Am Anfang und am Ende steht eine Frage, über die ich lange nachdenken muss. Der Anfang liegt ein halbes Jahr zurück: Ich sitze in einer komplett dunklen Halle auf dem Fußboden. Um mich herum sind 30 fremde Menschen. Langsam gewöhnen sich die Augen daran. Ich kann die Zuhörer von den Darstellern kaum unterscheiden. Der einzige Unterschied: Die Darsteller sprechen miteinander. Eine Frau überlegt laut, ob sie ihr Mobiltelefon verkaufen solle, was es wert sei. Dann ruft ein Mann die Frage in die Dunkelheit: “Definieren wir uns mehr über die Art, wie wir unser Geld verdienen, oder darüber, wie wir es ausgeben?”
Ich erzähle dem Künstler Tino Sehgal gleich zu Beginn unseres Spaziergangs von diesem Erlebnis auf der Documenta in Kassel im Sommer 2012. Der dunkle Raum war sein Kunstwerk “This Variation”. Er gilt schon mit seinen 36 Jahren als einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit, wird an Museen in Asien, Amerika und ganz Europa eingeladen. In Tokio hat er Kassierer eines Museums die Schlagzeilen einer Tageszeitung laut vorlesen lassen. In New York hat er Kinder mit tiefer Zombiestimme Besucher einer Ausstellung fragen lassen: “Was denken Sie, worum es hier geht?” Und in Venedig verwickelten Museumswärter die Besucher in ein Gespräch über Marktwirtschaft. Wer sich von ihnen darauf einließ, bekam die Hälfte des Eintrittsgeldes zurück.
Als ich ihn an der Brunnenstraße in Mitte auf den dunklen Raum in Kassel anspreche, ist es sehr hell um uns herum, und trotz dieser Großstadtlautstärke ist es für Sehgal nicht ungewöhnlich, sofort eine akademische Diskussion über den Sinn vom Geldverdienen zu führen. Er sagt: “Das Einkommen, das die Menschen aufgrund der Produktion von Dingen von geringer Bedeutung generieren, ist von großer Bedeutung.” Der Sinn dieses Satzes sollte in den Aussagen der Darsteller vorkommen. Sie sollten Variationen finden. Sehgal sagt, wenn man diesen Satz verstanden habe, könne man im Grunde über alles reden.
Was für ein Satz zu Beginn des Spaziergangs. Er schiebt sein Fahrrad langsam die Straße entlang. Hinten auf dem Kindersitz schläft sein Sohn fast ein. “Wir müssen doch in den Kindergarten”, sagt er mehr zu dem Kind als zu mir. Es müsse jetzt noch wach bleiben, bitte. Sehgal versucht seine Haare zu bändigen, sie irgendwie dem Wind zu entreißen und auf seinen Kopf zu legen. Das ist so eine Handbewegung, die zu einem Künstler genauso wie zu einem Professor passen könnte. Studiert hat er Tanz und Volkswirtschaftslehre. Nach dem Studium hat er zunächst selbst getanzt. Doch wirklich bekannt wurde er erst vor rund zehn Jahren mit seinen “konstruierten Situationen” in Museen, so heißen seine Werke. Er mag auch das Wort Aufführung.
Tino Sehgal blickt auf seinen Sohn, drückt seine Professorenhaare an den Kopf. Ihm fällt ein, dass einer seiner Söhne ihn kürzlich gefragt habe: “Ist heute schon morgen?” Sehgal fand das interessant, der Umgang mit Zeit von Kindern, der doch für so viele als fast naturgegeben hingenommen wird. “Die Kategorien von Vergangenheit und Zukunft müssen wir als Menschen ja erst lernen.”
Ausgerechnet vor einem Uhrenladen auf der Brunnenstraße bleibt er stehen. Der Laden ist geschlossen, doch das Ticken der vielen Uhrwerke ist leise zu hören. “Den gibt es seit über 20 Jahren”, sagt Tino Sehgal. “Ich bringe meine kaputten Uhren hier immer her.” Wenn man dort hingehe, müsse man damit rechnen, lange zu warten. Nur bei geduldigen Kunden, die dann noch eine Uhr vorweisen können, die gut genug sei, notiere der Uhrmacher sich die Telefonnummer und sage: ,Ich rufe Sie an.’ Das könne aber drei Monate dauern. “Der Kunde geht hier nicht zu einem Dienstleister, es ist eher eine Audienz.” Der Mann habe sich eben nicht unserer Servicekultur verschrieben. Bevor wir weitergehen, sehen wir ein Schild an der Wand hinter dem Fenster. Dort steht: “Die Maschine wird ihn nie ersetzen.”
Er sagt nichts zu dem Spruch, aber er passt; Tino Sehgal hat eine zumindest skeptische Beziehung zu Maschinen. Er besitzt kein Mobiltelefon (“Ich hatte einfach nie den Impuls, mir eines zu kaufen”), mag keine Audioguides in Museen (“Ich rede doch lieber mit jemandem über die Kunst”) und besteigt kein Flugzeug (“Zum letzten Mal bin ich 1992 geflogen”). Auch seine Besucher müssen sich seinen Anti-Technik-Gesetzen unterwerfen. Jegliche Foto- oder Videoaufnahmen seiner Werke sind untersagt. Als die “Times” doch einmal ein Bild abdruckte, nannte er das eine “krasse Unfeinheit”. Er sagt, bisher sei er damit immer durchgekommen.
Wahrscheinlich haben ihm Reporter anderer Zeitungen wegen seiner Prinzipien und Gewohnheiten in ihren Texten “ein großes Ego” attestiert. Hinzu kommen die wehenden Haare und Augen, die einfach sehr wach in ihre Umgebung blicken. Doch dagegen spricht, dass er eher leise auftritt, einer ist, bei dem man schon genau hinhören muss, und der selbst auch Gesagtes sehr genau nimmt.
Doch wenn er schon den Faktor Zeit immer wieder in das Gespräch einbringt, dann macht er damit auch deutlich: Das hier ist nur eine Momentaufnahme. Er ist skeptisch Reportern gegenüber, die irgendwelche kurzen Beobachtungen zu wichtig nehmen. Er erzählt von dem Treffen mit einer Journalistin der Zeitschrift “The New Yorker”, die ihn für mehrere Tage begleitete. “Wenn die einen dann porträtieren”, sagt er, “dürfen die ja auch nicht nur Positives schreiben.” Das sei auch die Struktur eines Artikels, diese Gegenüberstellung von Kritik und Lob, das ende doch immer im Klischee. Überhaupt seien Künstler nur ein kleines Milieu in der Gesellschaft, genau wie die Medien. “Wir alle sind doch nur ein kleiner Moment in der Menschheitsgeschichte.”
Nein, ein großes Ego klingt anders. Wenn er nicht so technikfeindlich wäre, könnte man zu diesem Satz noch sagen: Es ist wie das Zurückzoomen bei dem Programm Google Earth. Plötzlich werden wir beide hier auf der Straße ganz klein, bis nur noch die Erdkugel zu sehen ist. Wer sind wir schon?
Dann endlich beantwortet Tino Sehgal die Frage aus seinem Raum in Kassel. Was ist wichtiger, Einkommen oder Konsum? Er sagt, dass es vielleicht bis in die 80er-Jahre hinein wichtiger war, Geld zu verdienen, um damit Freizeit und Konsum ermöglichen zu können. “Vielleicht ging es damals darum, sich mit bestimmten Produkten zu verwirklichen.” Heute sei es komplizierter, und viele identifizieren sich eher mit ihrer Arbeit. Er entscheidet sich also für das Einkommen, über das sich viele Menschen wohl heute definieren. Dann macht er das, was er am besten kann, er fragt zurück: “Wie ist das bei dir?” – “Wie lange machst du das schon, diese Berliner Spaziergänge?” – “Wen hast du schon alles getroffen?” Er wird auch ein bisschen frech: “Wie lang willst du das noch machen?”
Fast bin ich froh, als wir den Kindergarten erreichen. Er hängt die Jacke seines Sohnes zwischen all die anderen Jacken, hilft beim Schuhe ausziehen. Aus dem Spielzimmer, in den das Kind geht, dringen englische Worte.
Sehgal selbst spricht Deutsch mit seinen Kindern, obwohl er in London geboren wurde, als Sohn eines indischen IBM-Angestellten und einer Deutschen. Die Familie zog nach Düsseldorf und schließlich in den Vorort Böblingen bei Stuttgart. Dort war Sehgal umgeben von asphaltierten Straßen und Betonbauten, die er als Jugendlicher für sich entdeckte: Er fuhr viel Skateboard. Seit rund 17 Jahren wohnt er in Berlin, reist aber oft nach London.
Auf der Straße sagt er, dass es schade sei, dass er hier nicht mehr Skateboard fahren könne wegen des Kopfsteinpflasters. Und selbst wenn es eine Bahn gebe, wie das sogenannte Gipsdreieck ganz in der Nähe, sei daneben ein Kiesplatz mit kleinen Steinen. “So etwas denken sich Leute am Computer aus”, sagt er, “und irgendein Bürokrat segnet es ab.” Das Skateboard aber war für ihn mehr als nur Fortbewegungsmittel, es war eine Möglichkeit, sich einen Ort anders zu erschließen, als von Stadtplanern und Architekten vorgesehen. Doch weil er eben Tino Sehgal ist, sagt er es so, dass es auch auf seine Kunst in Museen passen könnte: “Es gibt die Macht desjenigen, die im Setzen von Strukturen liegt, und die Macht desjenigen, der sie benutzt, etwas damit anstellt.” Dieses Umwandeln von Kassierern in Künstler, von Kindern in Zombie-Museumsführer, das habe schon etwas damit zu tun. “Aber es ist tiefer, glaub ich.”
Dazu gehört beispielsweise auch, dass seine Kunstwerke nicht nach den Öffnungszeiten der Museen aufhören, wenn die Darsteller nach Hause gegangen sind. Sondern sie dehnen sich auch auf den Verkauf der Werke aus. Seine Bedingung, ein Werk von ihm zu erwerben, ist, dass es keine Dokumente geben darf. Alles wird mündlich verhandelt. Das Museum zahlt im Grunde mehrere Zehntausend Euro für ein Gespräch mit ihm, im Beisein eines Notars, der nichts notieren darf. Klar ist er damit ein Sonderling in einer Gesellschaft, die Unterschriften auf gestrichelten Linien will, um zu funktionieren.
Wieder bleiben wir vor einem Geschäft stehen. Dieses Mal ist es ein Laden, der “Schokoladen und Torten” heißt. Doch Tino Sehgal mag das Geschäft nicht nur wegen der feinen Pralinen, sondern weil er von dem Inhaber erzählen will. Der nämlich ist auch einer, der etwas Radikales getan hat. Er habe seinen Job bei einem großen Schweizer Lebensmittelhersteller aufgegeben und sich vor vier Jahren einen Traum erfüllt: ein kleines Geschäft in Berlin. Von ganz groß auf ganz klein. Verzicht gefällt Sehgal.
Kein Wunder, dass er mit solchen Lebensentscheidungen viel anfangen kann. Er sagt: “Ich produziere nicht so viel, und ich will auch nicht so viel produzieren.” Er selbst lebt bescheiden seit mehr als zehn Jahren in der gleichen Wohnung in Mitte. Zu Hause mag er nur wenige Objekte um sich haben, und seine Zeit verbringt er mit Freunden, seiner Familie und eben damit, Situationen in Museen zu konstruieren. Das Produzieren einer solchen Arbeit sei aufwendig, sagt er, könne mehr als vier Jahre dauern. Berlin spiele dabei auch für ihn eine Rolle, weil er sich Städte wie New York und London nicht leisten will. Ansonsten mag er hier die Überraschungen, wie jene neulich in dem Berliner Ortsteil Alt-Mariendorf, als auf einmal eine italienische Großfamilie in einer Halle im Industrieviertel Pasta Vongole verkaufte. “Das war wie eine andere Welt.”
Wir haben nun den Koppenplatz in Berlin-Mitte erreicht. Hier hat er oft gesessen und “This Variation” mit seinem Freund und Mentor, dem Choreografen Xavier Le Roy, besprochen. Er mag den Platz, auch weil er von hier aus das Kunstwerk des Kubaners Felix Gonzalez-Torres gut sehen kann, an einer Hauswand an der Linienstraße. Sehr groß steht dort Weiß auf Schwarz: “Es ist nur eine Frage der Zeit.” Gonzales-Torres wollte damit andeuten, dass Deutsche wieder auf Minderheiten aggressiv reagieren werden. Das Werk ist 20 Jahre alt, der Künstler an Aids gestorben. Von ihm hat Sehgal einmal eine Ausstellung in Frankfurt kuratiert.
Er mag Gonzalez-Torres und erzählt von einem weiteren Werk des Künstlers, einem Haufen Bonbons, der mitten im Museum aufgeschüttet wird. “Wenn jemand ein Bonbon will, kann er sich eines nehmen.” Auch das finde er interessant, dass der Zuschauer direkt aufgefordert ist, sich zu einem Kunstwerk nicht nur gedanklich zu positionieren, sondern eben auch in seiner Handlung. Nehmen oder liegen lassen? Oder einfach nur Kopfschütteln? Das ist eine Gemeinsamkeit zu “This Variation”, dem dunklen Raum in Kassel. Beide Werke erreichen Menschen aller Altersklassen und Herkünfte. Wenn es funktioniert, geht es in den Kopf und bleibt da eine Weile.
Am Ende des Spaziergangs schreibt Tino Sehgal ein Wort auf meinen Schreibblock, über das ich wieder nachdenken muss: der Gang zum Kindergarten und zum Koppenplatz, der Besuch beim Uhren- und beim Tortenladen, das Reden über Zeit und Einkommen, das ständige Haar-Bändigen. Normalerweise hinterlässt Tino Sehgal ja keine Spuren. Heute bleiben Fotos, zwei Stunden auf dem Diktiergerät und eben dieses Wort auf einem Zettel in seiner Schrift: “Aufführung”. Kaufen kann ich mir davon nichts. Aber warum sollte ich?
Erschienen in der Berliner Morgenpost, 13.1.2013