Berlin. In dieser Woche habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, ab und an an sich herunterzuschauen und seinen Füßen dabei zuzusehen, wie sie das so hinkriegen: einen Schritt vor den anderen zu setzen, so ganz ohne stolpern. Ich hatte das neulich in einem Popsong der Kanadierin Veda Hille gehört: „Wenn du dich verloren glaubst, schau auf deine Füße“ singt sie im Song „Oh Precious Heart“. Ich will jetzt nichts überdramatisieren, wozu ich zugegebenermaßen neige, aber nach dieser Woche habe ich das Gefühl, dass uns die dunkelsten Kapitel dieser Krise noch bevorstehen.
Montag. Mein erster Gang geht jeden Morgen zuerst an die beiden Adventskalender, die ich in der Wohnung in zwei Zimmern verteilt habe. Am Montag ist das Öffnen der Türen zu einem Ritual geworden, noch am Tag zuvor hatte ich eine Tür vergessen. Wie überhaupt immer mal ganze Tage durchgerutscht sind seit November. Wieder Lockdown, wieder Tagebuch, nur dieses Mal ohne den Frühling vor der Haustür. Dafür immerhin mit Adventskalender. Ich hole ein Stück Apfelstollen aus dem Adventskalender und esse es direkt zum Morgenkaffee.
Und noch etwas hat sich verändert, seit ich im Frühjahr zwölf Wochen lang diese Seite am Sonntag betreut habe: Ich schlafe besser. Das könnte daran liegen, dass ich vor ein paar Wochen das Rauchen aufgegeben habe und mir jetzt jeden Morgen eine App verkündet, welche weiteren Vorzüge dieser Tag ohne Rauchen mit sich bringen wird. Nur beim morgendlichen Kaffee auf dem Balkon fehlt es mir noch ein kleines bisschen.
Ich habe an diesem Tag einen Bürotag eingeplant, und auf dem Weg zum Kudamm werde ich von diesen Menschen angesprochen, die mit gelben oder lila Jacken von einer Hilfsorganisation am Hackeschen Markt stehen. Sie sind immer einen Tick zu gut gelaunt für die Tageszeit, das Wetter oder die Pandemie, die gerade Millionen von Menschenleben gefährdet. Ich stelle mir vor, wie die Marketing-Chefs im Zoom-Meeting darüber bestimmt haben, dass diese Erstsemester auf Berliner Plätzen für neue Mitglieder werben sollen – als wäre alles ganz normal. Als eine 20-Jährige einen Satz auf mich zu macht – sie springt mich buchstäblich an – schaue ich demonstrativ in die andere Richtung und fühle mich wie Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens.
Morgens gehe ich zu einem Friseur in Wilmersdorf, der 100 Krankenschwestern und Pflegern die Haare kostenlos schneiden will. Wir berichten darüber in der Zeitung – weil man auch nicht genug von den Frontarbeitern in dieser Krise berichten kann. Eine der Krankenschwestern hat sehr lange rote Haare und ist sehr dankbar für diese Geste des Friseurs. Das Bonusgeld für Pfleger kenne sie nur aus der Zeitung. Sie sagt, sie hatte außerdem eigentlich schon abgeschlossen mit Friseuren. „Mein letzter Besuch vor drei Jahren war ein Desaster, bei dem mir meine Haare angesengt wurden, und ich musste noch 100 Euro dafür zahlen.“ Dieser Besuch hat sie versöhnt. Sie rückt ihre Maske zurecht, die sie während des gesamten Besuchs getragen hat, und verlässt das Geschäft, ohne zu bezahlen.
Der Friseur sagt, dass viel geredet werde, die Angst vor Aerosolen, die in den ersten Wochen nach dem Lockdown für gespenstische Stille beim Friseur gesorgt habe, sei weg. Die Leute hätten ja oft sonst niemanden mehr, der ihnen zuhört. Ich denke an meinen Adventskalender, dessen Inhalt ich mir mit niemandem teilen muss, und nicke.
Ja, die Einsamkeit und der offene Umgang hat bei vielen etwas verändert. Bevor ich ins Büro fahre, rufe ich einen Freund an, der zwischenzeitlich Hilfe in einer psychiatrischen Klinik suchte. Heute ist sein letzter Tag, bevor er für sechs Wochen zur Kur fährt, ausgerechnet nach Chemnitz, das doch eben erst zur Kulturhauptstadt 2025 gekürt wurde. Doch er ist traurig, ausgerechnet dann nicht in Berlin zu sein, wenn das Humboldt Forum eröffnet wird. Er hat wie viele Berliner dessen Entstehung verfolgt und hätte das gern gesehen. Andererseits ist die Eröffnung, die es jetzt geben soll, auch alles andere als festlich. Ich esse einen wirklich entsetzlichen Burger, der im Regal noch ganz lecker ausgesehen hatte. Mein guter Freund hat keinen Hunger. Wir reden und schweigen und hoffen auf bessere Zeiten.
Infizierte in Berlin: 20.118, Tote: 699.
Dienstag. Hinter Türchen „8“ ist ein weiterer Stollen, und in der Zeitung sehe ich den Inhaber einer Kneipe bei mir um die Ecke. Er sagt, dass er doch nichts dafür könne, wenn die Menschen mit einem Glühwein stehen bleiben. Ich telefoniere mit dem Ordnungsamt, und die sagen, sie werden versuchen, die Menschen an die Regeln zu erinnern, aber es würde keine „Knöllchen für Grüppchen“ geben. Ich denke, dass inzwischen selbst Beamte eine humorvolle Art gefunden haben, mit der Pandemie umzugehen.
In der Mittagspause lese ich den Text zweier Kollegen, die am Montag den Reporterpreis für eine Lokalreportage bekommen haben, über eine Corona-Station in Hamburg im ersten Lockdown. Der Text „Der Ausbruch“ ist online leicht zu finden und geht wirklich unter die Haut. Es beginnt mit einer Seebestattung, und es wird noch mehr Tote geben in dem Text. Er rekonstruiert, wie drei Menschen am Coronavirus starben, die vielleicht hätten überleben können. Auf Twitter lese ich, dass der Vater eines berühmten Influencers an Covid-19 gestorben ist. „Er ist jetzt bei Mama“, schreibt der erwachsene Mann.
Am Abend treffe ich durch Zufall einige Bewohner meines Hauses im Flur. Wir sind seit dem Frühjahr in einer WhatsApp-Gruppe miteinander vernetzt, und so habe ich auch erfahren, dass unser Haus in Prenzlauer Berg dem gleichen Vermieter gehört wie die kürzlich geräumte „Liebig34“ in Friedrichshain. Als wir bei Glühwein im Innenhof mit Abstand beisammen stehen, erzählt eine Frau, dass ihre Nachbarwohnung leer stehe. Seit Monaten. Das sei zwar illegal, aber es machen viele Vermieter, weil sie noch abwarten wollen, was mit dem Mietendeckel werde.
Infizierte in Berlin: 20.033, Tote: 732.
Mittwoch. Geweckt werde ich seit Beginn des Lockdowns nicht mehr durch eine normale App. Ich benutze eine App namens Sleeptown. Die App soll Menschen daran erinnern, wie gut regelmäßige Schlaf ist. Als Belohnung erhält man nach einer gut geschlafenen Nacht ein virtuelles Häuschen. Am Mittwoch habe ich für meine Schlafstadt die erste Feuerwehr „erschlafen“. Das Anwachsen dieser kleinen Stadt in meinem Telefon erinnert mich jeden Tag ganz konkret an die Dauer dieses Wahnsinns.
Da sich mein Klavierstimmer angekündigt hat, arbeite ich bis zum Mittag von zu Hause aus. Er sagt, dass sich sein Beruf nicht groß verändert habe. Er hat ein Häuschen in Brandenburg und könne jetzt noch öfter Zeit dort verbringen. Doch insgesamt bekommt er auch mit, dass die Krankheit sich jetzt wirklich durch die Freundeskreise frisst. Seien es im April nur wenige Betroffene gewesen, höre man jetzt immer wieder davon. Er erzählt von meinem Klavierlehrer, der gerade Vater geworden ist. Es könnte eines der ersten Lockdown-Babys sein. Hauptsache, der kleine Orlan ist gesund.
Am Nachmittag laufe ich mit einer Kollegin über den Breitscheidplatz. Wir sehen zuerst die Kerzen und Fotos am Mahnmal für das Attentat von 2016. Wir suchen eine Weihnachtsmütze, die Kollegin vermutet, im Europa-Center gebe es eine. Ich kannte dort bis dahin nur den Saturn, für die anderen Geschäfte in dem Center hatte ich bislang kein Auge. Umso erstaunter bin ich, als ich kurz darauf in einem Geschäft voller Ein-Euro-Schund aus China stehe, in dem es stark nach Rauch riecht. Meine Kollegin hat ebenfalls vor wenigen Wochen aufgehört. Aber sie hat jetzt eine Weihnachtsmann-Mütze für 4,95 Euro, bei der die aufgenähten Sterne auf Knopfdruck blinken.
Doch neben diesem Geschäft gibt es noch einen Comic-Laden (geöffnet), einen Hertha-Fanshop (geschlossen) und eine Uhr, die mit fließendem Wasser betrieben wird. Man muss es gesehen haben. Das Ungewöhnlichste finden wir im Shopping-Keller. In einem Waffengeschäft liegen Pistolen Marke „Walther“ im Schaufenster, für rund 170 Euro wäre sie meine. Dahinter ist ein Plakat aufgehängt, das für Schreckschusswaffen wirbt und auf dem ernsthaft steht: „Warum warten? Jetzt schon an Silvester denken!“ Die Diskussion um Feuerwerksverbot ist noch nicht bis zu diesem Keller vorgedrungen. Die Kunden (Kundinnen waren nicht zu sehen) tragen denn auch ihr Maske so, dass mindestens die Nase immer gut zu sehen ist. So stelle ich mir Texas vor.
Infizierte in Berlin: 19.635, Tote: 749.
Donnerstag. Am Morgen habe ich ein Gespräch mit einer Mutter, die ihren Sohn vor sechs Jahren verloren hat. Wir treffen uns in ihrem Büro, auf Abstand, sitzen an verschiedenen Tischen und reden über ihren Sohn. Sie sagt, dass ihr Bücher geholfen haben. Sie habe noch nie soviel gelesen wie in den Monaten nach dem Unfalltod ihres 20-jährigen Kindes. Das Gespräch findet statt, weil am heutigen Sonntag internationaler Tag der verwaisten Eltern ist. An der Marienkirche können Betroffene jedes Jahr eine Kerze entzünden. Die Frau sagt, dass sie den Termin eigentlich selten wahrgenommen habe, weil man auf dem Weg zur Kirche an den Feiernden des nahe gelegenen Weihnachtsmarktes vorbeilaufen müsse. Das sei für sie immer anstrengend gewesen. Dieses Jahr gehe sie vielleicht hin.
Direkt danach treffe ich zwei Mitarbeiterinnen der Berliner Telefonseelsorge. Wieder ein sehr ernster Themenkomplex: Weihnachten, Einsamkeit, Selbstmordrate in Berlin. Und dann noch Corona. Ich lerne, dass Berlin die erste Stadt Deutschlands mit einer Seelsorge-Telefonnummer war und auch die erste Corona-Hotline geschaltet hatte. Eine der Leiterinnen sagt etwas, das bei mir nachwirkt: Sie habe das Gefühl, dass auch während der Weihnachtszeit der Höhepunkt der Pandemie noch nicht erreicht sein werde. Vor allem die Effekte auf die Psyche hätten eine ganz eigene „Inkubationszeit“. Die Seelsorger bemerken gerade eine erste Welle. „Da kommt noch einiges auf uns zu.“
Infizierte in Berlin: 19.782, Tote: 768.
Weihnachten im Lockdown: Die halbe Republik führt komplizierte Gespräche
Freitag. Ich habe kein Haus gebaut. „Sleeptown“ lässt mich nur bis acht Uhr morgens auf „bauen“ drücken. Wenn ich die Taste zu spät drücke, erscheint eine Ruine. Die lasse ich von einem Bulldozer wegräumen. Nur weil ich zu spät aufwache, kann ja meine Stadt trotzdem schön sein. Ich habe in dieser Woche häufig mit meinen Eltern telefoniert, weil wir noch unschlüssig sind, was wir mit Weihnachten anstellen. Ich glaube, die halbe Republik führt diese Gespräche. Sachsen stellt auf Lockdown, aber theoretisch könnte ich wohl nach Dresden einreisen. Aber sollte ich?
Das Büro ist am Abend wie ausgestorben. In einer Schreibpause gehe ich über den Kudamm. Es ist ungewöhnlich viel los, Menschen mit dem oft erwähnten Glühwein in der Hand. Sie stehen Schlange vor Elektronik- und Mode-Geschäften. Ich habe in dieser Woche abends kaum mit Freunden telefoniert oder mich gar zu einem Spaziergang getroffen. Ein Freund lud zum Abendessen, und ich wusste nicht, ob ich das annehmen sollte. Ich schreibe noch am Abend ein paar Freunde an und vereinbare Treffen.
Infizierte in Berlin: 19.380, Tote: 790.
Sonnabend. Als erstes erreicht mich morgens eine Absage für ein geplantes Treffen. „Wir sind in Quarantäne“, heißt es aus dem zweiten Haushalt. Es könnte nur übertrieben sein, aber man halte sich an die Regeln. Ich gehe auf meinen Balkon und sehe auf der gegenüberliegenden Seite die Frau rauchen, die ich immer beim Rauchen gesehen habe. Ich fühle mich wie ein Verräter und schließe das Fenster. In meinem Adventskalender war eine Mozartkugel. Sie schmeckte fantastisch.
Infizierte in Berlin: 19.782, Tote: 823.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 13. 12. 2020.