Es macht wirklich Freude, den Ausführungen von Christopher von Deylen zuzuhören, wenn er Sätze baut, in denen jedes Komma, jeder Gedankenstrich hörbar ist, in denen ganz selbstverständlich Worte wie „Chimäre“ oder „Vignette“ vorkommen, Sätze, die lang sind und trotzdem am Ende immer einen Punkt haben. Und es gibt Fragen, die im Prinzip nur dazu da sind, noch einen von diesen verschnörkelten Sätzen aus ihm herauszufordern. Eine dieser Fragen, an einer Brücke mit Blick auf die Spree gestellt, lautet: Was sagen Sie zum Beispiel… zum Wasser?
Ohne den Hauch eines Zögerns sagt Christopher von Deylen in seiner nachdenklichsten Stimme: „Das, was unter der Wasseroberfläche ist, ist uns sehr fern, aber andererseits macht es einen Großteil der Welt aus; wir aber neigen dazu, das, was an Land geschieht, als tendenziell zu wichtig zu nehmen – auch in diesem Falle ist es nur ein Ausschnitt, den wir sehen, es schimmert, es glitzert, aber reingucken können wir nicht.“
Jetzt könnte man sagen, Christopher von Deylen hat einen Ruf zu verlieren. Schließlich tritt er seit 15 Jahren mit dem Namen „Schiller“ als sehr erfolgreiches elektronisches Musikprojekt auf. Sein achtes Album „Opus“ ist vor genau einem Monat erschienen und belegt aus dem Nichts plötzlich Platz 1 der Charts. Als „Schiller“ wird er vom (Achtung!) „Goethe“-Institut in die Welt eingeladen, tritt in Asien, den USA und vielen Städten Europas auf, seine Shows gelten als legendär, wegen der Lichtanlage, aber vor allem wegen der Stimmung, die er erzeugt. „Schiller“ hat er das Projekt genannt, weil er den Dichter so gut findet. Vor allem das Gedicht „Die Glocke“, passend dazu war sein erster und bis heute größter Hit „Das Glockenspiel“.
Jetzt aber steht dieser 43-jährige Mann an der Schillingbrücke und sieht aus wie eines seiner Lieder, selbstbewusst, zurückhaltend, in sich versunken. Er schaut auf das Wasser, dessen Lichtreflexe Muster auf sein Gesicht zeichnen. Bevor wir loslaufen, sagt er noch einmal zum Wasser und zu sich und zu allen: „Umso geheimnisvoller ist, was darunter verborgen ist.“
Man könnte ihn sich jetzt gut rauchend vorstellen, weil das so existenzialistisch ist, wenn der Mensch Dampf produziert, der Dinge aus der Erde in Luft verwandelt. Aber er sagt, er habe nie geraucht. Das heißt, er sagt wörtlich einen Satz mit zwei Genitiven: „Das Bedürfnis des Rauchens entzieht sich meines Erfahrungshorizontes.“ Beim zweiten Teil des Satzes, hätte Von Deylen auch den Dativ verwenden können („meinem Erfahrungshorizont“), aber der Genitiv klingt eleganter. Der Genitiv ist ein echter „Schiller“-Fall.
Wir laufen los, vorbei am Club „Magdalena“, der entstanden ist, als die „Maria am Ostbahnhof“ schließen musste. Er sagt, er war noch nie in diesem Club und auch in den anderen, für den diese Gegend hier am Wasser berühmt ist. „Das ist ohnehin nicht mehr das Friedrichshain, in dem ich einmal gelebt habe“, sagt er. Die ersten zehn Jahre seiner Berliner Zeit habe er hier verbracht, damals gab es das „Ostgut“ und keine O2-World oder ein Mercedes-Gebäude, auf dem sich jetzt jener Stern dreht, der in den 90er-Jahren von Autos abgebrochen wurde. Gerade wegen dieser Veränderungen hat von Deylen sich diese Gegend auch für den Spaziergang ausgesucht. „Man kommt hier ja höchstens mit Besuchern her“, sagt er, „aber auch das bin ich lange nicht mehr.“
Wir laufen zuerst in den Yaam-Club. Es ist einer dieser Orte, die noch übrig geblieben sind: Holzhütten, Sandstrand, Metalltonnen, auf denen, man Karibik-Klänge herstellen kann. Das Yaam strahlt den Charme jener Zeit aus, als sich einfach jemand mit einem Bierkasten an die Spree gesetzt hat und meinte: Ok, wir machen hier einen Club auf. So ungefähr ist vor 19 Jahren wohl das Yaam entstanden und später die Bar25 und all die anderen Strandbars. Jetzt braucht es schon David Hasselhoff, damit sich noch Leute für dieses Gebiet interessieren. Der war vor einigen Monaten hier, um für den Erhalt der East Side Gallery einzutreten. Diese Gegend jedenfalls ist für Christopher von Deylen mit Erinnerung verbunden, hier hat er Kulturwissenschaft studiert, was er aber 1998 abbrach, um zusammen mit einem Freund „Schiller“ zu gründen. Anfangs noch ganz ohne Erfolg, eine Zeit, die er heute noch wichtig findet, um sich nicht im Ruhm zu wohl zu fühlen.
Auch das hat für Christopher von Deylen wieder mit der Stadt zu tun, mit Orten wie dem Yaam oder der Eastside Gallery: „Man neigt bei Berlin immer dazu, die Patina der Stadt als Katalysator für Kreativität zu interpretieren.“ Er könne dieses ganze Gerede um dieses Potenzial manchmal schon nicht mehr hören, ja wird sogar skeptisch, wie sehr das nicht vielleicht nur noch eine Fassade sei. „Vielleicht gibt es sogar eine Art Geheimkomitee, das nachts durch die Straßen geht und Graffiti an die Wände sprüht“, sagt er, „damit dieser vermeintlich kreative Charme der Stadt erhalten bleibt.“ Er bleibe bei vielem, offensichtlich „Alternativen“, doch skeptisch. „Es gibt auch ein Bevölkerungssegment, das zwei Stunden vor dem Spiegel steht um dann auszusehen wie Andreas Baader und dann doch zu seinem Portugiesen geht.“ Er sei eher jemand, der immer auch eine Erneuerung suche.
Zumindest sein neues Album erfüllt diesen Wunsch in vielerlei Hinsicht. Es ist das erste, das nicht in Berlin, sondern in New York aufgenommen wurde, erschienen ist es trotzdem beim deutschen Traditions-Label „Deutsche Grammofon“. Von Deylen hat sich klar mit der klassischen Musik beschäftigt, sich von ihr inspirieren lassen. Er stand zusammen mit Größen wie der Pianistin Hélène Grimaud, der Sopranistin Anna Netrebko und dem Oboisten Albrecht Mayer im Studio. Bei früheren Alben hat er eher mit Pop-Künstlern wie Xavier Naidoo, Unheilig oder der Schauspielerin Anna Maria Mühe zusammengearbeitet. Es könnte also bedeuten, dass es nun ernster wird bei „Schiller“, aber wer sich durch die Alben hört, dem erscheint der Schritt zur Klassik wie eine logische Konsequenz aus früheren Projekten wie der Zusammenarbeit mit dem chinesischen Pianisten Lang Lang.
Aber solche Kategorien mochte Von Deylen ohnehin nie. „Zuschauer und Zuhörer haben ja doch eine wesentlich breitere oder tiefere Bereitschaft zur Rezipienz als gemeinhin angenommen“, sagt er. „Es muss nicht immer einfach und schubladisierbar sein.“ Bei der Arbeit mit den klassischen Künstlern habe ihn vor allem gereizt, dass beide Seiten ihre Komfortzonen verlassen mussten, also etwas tun, was für sie neu ist. „Ich finde ja, dass man jeden Tag im Leben irgendetwas tun sollte, das man noch nie gemacht hat.“ So stand er eben mit Hélène Grimaud in einem Raum ohne Tageslicht, und schon dadurch habe das etwas Losgelöstes von der Realität gehabt. Mit welcher Neugier und Offenheit sie an dieses Projekt herangegangen sei, habe ihn überrascht. Für sich habe er in dieser Zeit den Satz geprägt: „Das Leben beginnt da, wo die Komfortzone aufhört.“
Als wir durch eine Tür an der Spree die Wiese hinter der Mauer betreten, fällt auf, dass man tatsächlich zu selten an diese Orte geht. Menschen sitzen auf der Wiese unter blauem Himmel, rauchen, trinken, lesen, spielen Karten. Aber Christopher von Deylen bewegt sich durch sie hindurch, als wären sie nicht da. Seine Bewegungen sind lässig wie die von allen hier, die Augen schauen schlau in die Welt, aber eher vor sich hin oder in die Augen seines Gegenübers. Nie aber wandern sie zu den Vorbeilaufenden, den Sitzenden. Was ihm entgeht: da läuft ein schlanker Bärtiger mit bunter Pudelmütze und Jute-Beutel mit einem Monstergesicht darauf (so Berlin!), ein älterer Herr, der von oben bis unten in Gelb gekleidet ist (total Berlin!) und eine Gruppe Spanier, die mit ihrem Bier in der Hand laut diskutieren, in welchen Club sie jetzt gehen (dieses verrückte Berlin!).
Er sagt, dass er schon ein Auge für diese Dinge hat, aber nur, wenn er allein unterwegs sei. Er sagt es mit einem Genitiv: „Ich mag diese Momente, deren Protagonisten nicht die Absicht haben einen poetischen Moment zu erzeugen.“ Leider gehe auch er zu selten noch an solche Orte, auch, weil sie inzwischen schon eher touristisch sind. „Hier gibt es Ecken, an denen Berlin so ist, wie die Menschen außerhalb der Stadt denken, wie es hier überall sei.“ Am liebsten mag er deshalb den frühen Morgen, nicht um 7 Uhr, wenn die Jogger aufstehen, sondern um fünf Uhr oder noch früher. „Da bin ich für mich auf der Welt.“ Das sei er am Abend auch, aber es gelinge ihm dann nicht so gut, den Tag abzuschütteln. Manchmal höre er dann Deutschlandfunk, das Nachtprogramm oder ab fünf Uhr die Morgennachrichten. Oder er komponiert. Ein Großteil von „Opus“ sei in den frühen Morgenstunden entstanden.
Das zu wissen ist ein Schlüssel für einen Zugang zum neuen Album: Dieses Bild, wie er morgens vor seinem PC sitzt, Musik hört, zurückspult, noch einmal hört. Dann Tee. Vielleicht einen Apfel. Diese Morgenfrische steckt zum Beispiel im Stück „Rhapsody on a theme by Paganini“ von Sergij Rachmaninoff. Es ist ein sehr bekanntes, sehr schwelgerisches klassisches Werk, das die Nummer 13 auf „Opus“ und in das der Sonnenaufgang fast eingebaut ist. Zumindest der Neuanfang, der, den „Schiller“ so mag.
Tatsächlich ist es dieses Stück, was für Christopher von Deylen zu dem besten gehört, was er an klassischer Musik kennt. „Die Rhapsody enthält eine Poppigkeit, die sehr schnell zum emotionalen Vollzug schreitet – aber so, dass man immer aufs neue wie durch feinen Sprühnebel sehen kann, was der dieses Stück erschaffende Geist durchlebt haben muss, um so etwas komponieren zu können.“ Er gerät ins Schwärmen, vergleicht das Werk mit „Enjoy the Silence“ von Depeche Mode, das er für ähnlich perfekt hält, ausgerechnet ein Lied, das die Stille lobt. „Das Tolle an Rachmaninoff ist“, sagt er, „dass es eben nicht aufhört, es fällt nicht zusammen wie ein aufblasbarer Delfin, dem die Luft ausgeht.“
Wir haben den Punkt erreicht, an dem die Mauer durchbrochen ist, und laufen wieder auf der Straße entlang, vorbei an bunten Mauerstücken mit Graffiti von echten Kreativen, ein Stück bewahrte Alternativ-Kultur, die plötzlich zum Kanon gehört und für die man kämpft. Christopher von Deylen erzählt hier, wie er zuerst mit Pop in Berührung kam. Das war, als er in Berlin als Studio-Helfer anfing und dafür in Studiozeit bezahlt wurde. Damals lernte er die Produzentin Annette Humpe kennen, die mit „Ideal“ bekannt wurde und bis 2010 bei „Ich + Ich“ mitsang. Sie habe gesagt, das Wesen der Popmusik sei die Kunst des Weglassens. „Das braucht keiner“, war einer ihrer Lieblingssätze, oder: „Das hört keiner.“ Es gehe schlicht darum, in drei Minuten eine gute Geschichte zu erzählen.
An diesen Purismus hat er sich auch für „Opus“ erinnern wollen. „Es geht mir um diesen Moment, wenn der grau melierte Ehemann im Konzertsaal seiner Frau die Hand auf den Oberschenkel legt, weil er zum ersten Mal gemerkt hat, dass sie eine neue Frisur hat.“ Das sei ein Moment, den das Orchester sich mühsam erarbeiten müsse. „Das ist schließlich ein großes Gefühl.“ Er aber habe sich die Freiheit genommen, die Musik von diesem Arbeitsrahmen zu befreien. Er will gleich die ganz große Emotion, die „authentische Gefühlswelt“.
Letztlich geht es also auch im Hause Von Deylens immer um diese endlose Aufgabe. Man werde diesen „perfekten Sound einer Zeit“ nie ganz erreichen, nie erspüren können. In diesem Sommer sei es ohnehin schwierig gewesen, weil es keinen klaren Sommerhit gab, sagt er. Am nächsten komme dem vielleicht „Get Lucky“ von Daftpunk, darin geht es aber um die Suche nach Glück in der Nacht. Bei „Schiller“ findet diese Suche aber morgens statt und natürlich findet er dafür ein Bild, in dem eine Glocke vorkommt. Er sagt: „Über allem hängt die Glücksglocke, die muss läuten, man hat es leider nicht unter Kontrolle.“
Erschienen in der Berliner Morgenpost, 29.9.2013