Irgendwann mitten an diesem etwas chaotischen Montagabend im Pfefferberg-Theater sagt Philipp Ruch einen Satz, der zunächst einmal nach einer Provokation klingt: „Es ist nicht interessant, was Sophie Scholl getan hat.“ Er meint damit, dass die eigentlichen Taten der Münchner Studentin, die mit ihrem Bruder Hans zu den bekanntesten Helden des Nazi-Widerstands zählt, zwar jetzt als so mutig gelten – aber sie haben eben damals nicht dazu geführt, dass sich etwas ändert. Ruch weiter: „Wir hätten uns auch in der Beurteilung der Zeit rund um die Machtergreifung eher auf die konzentrieren sollen, die mitgemacht haben.“
Genau darum geht es in seinem neuen Buch, das sich in weiten Teilen wie ein Weckruf liest, den der Titel schon andeutet: „Es ist 5 vor 1933: Was die AfD vorhat – und wie wir sie stoppen“. Es ist ein Plädoyer für ein Verbotsverfahren gegen eine Partei, die, Ruchs Argumentation folgend, den Rechtsstaat genauso zerstören wolle, wie es einst die NSDAP angekündigt und getan hat. „Nehmen Sie diese vulgären Dilettanten ernst“, fordert Ruch in seinem Buch und meint jene „unterirdische, proleten- und ekelhafte“ AfD, die er als „Alternative zum Grundgesetz“ bezeichnet. Das Buch ist eine Kampfansage.
Doch bei der Buchpräsentation im fast ausverkauften Pfefferberg-Theater braucht der Funke lange, bis er überspringt. Die Band Ausklang, laut eigener Aussage die Lieblingsband von Philipp Ruch, spielt freundliche Fahrstuhlmusik, die für den Anlass fast zu gut gelaunt klingt. Dann betritt André Schmitz die Bühne, langjähriger Berliner Kulturstaatssekretär und offenbar Fan von Philipp Ruch und allem, was der Philosoph, Journalist und Aktivist so in den letzten Jahren auf die Beine gestellt hat.
Ruch, Jahrgang 1981, wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt durch Aktionen, die er mit der Künstlergruppe Zentrum für Politische Schönheit organisiert hat. Im Jahr 2016 haben sie mit dem Projekt „Flüchtlinge Fressen“ einen Gladiatoren-Kampf mit Flüchtlingen vor dem Gorki-Theater inszeniert; im Jahr 2021 haben sie massenweise Flyer von der AfD bezahlen und produzieren lassen, aber diese nicht ausgeliefert. Am bekanntesten ist wohl noch immer ihre Aktion aus dem Jahr 2017, als sie ein kleines Holocaust-Mahnmal direkt in die thüringische Nachbarschaft von Björn Höcke gebaut haben.
In einem kleinen Film werden zur Buchpräsentation am Montagabend dann noch einmal Beispiele gezeigt, doch je länger das Vorprogramm an diesem Abend dauert, umso länger fragt man sich, wann es endlich um das Buch gehen wird, das doch hier im Mittelpunkt stehen sollte. Bevor Ruch selbst das Wort ergreift, dürften die beiden Publizisten Georg Diez und Lea Rosh ausführliche Vorträge halten. Die 88-Jährige hat das Parteiprogramm der AfD mitgebracht und zitiert fassungslos daraus: Waffenrecht erleichtern, Euro abschaffen, mehr Russland, weniger USA. Sie fragt: „Wie kann man so etwas wählen?“ Sie schließt mit: „Wir sind nicht Weimar, aber wir können viel daraus lernen.“
Erst rund 45 Minuten, nachdem die Veranstaltung begonnen hat, ergreift der Gastgeber das Wort, und es beginnt der „flammende“ Teil des Abends, der doch eigentlich die ganze Zeit hätte lodern sollen. Ruch ärgert sich darüber, dass so viele Informationen für alle zugänglich sind, aber nur bei ihm zum Handlungsimpuls führen. „Geschichte wählt immer den schlimmstmöglichen Ausgang“, sagt er und bringt als Beispiele die Wahl von Trump und den Beginn des Ukrainekriegs. „Die AfD will die gesamte politische Elite auslöschen“, sagt er und nennt die Zeit, in der wir jetzt leben „Vorkriegszeit“.
Das ist der etwas apokalyptische Ton, der auch das Buch durchzieht, aber der auch dessen Reiz ausmacht. „5 vor 1933“ lenkt den Fokus weg von der Zeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hin zu den Jahren davor. Ruch erklärt schlüssig, warum er die Abwehrpolitik der Weimarer Republik besser bewertet als die der heutigen Regierung. Mehr als 2000 Beweisstücke hat das Zentrum für Politische Schönheit zusammengetragen, um die Verfassungsfeindlichkeit der AfD nachzuweisen. Ruchs Meinung nach gehört die Partei längst verboten. Die Toleranz den Parteimitgliedern gegenüber hält er für verhängnisvoll. Er schreibt: „Sie werden sich dafür rächen, nicht ernst genommen worden zu sein.“
Die Diskussion an diesem Abend im Pfefferberg geht etwas schleppend voran. Georg Diez assoziiert frei zu Begriffen wie „Erotik des Faschismus“ und einem „allgemeinen Ohnmachtsgefühl“ und fordert etwas überraschend alle dazu auf, sich doch auch einmal die Jahre 1939 und 1935 anzuschauen. Lea Rosh erzählt noch einmal, wie sie es geschafft hat in fast zwei Jahrzehnten das Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins Wirklichkeit werden zu lassen. Sie dankt noch einmal ihrem Mann, der in der ersten Reihe sitzt. Er hätte sie immer wieder aufgebaut an schlimmen Tagen. Ein besonderer Moment an diesem Abend. „Viele gehen anders raus aus dem Mahnmal, als sie reingegangen sind“, sagt Lea Rosh.