Als sich Katrin S.* auf den Stuhl in der Mitte des Raumes gesetzt hat, erinnert sie die Richterin daran, dass sie vor Gericht die Wahrheit sagen müsse. „Sie dürfen sich nichts ausdenken“, sagt sie. Wenn Katrin S. etwas nicht mehr richtig wisse, solle sie das lieber zugeben. Als Richterin sage sie das zu jedem Zeugen, nicht nur zu ihr. „Jeder hat seine eigene Version der Geschichte.“
Katrin S. nickt, hinter ihr im Saal 807 des Landgerichts Berlin sitzt ihr Vater, der aus dem Ruhrgebiet mit angereist ist. Er wird ihr manchmal links und rechts von hinten die Arme streicheln. Dann stellt die Richterin die erste Frage: „Wie hat sich seit Ihrer Vernehmung durch das Amtsgericht Ihr Leben entwickelt?“
Katrin S. beginnt zu erzählen: „Ich würde sagen, die Sache hat mich mein Abiturgekostet. Ich konnte lange nicht schlafen, meine Mutter musste mit mir wach bleiben.“ Sie erzählt von Angstattacken, von Monaten, in denen sie das Haus der Eltern nicht verlassen habe, und von Problemen, Menschen zu vertrauen, die sie neu kennenlernte. „Das ging bestimmt eineinhalb Jahre so“, sagt sie. Dann habe sie eine Therapie gemacht und sei für ein Jahr in die USA gezogen. Als sie danach zurückkam, sei vieles leichter gewesen. Jetzt lebt sie mit ihrem Freund zusammen. „Nur bei bestimmten Gerüchen oder Berührungen kommt noch einmal alles hoch.“
Was Katrin S. hier „die Sache“ und „alles“ nennt, ist das, was ihr in der Nacht vom 11. auf den 12. September 2020 passierte. Sie verließ gegen ein Uhr morgens ein Hotel am Alexanderplatz in Richtung Spandau mit einem Freund. Als sie zurückkam, brach sie noch im Türrahmen des Hotelzimmers zusammen und rief: „Ich bin vergewaltigt worden!“ Das bestätigen alle drei Freunde, die ebenfalls vor Gericht ausgesagt haben. Sie setzten sich auf das Bett, Katrin S. ließ sich trösten und fasste den Entschluss, zur Polizei zu gehen.
Schon allein das macht ihren Fall besonders, denn laut Statistiken des Opferverbands Weißer Ring wird nur jede 15. Vergewaltigung bei der Polizei angezeigt. Zu groß ist bei vielen Frauen die Scham vor genau der Prozedur, der sich Katrin S. schon damals in Berlin unterziehen musste: eine ärztliche Untersuchung, eine Befragung durch Polizistinnen noch am Tag der Tat, eine weitere Befragung durch die Berliner Justiz Monate später. Und eben dieses Verfahren, das mehrere Wochen dauern und viele Erinnerungen zurückbringen wird. Die Frage, die auch über diesem Verfahren steht, ist: Lohnt sich der Aufwand? Wird das Verfahren ihr Leben danach leichter machen?
Es gibt Fakten, die im Laufe des Prozesses unstrittig sind. Dazu gehört, wie alles begann: Vier Kölner Freunde, zwei Jungen, zwei Mädchen, waren zu Besuch in Berlin, sie teilten sich ein Hotelzimmer am Alexanderplatz. Am Freitagabend saßen sie am Brunnen auf dem Platz und lernten die beiden Angeklagten kennen: Mohammed A. und Imra K., die sich als Maurice und Deniz vorstellten.
Katrin und ihr Kumpel Kiki folgten der Einladung der beiden Männer zu einer Party in einer Russenkaserne im Umland von Berlin. Sie verabredeten sich am Bahnhof Spandau, wo die beiden Männer mit einem Motorrad und einem Sportwagen auftauchten. Kiki stieg bei Imra K. ein, Katrin stieg aufs Motorrad von Mohammed A.
Diesen Teil bestätigen alle, die inzwischen ausgesagt haben, auch die mutmaßlichen Täter. Das Gericht holt selbst einen Veranstalter von illegalen Raves zur Corona-Zeit in den Zeugenstand. Er bestätigt, dass es diese Party gab, kann aber sonst nichts zu dem Fall beitragen. Die Angeklagten und die Geschädigte habe er nie gesehen. Das Gericht lädt einen weiteren Partygast, er muss sogar mithilfe der Polizei geholt werden, weil er „privat gerade viel Stress“ habe, sagt er. Auch er kann nichts zum Fall beitragen, kann sich nicht daran erinnern, die beiden Männer an jenem Abend gesehen zu haben. Er sagt: „Ich hatte zu der Zeit ein Drogenproblem.“
Was dann in jener Nacht passierte, ist umstritten. Es gibt die Version von Katrin S. und die Version, die die beiden Angeklagten für das Gericht vorbereitet haben. Imra K., 30, untersetzt und meist im weißen Hemd, lässt sein Schreiben von seiner Anwältin vorlesen. Er reibt sich mehrfach die Augen. Mit jedem Termin wirkt es, als ob er mehr in seinem Stuhl versinke. Mohammed A., 29, schlank, erscheint immer in Anzug, mit Laptop, grinst gern siegessicher ins Publikum, scherzt mit seinem Anwalt auch während der Verlesung der Anklage.
Wieviel Zeit vergangen ist, zeigen die Lebensläufe aller Beteiligten: Kiki lebte 2020 noch als schwuler Mann und tritt im Februar 2024 als Frau mit langen Haaren und Handtasche in den Gerichtssaal. Das führt dazu, dass selbst die Angeklagten in ihrer Aussage zum Tathergang von „den Damen“ sprechen. Der Angeklagte Imra K. sagt, er habe inzwischen eine Freundin, sei arbeitslos. Mohammed A. sagt, er habe mittlerweile geheiratet.
Interessant auch, dass die Beteiligten auf beiden Seiten inzwischen nichts mehr miteinander zu tun haben. Die Angeklagten sind keine Freunde mehr, Katrin hat sich von allen Freunden zurückgezogen. Eine Freundin von damals sagt vor Gericht, sie wolle Katrin nicht erneut an die Nacht erinnern und habe sich deshalb selten gemeldet.
Doch was genau ist in der Nacht passiert? Laut Anklage habe Mohammed A. die junge Frau an der Autobahnauffahrt zum Oralsex gezwungen. Imra K. habe Kiki unter einem Vorwand am Straßenrand irgendwo in Spandau abgesetzt und sei dann ebenfalls zu der Auffahrt gekommen. Er fragte ebenfalls nach Oralsex, Katrin S. sagte nein. Er habe dann den beiden sein Auto zur Verfügung gestellt, damit sie weitermachen können, bis Mohammed zum Höhepunkt kam.
Katrin S. sagt, sie habe nur mitgemacht, weil sie Angst hatte. Sie war allein mit zwei Männern, ihr Mobiltelefon war bei Kiki. Sie dachte, sie treffen einander gleich wieder. Nur deshalb sei sie auch mit Imra anschließend weitergefahren zur Party in Brandenburg. Als sie dort ankamen, war der Rave schon vorbei. Doch bevor er sie zurückfährt, wollte Imra K., so ihr Vorwurf, dass sie ihn auch befriedigt. „Ich möchte das nicht“, habe sie gesagt, „aber ich habe mich nicht gewehrt.“ Er sagt, sie habe ihm das Kondom übergezogen, sie erinnert sich daran nicht. Er habe sie oral und vaginal vergewaltigt. Sie sagt, sie habe geweint. Er sagt, es habe ihr gefallen.
Nach Paragraf 177 des Strafgesetzbuches gilt es als eine Vergewaltigung, wenn jemand eine sexuelle Handlung gegen den Willen einer anderen Person vornimmt und in ihren Körper eindringt. Seit einer Neuregelung im Jahr 2017 gilt zudem der Grundsatz „Nein heißt nein“. Das Strafmaß für eine Vergewaltigung liegt zwischen 2 und 15 Jahren.
Schon in ihrer ersten Vernehmung sagt Katrin S., dass sie den Kuss von Mohammed A. erwidert habe. Sie sagt, er habe ihren Kopf „mit einiger Kraft“ nach unten gedrückt und seine Hose geöffnet. Er sagt, sie habe sofort seine Hose aufgemacht. Davon, dass es ihr unangenehm war, dass sie zitterte und weinte, will er nichts mitbekommen haben. Er sagt auch vor Gericht: „Sie war nicht mein Typ.“
Auch Imra K. sagt, er habe das Weinen der Frau nicht bemerkt. Sie habe gelacht auf dem Rückweg, nachdem er zum Höhepunkt gekommen sei. Laut Katrin S. soll er es gewesen sein, der lachte. Er habe sogar über seine Tat gewitzelt: „Warum soll etwas so Schönes verboten sein?“, soll er gerufen haben.
Immer wieder gibt es solche entblößenden Momente in dieser Verhandlung, etwa auch solche, in denen es um das „Ejakulat“ geht, das im Haar klebt, den „Grad der Erektion“ und die Länge der Schambehaarung. So ist das bei solchen Fällen, alle wollen alles ganz genau wissen.
Das Urteil soll frühestens Mitte April fallen. Es werden noch weitere Zeugen und Ärzte befragt, es werden Landkarten geprüft, die Richterin hat sich sogar den Tatort angeschaut, um zu sehen, wie gut die Stelle an der Autobahnauffahrt einzusehen ist. Laut Angaben der Männer seien dort immer wieder Autos vorbeigefahren und hätten den Oralsex sehen können. Vielleicht kommen noch Männer zu Wort, die Katrin S. auf dem Weg zur Party getroffen hatte. Sie sagt, sie habe die Fremden verzweifelt gebeten, ihren Freund Kiki anrufen zu können. Doch der ging nicht ran, war inzwischen schon auf dem Weg zurück ins Hotel, war sogar wütend auf Katrin S., weil er dachte, sie habe ihn sitzen lassen.
Fälle von Vergewaltigung sind oft so kompliziert, weil sich einzelne Aussagen komplett widersprechen. Das hat mit der Erinnerung zu tun, weil die nach einer solch langen Zeit nachlässt, aber nicht nur damit. Im Fall der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung vom Görlitzer Park – der unter anderem dazu führte, dass jetzt ein Zaun um den Park gebaut werden soll – hat die Geschädigte ihre Aussage zurückgezogen, der Prozess gilt als geplatzt.
Auch die öffentliche Wahrnehmung von Sexualdelikten hat sich gewandelt. Derzeit läuft in der ARD-Mediathek der isländische Film „Ich habe doch niemals ja gesagt“ und im ZDF die Ferdinand-von-Schirach-Verfilmung „Sie sagt, er sagt“. In beiden Filmen wird an der Aussage der Frau gezweifelt. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe hat eine europaweite Studie zurate gezogen und legt den Anteil an Falschbeschuldigungen in Fällen von Vergewaltigung in Deutschland bei drei Prozent fest. In den USA gibt es verschiedene Rechnungen zwischen zwei und acht Prozent. Falschbeschuldigungen sind also sehr selten.
Ein Problem im Fall von Katrin S. ist, dass in der Öffentlichkeit eine gewisse Unwucht schon dadurch hergestellt wird, dass am ersten Tag den Aussagen der beiden Männer sehr viel Platz eingeräumt wird. Wie üblich bei Prozessauftakt sind mehrere Journalisten anwesend, die sich ein Bild machen wollen und den glaubwürdig vorgetragenen Aussagen der Männer zuhören. Als beim zweiten Termin die Aussage der Frau auf Video vorgeführt wird, ist der Zuschauerraum fast leer. Auch am Tag ihrer Befragung Mitte März kommen kaum Medienvertreter, nur einige Praktikanten sitzen im Zuschauerraum, ungefähr im Alter der Geschädigten, Anfang 20.
Sie bekommen mit, wie Katrin S. von der Richterin und später auch von der Anwältin auf ihr Verhalten in den sozialen Medien angesprochen wird. Die Anwälte hatten Screenshots vorgelegt, auf denen sie Fragen beantwortet, die ihr anonym im Internet gestellt werden. Telonym heißt die App, die eine Zeit lang viele benutzt haben.
Frage: Gehst du oft fremd?
Katrin S.: Standard.
Frage: Bist du viel mit Jungs?
Katrin S.: Joa.
Frage: Möchtest du Pornos drehen?
Katrin S.: Klar, warum nicht.
Frage: Bist du drüber hinweg?
Katrin S.: Irgendwie schon.
Die Anwälte legen diese anonymen Äußerungen stolz vor, jedes Foto von Katrin S., auf dem sie lächelt, wird zum Beweismittel gegen ihre Geschichte. Ein Prozessbeobachter meint aber, dass solche Einlassungen oft nur wenig Einfluss auf das Urteil haben. Zu sehr werde inzwischen unterschieden zwischen der Person, die jemand online präsentiere, und dem realen Menschen.
Und dann ist da dieses TikTok-Video, das Katrin S. vor einigen Monaten ins Netz gestellt hat. Sie spricht dort die Stimme einer jungen Frau nach, die auf Englisch sagt: „Manchmal bin ich eine Lesbe, aber weißt du, was ich jeden Tag bin: eine verdammte Hure.“ Es wird fünfmal abgespielt, als die Geschädigte nicht anwesend ist. Als sie aussagen soll, liest ihr die Verteidigerin den Satz auf Deutsch vor, es ist wohl der unangenehmste Moment des Prozesses. Die Anwältin sagt: „Das widerspricht ja schon ein wenig Ihrer Aussage …“ Erst reagiert Katrin S. gefasst, sagt, das Video sei ein Spaß gewesen und habe nichts mit der Tat zu tun. Doch kurz darauf verlässt sie weinend den Saal, ihr Vater folgt ihr. Die Richterin ordnet eine Pause an.
Nur wenig beleuchtet wird der letzte Teil der Nacht, auch wenn er für Katrin S. nicht weniger traumatisch war. Imra K. brachte sie zu einer Tankstelle, von dort stieg sie wieder auf das Motorrad von Mohammed A. Er fuhr zu seiner Wohnung in Wedding, lud sie noch einmal ein, mitzukommen, „Spaß zu haben“. Sie erzählte ihm unter Tränen von der Vergewaltigung. Er sagte ihr, sie solle leiser reden, sonst würden die Nachbarn aufwachen. Und vor Gericht sagt er: „Ich glaubte ihr schon damals nicht.“
Dann fuhr er sie in Berlins Zentrum, wohin genau, ist noch offen. Katrin S. sagt, sie sei abgesetzt worden und noch durch die Stadt geirrt, bis sie im Hotel ankam. Ein fremder Mann habe ihr zehn Euro gegeben, weil sie so hilflos gewirkt habe. Ein Behindertentransport habe sie durch Zufall mitgenommen und zum Hotel gefahren. Mohammed A. sagt, er habe Katrin S. am Alexanderplatz abgesetzt.
Die Zahl der Sexualdelikte, die in Berlin zur Anzeige gebracht wurden, ging zuletzt zurück. Während der Pandemie-Jahre 2020 und 2021 war die Zahl auf mehr als 8000 angestiegen, im Jahr 2022 waren es 6782 Fälle, bis zum 21. September 2023 wurden 5712 Sexualstraftaten gezählt. Vergewaltigungen machen einen großen Teil der Anzeigen aus.
Am Ende ihrer Aussage wird Katrin S. gefragt, ob es ihr wichtig sei, dass die Angeklagten bestraft werden. Sie sagt: „Ich gewisser Weise ja.“ Es gehe ihr darum, andere vor solch einer Tat zu beschützen und klarzumachen, dass niemand so mit ihr umgehen dürfe. Das ist vielleicht die Antwort auf die Frage, ob sich das alles lohnt. Als sie den Raum verlässt, wirkt sie erleichtert. Einer ihrer letzten Sätze vor Gericht ist, dass sie nicht nur das Fachabitur nachgeholt habe, sondern auch den Führerschein. Sie sagt, sie möchte nie wieder auf andere Menschen angewiesen sein, um nach Hause zu fahren.