Berlin – Julia R. wollte diese Geschichte eigentlich nicht auf dieser Seite sehen. Einerseits ist das viel zu groß: eine ganze Seite für ein Ereignis, das nach 24 Stunden wieder vorbei war, das im Grunde doch gut ausging, sie will sich nicht so wichtig machen. Andererseits ist eine Seite in einer Zeitung auch viel zu klein, weil dieser Moment so viel ausgelöst hat bei ihr, bei ihrer Familie, dass das gar nicht ausreicht, um zu beschreiben, wie weit es für sie ging und im Grunde bis heute geht.
Vielleicht ist „Brutal Berlin“ auch nicht die richtige Rubrik für diesen Text oder Weihnachten nicht der richtige Moment, um sie zu erzählen. Vielleicht passt es aber auch perfekt. Was ihr auf jeden Fall am Wichtigsten ist: Wenn diese Geschichte an Weihnachten erzählt wird, dann nicht als Partygag oder als Dinnertable-Smalltalk. Sie möchte, dass Ärzte sie lesen und Krankenschwestern, die mit jungen Müttern zu tun haben. Sie möchte vor allem, dass das, was ihr passiert ist, nie wieder jemandem passiert.
Nur zur Entbindung ins Krankenhaus
Sie selbst beginnt die Erzählung mit dem Moment, in dem alles gut war, kurz nach der Geburt, als sie ihr Baby stillt. „Es war ja mein erstes Kind und ich habe mich so aufs Stillen gefreut“, sagt sie. Noch dazu wird in Frauenzeitschriften und Babybüchern über das Stillen so viel erzählt, dass junge Mütter ganz nervös werden, ob es wirklich klappt. Dann sagt sie: „Noch während mein Kind trank, legte meine Hebamme dem Baby das Bändchen um das Ärmchen.“ Normalerweise mache sie das nicht bei ambulanten Geburten, aber die Hebamme wird später sagen: Sie habe so ein Gefühl gehabt.
Julia R. wollte eigentlich nur zur Entbindung im Krankenhaus sein, danach gleich nach Hause. Die extra gekaufte Babyschale stand bereit. Doch weil sie kurz nach der Geburt einen Schwächeanfall hatte, entschieden sich die Ärzte, sie über Nacht in der Klinik zu behalten. Als hätte sie das vorausgesehen, hatte sie sich dieses Berliner Krankenhaus im Nordosten der Stadt ausgesucht. Sie wollte nämlich unbedingt eines, bei dem „Rooming-in“ möglich war.
Rooming-in, das war damals noch nicht in allen Krankenhäusern Standard. Anfang der 2000er galt die Vorstellung, die Mutter würde besser schlafen, wenn das Kind in einem anderen Raum von „Profis“ bewacht werde. Inzwischen haben wissenschaftliche Studien belegt, dass Mütter besser schlafen, wenn das Kind im gleichen Zimmer liegt. Mütter achten nach der Geburt instinktiv auf jedes Geräusch und schlafen unruhig, wenn sie nicht ihr Kind, das neun Monate in ihrem Bauch war, spüren. Heute ist Rooming-in fast überall Standard.
Als Julia R. nach einem Erschöpfungsschlaf aufwachte, sah sie trotzdem, wie eine Krankenschwester das Kind im Bettchen aus ihrem Zimmer schob. Die ältere Kollegin sagte so etwas wie: „So, da haben Sie Ihre Ruhe. Noch einmal schön eine Nacht durchschlafen.“ Sie habe noch gerufen, dass sie ihr Baby lieber hierbehalten wolle, aber das habe die Schwester nicht gehört.
Das Kind, das am nächsten Morgen in den Raum geschoben wurde, erkannte sie jedoch nicht wieder. „Ich schaute das Kind an und dachte: Das sieht doch total anders aus. Als ich die Nachtschwester darauf ansprach, sagte sie in dem gleichen Ton wie am Abend: ‚Ach, die sind nach der Geburt so verknittert, dann erkennen die eigenen Eltern ihr Kind nicht wieder.‘“
Kind wollte nicht gestillt werden
Als dann der Vater kam und er das gleiche Gefühl hatte, konnte er sich sogar an ein Detail erinnern: „Sein Ohr hatte doch gestern Abend so einen Knick.“ Die Mutter wusste genau, was er meinte. Andere in der Familie haben den gleichen Knick im Ohr. Die Schwester nur kühl: „Die Ohren verändern sich, wenn sie durchblutet werden.“
Dann fiel dem Paar das Bändchen ein. Sie sagten der Schwester, dass dieses Kind ein kleines Bändchen hatte. Damals waren sie noch hellblau für Jungen und rosa für Mädchen. Sie suchten zu dritt das Bettchen nach dem Bändchen und fanden nichts. Die Schwester sagte: „Dann ist es eben weg.“ Und das war’s dann. Sie nahmen das Kind mit nach Hause.
Wenn Julia R. von diesem Tag erzählt, der darauf folgte, gehen die Zeiten ineinander. Mal fühlt er sich ganz lang an, manchmal nur ganz kurz. „Aber auf jeden Fall war es die Hölle“, sagt sie. Sie habe die ganze Zeit versucht, ein Kind zu beruhigen, das immer aufgeregter wurde. Sie wiederum konnte mit dem Kind nicht viel anfangen, fühlte eine Fremdheit, ein Unbehagen aufsteigen und merkte gleichzeitig, wie dieses Gefühl sie zu einer schlechten Mutter machte. Biologie und Erwartungen. Liebe und Glück und Angst und Abneigung. Ihr Freund versuchte, beide zu beruhigen, es gelang ihm immer schlechter.
Auch das Kind wollte sich nicht auf die Eltern einlassen. Es war unruhig und es wollte nicht gestillt werden, obwohl es danach verlangte. Am Abend hörte sie das Telefon klingeln, ging aber nicht an den Hörer. Damals gab es noch Festnetztelefone, bei denen der Anrufbeantworter laut sich selbst anstellt. Dann hörte die junge Mutter die Stimme der Hebamme: „Da ist etwas passiert im Krankenhaus, ihr müsst noch mal hin. Und bringt das Baby mit!“ Sie rief sofort zurück, und erst, als sie immer wieder nachfragte, sagte die Hebamme: „Sie haben dir wahrscheinlich das falsche Kind mit nach Hause gegeben.“
Es passiert in Deutschland selten, dass Kinder vertauscht werden. Im Jahr 2008 hat die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe eine Untersuchung bei 481 Kliniken durchgeführt. Demnach habe es in dem Jahr zwölf Verwechslungen gegeben, die jedoch alle noch im Krankenhaus behoben wurden. Im Saarland wurde eine Verwechslung erst nach sechs Monaten erkannt. Und in den USA kam es kürzlich zu einer vertauschten Verteilung der Embryonen, sodass zwei Mütter die Kinder eines jeweils anderen Paares austrugen – und sich anschließend ebenfalls für den Tausch entschieden.
Doch wenig ist bekannt, was in diesen Fällen mit den Müttern und Vätern passiert, die eine Zeit lang versuchten, ihren Instinkten und Gerüchen willentlich zu misstrauen. Julia R. sagt heute, dass dieser Tag lange nachgewirkt habe, er hat überschattet, wie sie die Geburt ihres zweiten Kindes erlebt hat, und sie hat sich viele Jahre Vorwürfe gemacht. „Schließlich habe ich ja zugelassen“, sagt sie, „dass mein Kind für einen Tag nicht bei mir war.“ Dass das allerdings niemals ihre Schuld war, für diese Erkenntnis hat sie Jahre gebraucht.
Sie brachte das Kind jedenfalls noch am Abend zurück in die Klinik. Der Arzt sah sie im Vorraum sitzen. Es war der Arzt, der bei der Geburt dabei war. Er versuchte ein Lächeln: „Jetzt schauen Sie doch nicht wie Häufchen Elend“, sagte er, „ist doch noch mal alles gut gegangen.“ Der Leiter der Klinik schickte ihr später eine Kiste Wein, um sich zu entschuldigen für die Umstände.
„Sind Sie die andere Mutter?“
Und das ist etwas, was sie noch immer wütend macht, auch 18 Jahre nach dem Ereignis: Dieses Unverständnis eines Gynäkologen und einer Krankenschwester ihrem Bedürfnis gegenüber. Warum schickt irgendjemand einer stillenden Mutter Alkohol? Und warum stand die Schwester nicht sofort am Klinikeingang und gab ihr das Kind? Warum musste sie überhaupt noch in einem Raum warten?
Während sie dort saß, kam eine andere Frau im Kliniknachthemd herein. Sie fragte ganz leise: „Sind Sie die andere Mutter?“ Sie hatte nach einem Kaiserschnitt unter Vollnarkose nur geschlafen, sie hatte gar nicht mitbekommen, was passiert war. Sie sagte, ihr Mann habe das Bändchen bei dem anderen Kind gesehen und daran die Verwechslung erkannt.
Direkt danach wurde Julia R. in einen anderen Raum geführt. Dort sah sie ihr Kind, davor die Krankenschwester, die sofort meinte, man müsse sich noch gedulden. „Die Blutuntersuchungen, wir wollen ganz sicher gehen.“ Julia R. wunderte sich, dass auch von ihr noch keine Entschuldigung kam, das sie nicht merken wollte, was sie alle angerichtet hatten. Auch: dass sie nicht sofort ihr das Kind gab. Sie sagte zur Schwester: „Die Blutuntersuchungen brauchen wir nicht. Ich sehe, dass dies hier mein Kind ist und ich möchte es jetzt gern halten!“ Sie habe es an diesem Abend nicht mehr losgelassen. Dann, erzählt sie, saß sie in einem Wartezimmer unter Neonlicht, mitten in der Nacht, und stillte ihren Sohn.