Wie Kafka auf LSD: Tori Amos bekennt sich in Berlin zu ihrer großen Liebe

Tori Amos (Foto: Sören Kittel)

Beim dritten Lied gerät Tori Amos zum ersten Mal in Trance, sie sitzt an ihrem Flügel, wirft wie beim Heavy Metal ihre roten Haare vor und zurück und singt eine kurze Textpassage in Dauerschleife, bis auch die 3000 Zuhörer ihr in die Trance folgen. Beim Lied „Crucify“ ist es die Textzeile „Never going back“. Immer wieder ruft sie also: „Niemals zurückgehen, niemals zurückgehen …“ Und beim 20. Mal wird allen klar, dass sie abgeschlossen hat und auch wir Zuschauer und auch Sie als Leserin oder Leser abschließen sollten mit dem 90er-Jahre-Bild von Tori Amos. Die Frau, die hier vor uns sitzt, die hat ganz andere Dinge vor.

Tori Amos bildete zusammen mit PJ Harvey und Björk das Indie-Triumvirat vor rund 30 Jahren. Ihr Debut „Little Earthquakes“ haben Musiker wie Taylor Swift und Justin Timberlake als Inspiration für ihre Karriere angegeben. Und auch die Alben, die danach folgten, gaben Generationen ein unlösbares Puzzle an Texten und Referenzen, die wohl nie entschlüsselt werden. Selbst der Text ihres bekanntesten Hits „Cornflake Girl“ liest sich wie Kafka auf LSD: „Ich war nie ein Cornflake-Mädchen, dachte, es wäre eine gute Idee mit den Rosinen-Mädchen abzuhängen.“ What?

Doch als Eröffnung für ihren Abend hat Tori Amos ein anderes Stück gewählt, schließlich wird am Ostermontag in den Kirchen der Sieg des Lebens über den Tod gefeiert. Und so betritt sie die Bühne in einem schwarz-weiß gescheckten Hosenanzug/Kleid/Priestergewand und violetten Pumps. Im Hintergrund grooved schon ihr früher Hit „God“ von ihrem zweiten Album „Under the Pink“. Immer wieder fragt sie den Dreifaltigen: „Brauchst du eine Frau, die sich um dich kümmert?“ Immerhin, „seine Gänseblümchen“ seien ja ganz hübsch gelungen.

Was für ein grandioser Einstieg in das Œuvre der 59-jährigen Sängerin, nicht nur an Ostern, sondern überhaupt. Laut Gerüchten sollte sie bei ihrer Europa-Tour sehr viele Lieder ihres aktuellen Albums spielen. Doch dieser Start macht allen klar, dass auch dieser Abend eine Reise durch ihre 16 Alben sein wird. „Wir werden einige Überraschungen erleben“, sagt Tori Amos, „schließlich ist das hier das Tempodrom, und dieses Haus macht etwas mit mir.“ Wörtlich sagt sie: „Ich liebe, liebe, liebe, liebe, liebe, liebe, liebe diesen Ort so sehr.“ Und verbeugt sich wie immer bis zum Boden vor ihrem Publikum.

Doch leider werden diese Worte die einzigen sein, die sie mit dem Publikum direkt austauscht. Wer Aufnahmen ihrer US-Konzerte gehört hat, weiß, wie sie zur Geschichtenerzählerin werden kann, wie sie über ihre Lieder spricht, als wären sie alte Freundinnen (Pronomen she/her) von ihr. Warum bestimmte Lieder an einem Abend nicht „zu ihr kommen wollen“ und andere Lieder sich quasi aufdrängen: „Spiel mich, Tori, ruft sie mir zu.“ Doch in Berlin ist diese Welt der versponnenen Dialoge mit ihrer Setliste verschlossen. Man könnte auch sagen: Sie spielt einfach ihr Programm herunter.

Aber das wiederum wird dem nicht gerecht, was geboten wird: Das Publikum im ausverkauften Tempodrom erkennt meist frühzeitig, welchen Song sie gerade anspielt, und jubelt, sobald klar ist, welcher Song jetzt kommt. Dabei sind darunter keine Hits wie „Winter“, „Caught a Light Sneeze“ oder „A Sorta Fairytale“. Sie hat unbekanntere Lieder mitgebracht, die aber auf der Bühne zu echten Juwelen werden: „Climb“ von „Native Invader“, „Body & Soul“ vom Album „American Doll Posse“ und „Spring Haze“ von „To Venus and Back“.

Besonders letzteres Stück weitet sie auf eine ganze Jamsession aus mit ihren beiden Musikern an Bass und Schlagzeug. Die Bühnenshow ist dabei zurückhaltend, aber gleichzeitig effektvoll: Im Laufe des Abends wird allein durch Lichter die Bühne in Höllenfarben erscheinen, zur Unterwasserwelt werden oder sich in ein Eisgefängnis verwandeln. Für „Pandora’s Aquarium“ wird der Raum in dunkles Blau-Grün getaucht, und „Doughnut Song“ singt sie vor einem mächtigen Sternenhimmel.

Höhepunkt des Abends ist sicherlich zum einen das leise Cover „Easter Parade“ von Irving Berlin, das sie wohl extra für Ostern spielt – und schließlich ihre Variation von „Icicle“, die fast wie ein komplett neuer Song erscheint, dem man die mehr als 30 Jahre nicht anmerkt. Die Lichter bilden große Säulen, die am Ende aufbrechen und Richtung Publikum scheinen, es miteinbeziehen, während Tori Amos auf der Bühne die Hände von den Tasten nimmt, auf ihr Herz zeigt und singt: „Feel the word.“ Dann ist sie wieder in Trance und wiederholt mindestens 20-mal: „Fühl das Wort, fühl das Wort, fühl das Wort …“

Erst fast am Ende spielt Tori Amos ihren Hit „Cornflake Girl“, und rund die Hälfte des Saals singt textsicher mit beim Lied über die „Rosinen-Mädchen“. Die ersten Fans wollen schon zur Bühne stürmen, doch die Platzanweiser halten sie zurück. Das soll erst bei der Zugabe erlaubt sein, die sich direkt anschließt. Tori Amos wird den Depeche-Mode-Hit „Personal Jesus“ spielen und zum Abschluss „Take to the Sky“. Es ist ein Lied darüber, dass man denen nicht zuhören sollte, die einem immer wieder sagen, dass ein Weg nicht der richtige sei. Tori Amos, die Frau, die mit nur einem Flügel um die ganze Welt fliegen kann, weiß davon viel zu erzählen.