafür.
Vor sieben Jahren zog ich in die Oderberger Straße, und bis heute kann ich mich noch an diese Euphorie erinnern, als ich damals zum ersten Mal auf genau diesem Balkon stand und die Straße hinunterschaute, in Richtung Mauerpark. Morgens bis elf knallt die Sonne auf die Straße, verschwindet dann Richtung Schwedter Straße, und bevor sie untergeht, schaut sie noch einmal in der Oderberger vorbei. Die ganze Straße wird dann von Wedding her für eine Viertelstunde in dieses orangefarbene, magische, instagrammable-langschattige Licht getaucht. Ich habe diesen Moment seitdem sehr häufig fotografiert und kann dann jedes Mal mein Glück kaum fassen.
Am Anfang war ich so froh über diese Momente, dass ich selbst die offensichtlichen Probleme dieser Gegend gut wegargumentieren konnte: die vielen Touristen („Yes, the Mauerpark is over there“), die Musiker („Manchmal singen sie ‚Buena Vista Social Club‘“), und selbst an den täglichen Lärm von der Feuerwehrstation hatte ich mich längst gewöhnt und sagte fast stolz: „Es ist immerhin die älteste durchgehend benutzte Feuerwehr in ganz Deutschland.“ Diesen Satz sagte ich Freunden auch dann, wenn die Sirenen direkt vor dem Balkon an der Kreuzung zur Kastanienallee aufheulten.
Aber vor einigen Monaten ist irgendetwas zerbrochen zwischen den Einwohnern und dieser Straße und der Außenwelt. Der Ton ist aggressiver geworden. Oder ist das in der ganzen Stadt so seit der Pandemie? In der Oderberger liegt das an den vielen Restaurants mit Egal-Essen, die nur Barzahlung akzeptieren, ganztägig eine Happy Hour anbieten und kein Problem damit haben, Mafia-Musikern eine Bühne zu bieten. Ihre Gäste sind ohnehin meist Touristen, die nur einmal die Sonne untergehen sehen wollen und nie wiederkommen. Sie sitzen auch Dienstagmorgen um 3 Uhr noch in den angeketteten Bänken vor den Restaurants und spielen Eurotrash-Musik. Sie hinterlassen ihre Eisbecher auf den Bänken als Geschenke an Nagetiere und fahren motzend mit E-Scootern auf dem Fußweg, weil die Straße ihnen zu holprig ist.
Natürlich ist die Miete in der Oderberger inzwischen kräftig gestiegen, der Vermieter meines Hauses ist der gleiche, der auch die Liebig 34 räumen ließ. Alle Gerüchte über ihn stimmen. Er versucht mit unredlichen Tricks, die Miete zu erhöhen, seine Gesellschaft (mit immer neuen Namen) hat noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse, er lässt Wohnungen im Haus bewusst leer stehen, das Treppenhaus verlottert – und der Müllraum müsste ein „Biohazard“-Schild draußen an der Tür haben. Wenn ich den Raum betrete, rufe ich immer „Ksch“, um die Ratten zu vertreiben. Außerdem steht ein Geldautomat direkt in der Eingangstür, bei dem jede Abbuchung nur gegen die Gebühr von 7,50 Euro möglich ist (#Wucher). Gibt es nicht Regeln in Städten, dass zumindest der Eingangsbereich für die (immerhin älteste!) Feuerwehr frei bleiben muss – zumal, wenn direkt gegenüber ein weiterer Automat steht?
Natürlich hat es Vorteile, im Zentrum der Hipness zu leben: Laut Bild-Zeitung wohnt ein berühmter Virologe hier in der Straße, beim Bäcker, der Hörnchen statt Croissants verkauft, trifft man Schauspieler („Inglourious Basterds“) und Regisseure („Lola rennt“). Der RBB hat einmal einen Film über diese Straße in Auftrag gegeben: Gedreht hat ihn Nadja Klier, die Tochter von Freia Klier, der Dresdner Bürgerrechtlerin. Sie erzählt darin von der Zeit vor dem Mauerfall, als auch das Schulkind Sahra Wagenknecht hier in der Straße wohnte.
Damals in den Achtzigern formierte sich ein erster Bürgerprotest in der Oderberger Straße. Die DDR wollte die maroden Altbauten abreißen und Plattenbauten auf der Oderberger errichten. Wie eine Ironie der Geschichte stehen an der Bernauer Straße jetzt langweilige Wohnblocks mit großen Glasfenstern, die immer leer aussehen, wahrscheinlich, weil die Bewohner in China oder San Francisco Zeit und Zinsen für sich arbeiten lassen wollen.
Auch in West-Berlin war diese Straße berühmt. Der Hochstand hinter der Mauer war so aufgestellt, dass die DDR-Schaulustigen direkt gleichzeitig in die Schwedter und die Oderberger Straße glotzen konnten. Er galt als eine der berühmtesten Aussichtsplattformen in West-Berlin. Heute stehen dort die Dealer und sprechen jeden an, der den Mauerpark betreten will. Die rund 100 Meter entfernte Polizeistation auf der Eberswalder Straße kann das nicht verhindern, vielleicht weil die Polizisten lieber Fahrradfahrern an der nahen Fußgängerampel 100-Euro-Strafzettel geben.
Klar ist selbst in der Oderberger immer noch viel altes Ost-Berlin zu spüren: die ramschige Pauls Boutique, wo glänzende 90er-Jahre-Trainingsanzüge 80 Euro kosten, das nette Nemo, wo der Barmann noch grummelig Musikwünsche entgegennimmt, das Il Giradischi mit seinen augenzwinkernd-unfreundlichen Kellnern und vor allem: die Kiezkantine. Dieses einzigartige Sozialprojekt bietet täglich ein Fleisch- und ein Veggie-Gericht für 5 bis 7 Euro. Immer Hausmannskost, immer an der Tafel angekündigt. Manchmal steht dort: „Jägerschnitzel nach alter DDR-Art“.
Sonntags ist die Kiezkantine geschlossen. Dafür sitzt dort vor der Tür immer eine kleine Frau mit einer Geige. Sie grüßt freundlich, aber wenn sie die Geige aus dem Köfferchen nimmt, beginnt die Tortur. Sie spielt „Besame Mucho“, jenen mexikanischen „Küss mich“-Song, der in diesem Jahr sein 80. Jubiläum feiert. Die Frau spielt etwas verkrampft lächelnd, nur den Refrain, stundenlang. Immer wieder. „Küsse mich, küss mich ganz feste! Küss mich, als wär’s heute Nacht zum allerletzten Mal.“ Ein mittelalter Mann kommt manchmal vorbei und räumt den Geigenkasten leer. Das Ganze sieht nach furchtbarer Ausbeutung aus. Wer genau hinhört, kann auf der Straße das Knallen der Balkontüren hören. Zwischen dem zweiten und dem dritten „Küss mich“.
Erschienen in der Berliner Zeitung am 19.9. 2021