In der Mitte des Konzerts will Henning May wissen, wie alt das Berliner Publikum ist. Der 1992 geborene Frontsänger der Band AnnenMayKantereitbittet alle nach 1995 Geborenen laut zu rufen. Direkt danach die vor 1995 Geborenen. Henning May sagt nach diesem Test: „Dann ist es ja gleichmäßig verteilt.“ In der ausverkauften Parkbühne Wuhlheide sind einige im Publikum daraufhin verwundert, die eindeutig mehr Ältere gehört haben.
Interessanter wäre wohl die Frage gewesen, ob mehr Frauen oder Männer anwesend waren. Diese Frage wäre zumindest am Freitagabend, dem ersten von zwei Konzerten, eindeutig für die Frauen entschieden worden. Dabei ist die Musik von Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit so etwas wie die jüngere, verträumtere und vielleicht etwas vernünftigere Version des deutschen Folk-Rock-Pop: leicht eingängige Texte, die oft, aber nicht nur von vergangenen Beziehungen handeln.
Einer ihrer ersten Hits, „Pocahontas“, ist solch ein Lied. Es war auf dem Album „Alles Nix Konkretes“, das bei ihrem Berliner Label erschien und sie plötzlich bekannt machte. „Es tut mir leid, Pocahontas“, singt Henning May, „ich hoffe, du weißt das.“ Normalerweise würden sie das Lied weiter hinten im Set singen, sagt May, aber in Berlin wollte er es früher singen. Es endet mit: „Ich halt dich nicht fest, aber ich lass dich nicht los.“
So ungefähr lässt sich auch die Beziehung der Kölner Band zu Berlin beschreiben. So richtig warm geworden sind sie nie, die Spree ist nicht der Rhein und überhaupt, so sagt Henning May in einer Pause: „In Berlin essen sogar die Tauben Döner.“ Dann lobt er die Ambivalenz der Stadt und sagt zum Publikum: „Und es gibt Euch, wegen Euch ziehen wir nach Berlin, wegen Euch sind wir jetzt hier, Danke, Berlin, Du treue Seele.“
Die Parkbühne in der Wuhlheide ist für sie auch ein Schritt zurück zu ihren Anfängen. Viermal haben sie hier schon gespielt, das erste und zweite Mal noch im Jahr 2014 als Vorband für die Berliner Band Beatsteaks. Das war lange vor „Pocahontas“, aber nach ihrem wohl bekanntesten Lied, das Henning May 2013 geschrieben hat: „Oft gefragt“. Die Bühne strahlt bei diesem Song wie ein einziger Feuerball, und die ganze Wuhlheide singt: „Zuhause – bist immer nur Du.“
AnnenMayKantereit haben für ihre eineinhalbstündige Show die großen Hits mitgebracht: „Es ist Abend“ (klingt wie DER Berlin-Song), „3 Tage am Meer“ (beste Usedom-Stimmung), „Ozean“ (May: „Und jetzt bitte alle kuscheln“). Überhaupt gibt der Leadsänger zwischen den Liedern immer wieder Anweisungen, wie sich das Publikum am besten verhalten soll: knutschen, kuscheln, tanzen wie früher. „Und vor allem zwischen dem Kindl und dem Sekt nicht das Wasser vergessen.“ Da ist es wieder, das vernünftige Element dieser braven Boyband mit sensationellem Charisma.
Nicht alle Texte ergeben Sinn, auch dann nicht, wenn sie mehrfach mit einer sehr tiefen Stimme gehaucht werden: „Die Vögel scheißen vom Himmel und ich schau ihnen dabei zu.“ Ist das schon Medienkritik oder einfach ein schöner Sommersong über (mal wieder) eine verflossene Freundin, diesmal eben „Marie“?