Dienstag. Morgens sehe ich ein Video von Angela Merkel, die Horst Seehofer die Hand geben will. Er verweigert, sie reagiert fröhlich. „Ach richtig“, sagt ihr Gesichtsausdruck. Höflichkeit in Zeiten von Corona. Die Webseite von „The Atlantic“ stellt gleich ein Video online, das für die „Ghettofaust“ als Begrüßungsgeste wirbt. US-Präsident Donald Trump, das wird später bekannt, will weiterhin Hände schütteln.
Ich habe mich mit Christian Y. Schmidt verabredet. Er ist Journalist und Buchautor. Der 64-Jährige lebt mit seiner Frau in Berlin und Peking. Er hat den Ausbruch des Virus in China mitbekommen, von der ersten Meldung bis zum Ausnahmezustand. Im Moment wollen alle von ihm wissen, was sich in Berlin noch verändern wird. In seinen Facebook-Posts schlägt er einen alarmierenden Ton an: „Hier wurde zwei Monate lang Zeit verspielt, ich wette, hier sind schon 5000 Infizierte unterwegs und die stecken täglich zwei bis drei Leute an“. Zugleich aber informiert er nüchtern über das Leben der Chinesen mit der unsichtbaren Gefahr. Immer wieder schreibt er: „Nicht das Virus ist besonders gefährlich, die Epidemie ist es“.
Zum Gespräch treffen wir uns im Prenzlauer Berg, in einem Café mit dem Namen „La Tazza“. Der Kaffee ist gut, der Abstand zwischen den Tischen auch. Nach ungefähr zehn Minuten steht die Frau am Nebentisch auf und verlässt den Raum. Auf die Frage, ob wir zu laut über das Virus gesprochen haben, lächelt sie gequält und sagt nichts.
Schmidt kam vor drei Wochen mit dem letzten Direktflug von Peking nach Berlin. Die Sorglosigkeit am Tegeler Flughafen verwunderte ihn. „Keine Desinfektion, nichts.“ Er habe lediglich Ausstiegskarten ausfüllen müssen. Immerhin kam er aus einer 25-Millionen-Einwohner-Stadt, die im Ausnahmezustand war und ist. „Ich war ja mindestens einmal am Tag spazieren“, sagt er, „ich habe es ‘Seuchenspaziergang’ genannt.“ Mit seiner Maske lief er durch leere Straßen, ging in leere Geschäfte. „In China gibt es eine App, mit der kann man leere Regale melden.“ Abends sah er die Hochhäuser, hinter fast allen Fenstern brannte Licht. Sonst sind nicht so viele Zimmer erleuchtet.
Dabei war auch Peking nicht stark betroffen: Bis heute hat es 418 Infizierte gegeben, acht Menschen sind daran gestorben. Für eine Metropole dieses Ausmaßes hätte es schlimmer ausgehen können. Zur Erinnerung: In der Provinz Wuhan gab es beinahe 70.000 Infizierte und an die 3000 Tote.
Christian Y. Schmidt erinnert sich an den Tag, als der Premier Chinas die Wende im Umgang mit dem Virus einläutete. „Das war der 20. Januar“, sagt er, „ich habe das Gefühl, dass diese Wende hier erst noch eingeläutet werden muss.“ Im Grunde wüssten die Berliner, dass viel mehr Infizierte durch ihre Stadt laufen, als die fünf, die bislang bekannt seien, „aber trotzdem verhalten sie sich nicht danach“. Auch Schmidt hat die Hamsterkäufe mitbekommen und die fehlenden Desinfektionsmittel. „Aber insgesamt überwiegt hier eine Sorglosigkeit, die ich nicht verstehe.“ Er selbst hat für sich entschieden, eine Freundin im Krankenhaus erst zu besuchen, wenn er zwei Wochen in Berlin ist und keine Symptome hat. „Aber dass ich es gekonnt hätte, wundert mich schon.“
Das Café hat sich inzwischen gut gefüllt, vielleicht weil es draußen zu regnen begonnen hat. An fast jedem Tisch sitzt jemand, Kinder laufen herum. Obwohl wir dieses recht ernste Thema besprechen, ist Schmidt ein sehr unterhaltsamer Gesprächspartner. Er war früher Autor für die Satire-Zeitschrift „Titanic“, hat Bücher über China geschrieben, die so lustige Namen tragen wie „Im Jahr des Hasendrachen“ oder „Bliefe von dlüben“. Sein neues Buch erscheint Ende März und heißt „Der kleine Herr Tod“. Es geht um Gevatter Tod, der einen Burnout hat. Eine Epidemie konnte Schmidt beim Schreiben nicht voraussehen.
Schmidt will auch keine Panik in der Bevölkerung. „Es stimmt ja, der Virus ist für gesunde Menschen recht harmlos.“ Aber schon jetzt sei unübersehbar, dass das Gesundheitssystem mit diesem noch sehr geringen Ansturm nicht fertig werde. „Wenn so viele Menschen krank werden und in die Krankenhäuser stürmen, dann bricht das System zusammen.“ Das sei etwas, das China gelernt habe und deshalb haben die Bürger angefangen, die Krankheit ernst zu nehmen. „Das was in Wuhan passiert ist, kann auch hier passieren, und dann steigt die Zahl der Toten.“
Stand Dienstagabend: Sechs Infizierte, drei geschlossene Schulen. Abgesagt: der Apotheker-Kongress, die „Night of Sports“ und die Leipziger Buchmesse.
Mittwoch . Ein Freund aus Südkorea schickt mir ein Foto aus dem Fahrstuhl seines Hochhauses. Jemand hat eine Art Pinnwand aus Styropor an die Wand geklebt und mehrere Zahnstocher hineingesteckt. Auf Koreanisch wird man gebeten, nur noch mit diesem Zahnstocher die Taste des Fahrstuhls zu drücken. Anschließend kann man das Stäbchen in einen Pappbecher legen. Ich frage mich, ob man jemals einen Berliner dazu kriegen könnte, sich solch einer ausgefeilten Regel zu unterwerfen?
Morgens bekomme ich eine E-Mail einer Kollegin, die im Internet den Beitrag eines jungen Mannes aus Schöneberg gefunden hat. Der Beitrag wurde inzwischen verifiziert. Wer wissen will, wie es sich anfühlt, Betroffener zu sein, mit Ärzten und Ordnungsamt über einen positiven Test zu reden, findet den Text unter dem sehr ausführlichen Titel im Netz: „Ich bin seit heute unter Quarantäne mit meinem positiv auf COVID 19 getesteten Mitbewohner“.
Das Besondere sind nicht die Details seiner Abgeschiedenheit, sondern die Art, wie er sie beschreibt. Er hat dabei jene Leichtigkeit nicht verloren, die man sonst nur bei gut gelaunten Radiomoderatoren erwartet. Nachdem „Coronny“ (so nennt sich der anonyme Blogger) erfolglos mehrere Telefonnummern gewählt hatte, die ihm weiterhelfen sollten, schrieb er: „Mich beschleicht das Gefühl, als wäre der Grad der medizinischen Vorbereitung in unserer Nation tendenziell ausbaufähig“.
Ähnlich belustigt schildert er, wie er das Menü für sich und seinen Mitbewohner zusammenstellte („Cabernet, Kimchi und Kichererbsen“), was er seinen Eltern erzählt („Meine Mutter habe ich angelogen, dass ich in Arbeit ertrinke“), und immer wieder ist da die Hilflosigkeit eines Apparates da draußen, der nicht weiß, wie diese Krankheit einzudämmen sei: „Gestern noch Allgemeinarzt in einem 90.000-Seelen-Kaff, heute direkt an der Speerspitze gegen eine globale Epidemie“. Er schreibt auch, dass er an diesem Mittwoch Geburtstag habe. Ich chatte ihn an, gratuliere ihm fix und füge noch ein paar Fragen an. Er antwortet nicht. Vielleicht bekommt er zu viele Anfragen.
Am Abend höre ich von einer Freundin, die in einem Pankower Nagelstudio war, dass dort alle Masken tragen würden. Bisher ist mir im Stadtleben noch nicht eine einzige Person mit Maske begegnet. Als sie die Inhaberin fragte, ob sie etwas wegen dem Virus merkt, habe diese zu weinen begonnen. Die Kunden seien weggeblieben und der Umsatz so drastisch gesunken, dass sie alle fest angestellten Vollzeit-Mitarbeiter nur noch stundenweise beschäftigen könne.
Abends bin ich auf ein Klavierkonzert eingeladen. Ich entscheide mich dagegen, als ich höre, dass es so voll ist, dass einige Gäste auf dem Boden sitzen. Ich lese weiter Camus. Es wird grausam, aber „Die Pest“ ist nicht sehr dick. Es ist auch mehr eine Erzählung über die Ungerechtigkeit des Krieges als über die Ausbreitung einer Krankheit – oder über die Ähnlichkeit der beiden. Camus schreibt: „Pest und Krieg finden die Menschen immer gleich wehrlos“.
Stand Mittwochabend: Neun Infizierte, zwei geschlossene Schulen. Abgesagt: „Nacht der Politik“ in Lichtenberg und diverse kleinere Konzerte.
Donnerstag . Morgens bin ich bei einer Früh-Geburtstagsfeier. Acht Uhr morgens trinken wir Kaffee und es gibt Geschenke. Bei Müsli und Croissants erzählt ein Gast, was er im Supermarkt erlebt hat. Ein Hamsterkäufer hatte das Laufband an der Kasse mit Nudeln vollgepackt. Als er genauer hinschaute, sah er, dass da außerdem noch mindestens 30 Packungen Haribo lagen. „Was macht man mit so viel Gummitieren?“ Der Kunde dahinter musste warten, obwohl er nur zwei Bier aufs Band legte. Alle Beteiligten inklusive des Kassierers ertrugen den Moment.
Nach dem Frühstück gehe ich zum Arzt, eine Routine-Untersuchung. Ich hätte mir denken können, dass das Wartezimmer überfüllt ist. Die Schwester, die mir Blut abnimmt, lässt sich darüber aus, dass sie gehört habe, wie jemand seine Windschutzscheibe mit Desinfektionsmittel abgerieben habe: „Also irgendwann reicht’s!“ Sie sagt jedem, den sie trifft, dass er sich einfach öfter die Hände waschen solle. „Und sich vor allem nicht verrückt machen soll.“ Ich verspreche ihr, das genau so weiterzutragen.
Am Nachmittag telefoniere ich mit jemandem, der die Quarantäne überstanden hat, auch wenn sie mit der von „Coronny“ nicht vergleichbar ist. Jannis ist 25 Jahre alt und Unternehmensberater. Zu seinem Beruf gehört es, ständig unterwegs zu sein. Er kam Mitte Februar aus Hongkong zurück. Sein Arbeitgeber sagte ihm, dass er leider für zwei Wochen ins Homeoffice gehen müsse: „Sonst muss ich das meinen Chefs mühsam abschwatzen“, sagt er, „allerdings habe ich das sofort verstanden.“ Ins Kino und in Kneipen ging er trotzdem. „Jetzt bin ich wieder zurück und die Corona-Witze haben auch schnell aufgehört.“
Am Abend gehe ich auf das Klavierkonzert, das ich schon für Mittwoch vorher geplant hatte. Dieses Mal ist es deutlich leerer im „km28“ in Neukölln. Das 75-minütige Stück besteht aus mit Bedacht gedrückten, einzelnen Klaviertasten. Man kann sagen: Es ist sehr verträumt. Besucher zahlen einen freiwilligen Eintrittspreis zwischen sieben und zehn Euro. Eine Bierflasche kreist zwischen drei Menschen. Der Mann neben mir beginnt zu husten, geht schnell auf die Toilette und kommt nicht zurück.
Stand Donnerstagabend: 15 Infizierte, zwei geschlossene Schulen. Abgesagt: Campus-Messe und Jobmesse in Potsdam.
Freitag. Jetzt kann ich es ja sagen: Ich hatte am Montag ein wirklich starkes Kratzen im Hals, konnte aber mit niemandem darüber sprechen. Anfang der Woche war die Stimmung in der Redaktion angespannt. Es wurde diskutiert, einen Teil der Redakteure zuhause arbeiten zu lassen, damit sie im Ernstfall alle kranken Redakteure ersetzen. Glücklicherweise hatte ich ein Erkältungsbad zu Hause (Drogerie: ausverkauft) und diese Halsbonbons, die so am Gaumen kleben. Das Kratzen klang schnell ab. Der Freitag konnte also ein guter Tag werden.
Am Morgen erzählt mir ein Freund, dass seine Kinder ein eigenes Handtuch in die Schule mitbringen sollen. Die Schülerinnen und Schüler achten zwar darauf, dass sie alle oft die Hände waschen im Klassenzimmer-Waschbecken. Aber es gebe eben nur ein Handtuch, was wiederum nicht sehr hygienisch sei, nachdem 24 Kinder… Er gab seinen Kindern Handtücher mit und wechselte schnell das Thema. Ein bisschen hatte ich das Gefühl, dass dieser Wille zum Themenwechsel bei den meisten vorherrscht. Nicht einmal Witze über das Virus wollte noch jemand hören. (Wie heißt ein Virus mit Instagram-Account? Influenza.)
Ich telefoniere mit einem Gesunden. Alessandro erzählt mir von seiner Odyssee, nachdem er im Februar in Mailand war. Er sagt, dass er Fieber hatte und schwere Grippe-Symptome. Er dachte, er tue das Richtige und ging zum Krankenhaus. Dort gab man ihm die Nummer des Gesundheitsamts. Am Telefon des Gesundheitsamts wiederum verwies man ihn ans Krankenhaus. Er fühlte sich veralbert und wurde wütend. Bei der Nummer des Hausarztes hob niemand ab. Als der doch ranging, sagte er: „Sie haben es wahrscheinlich schon überstanden.“ Alessandro ging es tatsächlich besser. Aber er verstand nicht, wie dieses System einem echten Ausbruch standhalten soll?
„Coronny“ beendet seinen Online-Beitrag nicht optimistisch: „Ich bin in meinem schier grenzenlosen Pessimismus der Meinung, dass es schlimmer werden wird, bevor es besser wird“.
Albert Camus wiederum gibt in seinem Buch eine ganz klare Handlungsanweisung: „Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.“
Stand Freitagabend: 19 Infizierte. Eine geschlossene Schule. Abgesagt: Eine queere Party im KitKat Club.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 8. 3. 2020