Ulli Zelle läuft Marlene Dietrich hinterher. Die Filmdiva liegt in ihrem Sarg, der im Schritttempo vom Rathaus Schöneberg zum Friedhof gefahren wird. Ein großer Moment für Berlin – und Ulli Zelle, der Reporter, soll live von dem Trauerzug berichten für die “Abendschau”. Doch der Kameramann ist nirgendwo zu sehen. Der ist nämlich starker Raucher und verschnauft irgendwo oder raucht. Kurz darauf steht Ulli Zelle allein an Marlenes Grab und liest ihren Spruch: „Hier steh’ ich an den Marken meiner Tage.“ Kein Kameramann, keine Bilder, keine Liveschalte. Für einen Reporter wie Ulli Zelle ein Desaster.
Noch 32 Jahre später ärgert er sich darüber, dass da jemand seine Arbeit nicht so 100 Prozent ernst nimmt wie er selbst. „Das ist doch ein Moment in der Geschichte dieser Stadt und wir sind Teil davon, das ist doch wichtig!“ Er sitzt im Café Lentz am Stuttgarter Platz – und eigentlich soll es in diesem Gespräch einmal um ihn gehen, um sein Leben, aber schnell wird klar, dass er das nicht mag: Dieses Reden über sich wird ihm bis zum Ende unangenehm sein. Lieber redet er über andere Menschen und vor allem über seine Stadt: Berlin.
Für Zuschauer der RBB-„Abendschau“ ist Ulli Zelle so etwas wie ein täglicher Begleiter durch die Stadtgeschichte. Seit fast 40 Jahren ist er der bekannteste Außenreporter des Senders. Wenn irgendwo etwas passiert in Berlin, dann steht am Abend meist daneben der gebürtige Niedersachse und hält sein Mikrofon jemandem vors Gesicht. Er wirkt dann professionell unverbindlich und gleichzeitig fast altmodisch kumpelhaft.
Er hat den Reichstag mit verhüllt, den Palast der Republik mit abgerissen, das Sony Center mit eröffnet, das Tacheles mit untergehen sehen; immer im Februar hat er am roten Teppich geduldig die aufgeregten Berlinale-Stars auf dem Weg zu ihrer Premiere betreut, und jedes Jahr am 1. Mai ist er den fliegenden Flaschen mit ausgewichen.
Herr Zelle, würden Sie noch einmal Meryl Streep im Interview die Hände wärmen?
Wenn mich jemand fragt, dann ja, warum nicht? Sie hat mich darum gebeten, und vielleicht geht es auch, weil ich von Haus aus nicht so ein Macho-Testosteron-Typ bin. Ich bin schon immer ein Softie gewesen.
Mussten Sie sich verändern?
Ich passe mich irgendwie schon den Gepflogenheiten an. Also ich würde eben heute den einen oder anderen Witz nicht mehr in der Anwesenheit von Frauen machen.
Gendern Sie?
Sprache verändert sich, das war schon immer so. Manchmal ist es mir zu umständlich, aber ich habe kein Problem mit dem Gendern.
Hier im Lentz am Stuttgarter Platz ist es manchmal mühsam, ihn zu einer solchen Innenschau zu überreden. Viel interessanter ist doch, uns ein Lied vorzuspielen, das ihm gefällt, oder ein Foto zu zeigen, das er beim letzten Rolling-Stones-Konzert aufgenommen hat, oder dass gerade einem Fahrradfahrer zwei Meter entfernt etwas aus dem Korb gefallen ist. Ulli Zelle ruft: „Hey, Sie haben etwas verloren!“ Oder eine ihm bekannte Person läuft vorbei und Ulli Zelle ruft: „Sie kenn ich doch! Wie geht’s?“
Nun, mit 73 Jahren, hat er ein Buch geschrieben. Es heißt „Mein Berlin, mein Leben“ und wird in dieser Woche erscheinen. Im Buch nennt er Berlin ganz am Anfang „meine Vertraute“. Er schreibt: „Wir kennen uns. Und grüßen uns.“ Und trotzdem ist das Buch voller Zweifel, so als wäre es im Grunde nicht genug, bei all diesen historischen Momenten dabei gewesen zu sein. Im Buch gibt es drei Kollegen, die einen kurzen Text über ihn beigesteuert haben. Sie nennen ihn dort eine Reporterlegende. Ulli Zelle sagt, er habe die Texte noch nicht gelesen.
Die wohl wichtigste Nacht in der jüngeren Geschichte Berlins – den Fall der Mauer – hat Ulli Zelle so verbracht, dass ihn viele Hauptstadt-Reporter noch heute beneiden: Am 9. November 1989 hat er im Laufe des Abends von Süden nach Norden jeden Grenzübergang Berlins besucht. Am Ende war er dabei, als die Massen an der Bösebrücke aus dem Osten Berlins zum ersten Mal in den Westen stürmten. Am nächsten Morgen gab es die historische erste „Abendschau“ schon am frühen Morgen um 9 Uhr und dann jede weitere Stunde. Irgendjemand schrie: „Wahnsinn!“
Sein Buch ist eine Sammlung von all diesen Geschichten zwischen Kleingartensparten und großer Gala. Die meisten Kapitel darin sind kurz: zwei, drei oder vier Seiten. Es sind Anekdoten, die etwas über seine Arbeit erzählen; doch das Besondere sind auch im Buch jene Momente, in denen die Kamera nicht läuft. Einer dieser Momente war eben jener am Grab von Marlene. Andere sind seine vielen Besuche in Ost-Berlin.
Und so enthält das Buch auch immer wieder unaufgelöste Erzählungen, so als ob Zelle noch an einem Teil zwei arbeitet, in dem die Geschichten zu Ende erzählt werden. Da ist das „Mädchen aus Ost-Berlin“ – genau wie in Udo Lindenbergs berühmtem Lied hat auch Ulli Zelle kurz vor dem Mauerfall eine Frau im FDJ-Hemd kennengelernt. Er trank mit ihr im Milchhäuschen in Weißensee eine Berliner Weiße. Sie lebte in der Leninallee 300 oder etwas darüber. Er hat sie nie wieder gesehen.
Und da ist auch die Geschichte der Frau, die ihm vor ein paar Jahren das Leben gerettet hat, als er als Sänger seiner Band Ulli und die Grauen Zellen von der Bühne gefallen ist. Auch ihren Namen hat er nie erfahren. Er würde sich so gern bedanken.
Warum haben Sie sich so für den Osten der Stadt interessiert?
Ich wollte irgendwie die Linden sehen und den Palast der Republik und den Fernsehturm. Ich habe andere Westdeutsche nicht verstanden: Nach nur einer Stunde anstehen bist du schon in einer anderen Welt, die Seen sind nicht so voll wie der Wannsee und du kannst Bücher billiger kaufen.
An was erinnern Sie sich noch?
Der Fernsehturm war Preisstufe S, damals, da hat der Kaffee 1,70 Mark gekostet. Und der Zucker war steinhart und in Einwickelpapier mit den Motiven des Tierparks Berlin gewickelt.
Wo sehen Sie heute den Osten?
Ich rieche es manchmal, in Behörden oder Verwaltungen, so ein Desinfektionsmittel, das man damals im Osten verwendet hat. Wenn ich am Wannsee ein altes Boot ausleihe, dann riecht es manchmal auch nach Ost-Berlin.
Ulli Zelle ist in seiner Freizeit viel auf dem Wasser. Seit seinem letzten Bühnenunfall geht das Joggen nicht mehr so gut, er schwimmt nun mehr. Für all diese Dinge wird er bald mehr Zeit haben, denn im März 2025 soll Schluss sein, nach genau 40 Jahren „Abendschau“ – auch wenn er noch die Energie habe, um zehn Jahre weiterzuarbeiten.
Seine Mutter schrieb kurz vor ihrem Tod in ihr Tagebuch, ein Mensch, der nicht arbeitet, sei weniger wert. Er sieht das etwas entspannter und blickt mit großer Liebe im Buch zurück auf seine Eltern. Der Handwerker und die Sekretärin haben lange nicht verstanden, was der Sohn da in Berlin macht. „Ist Fernsehen überhaupt richtige Arbeit?“, fragten sie. „Sie konnten ja in Niedersachsen den SFB damals nicht empfangen“, sagt Ulli Zelle, „deshalb habe ich ihnen manchmal Videokassetten mitgebracht, damit sie verstehen, dass ich wirklich in Berlin einen ordentlichen Job habe.“ Er sagt, sie seien dann schon stolz auf ihn gewesen. Das war ihm auch wichtig. Wenn er in seinem Heimatort ist, bringt er ihnen immer Blumen ans Grab.
Ulli Zelle hat seine Kindheit in Niedersachsen als wirklich glücklich in Erinnerung, rannte mit Holzschwertern durch den Wald. Zur Welt gekommen ist er an einem „schönen Juni-Tag“ in einem Kloster-Krankenhaus in Obernkirchen. Genau auf diesem Gelände, mit Blick auf den gleichen Mühlenteich, verlebte später seine Mutter im Altersheim ihre letzten Tage.
Und da sind wir irgendwie wieder beim Tod gelandet, nicht bei Marlene oder Willy Brandt, aber bei den vielen anderen. Er mag ja diese Klischee-Sätze nicht, so etwas wie: „Die Einschläge kommen näher“, sagt er, „den Satz kriegen Sie von mir nicht.“ Aber der Tod von Otto Sander, sagt er, der habe ihn doch getroffen. „Das war einer der wenigen Berliner Promis, mit dem ich so etwas wie eine Freundschaft verbunden hatte. Wir trafen uns oft bei Veranstaltungen, und wenn es langweilig wurde, ging ich ins Foyer und da standen wir dann und tranken ein erstes Bier.“ Heute schafft er nie mehr als zwei Bier.
Ulli Zelle erzählt dann noch eine Geschichte von Otto Sander und Udo Walz, die er einmal in der Paris Bar erlebt hat. Beide hatten sich gestritten, wer von beiden berühmter ist, und weil sie sich nicht einig wurden, wollten sie es testen und fragten jeden, der an der Bar vorbeilief: „Kennen Sie mich?“ Sie strichen dann auf einem Bierdeckel ab, wer öfter erkannt wurde. Die Geschichte klingt gut, sie hat nur einen Haken: „Ich weiß nicht mehr, wer gewonnen hat.“
Vielleicht macht ihn das erst so sympathisch am Ende dieses langen Gesprächs im Lentz. Irgendwie ist es doch auch egal, wie beliebt jemand ist. Ein Reporter dieser Zeitung, der nun für den Spiegel schreibt, hat einmal in einem Porträt über Ulli Zelle geschrieben: „Andere in seinem Alter sind inzwischen Chefredakteure.“ Aber selbst als Zelle das damals las, dachte er, das wäre nichts für ihn gewesen. „Ich rede lieber mit echten Menschen, das ist doch ein toller Job“, sagt er, „diese Mischung von unterschiedlichsten sozialen Schichten, die in unserem Beruf zusammenzukommen.“ Er komme in beiden Welten ganz gut zurecht, ob Eigenheimbesitzer in Dahlem oder im Block C am Majakowskiring.
Ulli Zelles Internetseite beim RBB sieht aus, als sei sie lange nicht verändert worden. Sie zeigt ihn in zwei Situationen, die seine Arbeit ganz gut zusammenfassen: Das große Bild ist etwas unscharf, zeigt ihn beim Myfest am 1. Mai 2009 in Kreuzberg, inmitten von Feiernden, hinter ihm winken zwei Betrunkene in die Kamera.
Ein zweites kleines Bild im unteren Teil zeigt ihn auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, dem Abend des Terroranschlags. Er zeigt auf die vielen Notarztwagen hinter ihm. Er schaut ernst, nicht geschockt.
Zelle war an jenem Abend schon auf dem Heimweg und musste dann noch einmal zurück in Richtung Zoo. Er wusste damals nur, dass es einen Unfall gegeben hat. Das Ausmaß des Terroranschlags mit 13 Toten wurde ihm erst bewusst, als er am Tatort stand. Wieder war er zuerst ohne Kameramann vor Ort, der noch unterwegs war. Doch dieses Mal nahm er sein Handy und machte die ersten Liveschalten per Telefon. Er sagt, dass er in solchen Momenten in eine Art „Profi-Modus“ schalte.
Ist es schwer, in solchen Momenten ruhig zu bleiben?
In diesen Situationen mache ich zunächst einmal in Anführungsstrichen meinen Job und blende den Hintergrund aus. Natürlich lässt mich das nicht kalt, aber bei einer Liveschalte kommt es auf diese zweieinhalb, drei Minuten an. Geweint habe ich vor der Kamera nicht, aber ich kann auch weinen.
Wenn die Kamera aus ist?
Wir haben einmal ein Kind verloren. Das ist nun schon 20 Jahre her, aber ich gehe noch jeden Monat einmal zum Grab und weine auch immer noch bitterlich.
Haben Sie einen Namen für das Kind?
Einen Namen haben wir, ja. Stella, ein Mädchen. Es gibt immer noch den Grabstein, Gott sei Dank.
Auch die drei oder vier Ds werden nicht verhindern, dass sie im Alter einige Narben angesammelt haben werden, wie die meisten Menschen. Ulli Zelle hat mehrere, die erste, die ihm einfällt, ist die Narbe am Bauch. Er sagt: „Das war eine Blinddarm-OP, in dem Krankenhaus, wo meine Mutter auch später lag. Ich war drei Jahre alt und bekam danach einen Teddy.“ Den hat er heute noch.