Berlin. In dieser Woche kam zwar das Leben zurück in meine Straße, in die Geschäfte, in die Stadt. Allerdings wirkt die Maske im Gesicht wie eine angezogene Handbremse, nicht nur für das Atmen, sondern für jede Tätigkeit im Freien. Ich lernte erst in dieser Woche, die Maske überhaupt immer dabei zu haben. Und zumindest noch kurz zu säubern, bevor ich sie aufsetze. Allerdings habe ich noch keinen Ort, um sie zu lagern. Hängt man sie an die Garderobe? Legt man sie zu den Socken? Oder besser immer griffbereit an die Türklinke?
Montag. Es ist einer dieser grauen Tage, die man gleich bei Tagesbeginn wieder beenden möchte. In der Zeitung lese ich, dass die Friseure wieder geöffnet haben. Dank dieses Tagebuchs kann ich genau sagen, dass ich vor sieben Wochen zuletzt beim Friseur war, das war kurz vor der Schließung. Jetzt bräuchte ich wieder einen Termin, aber ich hatte natürlich keinen vereinbart. Immerhin bekomme ich online für die kommende Woche einen Slot in der „Notaufnahme“. Zur Bestätigung bekomme ich eine E-Mail, in der Wörter wie „Infektionsketten“ und „Schutzauflagen“ stehen.
Am Nachmittag fahre ich zum Kurfürstendamm. Ich will meine Post in der Redaktion abholen und muss mich beim Chef-Concierge vom Hotel Waldorf-Astoria entschuldigen. Wir hatten an diesem Tag eine ganze Seite über das Hotel abgedruckt, dafür hatten wir eine große Tour durch das fast leere Haus bekommen – und dann war in der Zeitung sein Name unter ein Bild gerutscht, das nicht ihn zeigte. Das Problem: Alle trugen eine Mund-Nasen-Bedeckung, die natürlich handgearbeitet war und irgendwie so aussah, als rieche das Leben dadurch besser. Aber er hat sich geärgert, und natürlich darf so etwas nicht passieren.
Erst als ich an der S-Bahn ankomme, fällt mir auf, dass ich keine Gesichtsmaske dabei habe. Ich klemme mir also einen Schal vors Gesicht und stelle mich so „in die Ecke“, wie ich einmal in der siebten Klasse stehen musste, weil mein Lehrer mich dazu aufforderte. Mein Lehrer kam Anfang der 90er-Jahre aus einem Bayerischen Klostergymnasium nach Dresden und war „ganz alte Schule“.
Am Kurfürstendamm angekommen, liegt in meinem Postfach ein Brief von einer Leserin, der wohl mein letztes Tagebuch zu melancholisch geraten war. Sie schickte ein „Gänseblümchen-Gedicht“ von Heinz Erhardt. Es macht sofort gute Laune, und ich bin schon allein deshalb froh, durch die ganze Stadt gefahren zu sein. Ich liefere die Zeitungen im Hotel ab. Der Concierge ist leider nicht da. Außerdem habe ich keine Maske und will schon deshalb eigentlich so schnell wie möglich wieder heim.
Auf der Heimfahrt lese ich, dass bei der EU-Geberkonferenz das Ziel von 7,5 Milliarden Euro fast erreicht wurde. Polen hat 750.000 Euro gespendet, der Popstar Madonna eine Million Euro.
Infizierte in Berlin: 6086, Tote: 154
Dienstag. Eine Freundin aus meinem früheren Indonesisch-Kurs schreibt etwas unter meinen Tagebucheintrag von vor einer Woche. Sie benutzt dabei den schönen Ausdruck „Cuci Mata“. Im Indonesischen bedeutet das wörtlich „die Augen waschen“, also: seinen Augen etwas Neues bieten. Ich habe definitiv meinen Händen öfter gewaschen als meine Augen in den letzten Wochen.
Anstatt das zu ändern, verlasse ich am Dienstag gar nicht meine Wohnung und kann meine inzwischen vier Masken an der Garderobe hängen lassen. Ich habe für abends einen Freund eingeladen, in dieser Woche dürfen wir uns ganz legal für einen Rotwein treffen.
Schon am Abend vorher hatte ich das Schweinefleisch in „Ketjap Manis“ eingelegt. Diese süßliche, zähflüssige Sojasoße gibt’s bei jedem Asiaten, und wenn man noch Knoblauch und Chilischoten dazu schneidet, ist das traditionelle „Babi Panggang“ schon fast fertig vorbereitet. Schwein wird zwar nur von einer Minderheit der Indonesier gegessen (die meisten Indonesier sind Muslime), aber wer es auf der Speisekarte entdeckt: unbedingt bestellen.
Als ich nach Dienstschluss abends mit dem Zubereiten beginne, stelle den Podcast von Christian Drosten an. Das hatte ich lange nicht getan. Ich hatte irgendwann aufgehört, jede Folge zu hören, vor allem, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr folgen zu können. Die medizinische Fachwissen, was er voraussetzte, überstiegen mein Interesse an diesem Virus, und ich hätte am liebsten immer zu der Folge vorspulen wollen – in der verkündet wird, dass der Impfstoff entwickelt ist. Aber die letzten Folgen sind wirklich unglaublich gut geworden. Vielleicht hat es geholfen, dass er nicht mehr täglich liefern muss. Sowohl die Fragen als auch seine Antworten sind wieder wirklich auf den Punkt, und ich lerne viel Neues. Lange nicht mehr so viel beim Kochen gelernt.
Wir essen indonesisches Schweinegulasch und trinken an diesem Abend weniger Rotwein als sonst, dazu hören wir Musik von älteren Frauen mit rauchigen Stimmen.
Infizierte in Berlin: 6036, Tote: 154
Mittwoch. Ich stelle mir gleich morgens wieder die Musik vom Vorabend ein, aber irgendwie will sich die gleiche Gemütlichkeit nicht einstellen. Ich telefoniere mit einem Freund, der sich freut, dass ich nicht abends anrufe. Abends sei er gerade meist bekifft („um runter zu kommen“), außerdem sei ja sonst nicht so viel zu tun. Er hat sich in diesem neuen Leben ganz gemütlich eingerichtet. Er lebt nicht allein, und neulich war er sogar mit seinem Freund abends in der Wohnung einer Freundin und ihres Partners. „Als ich auf dem Balkon eine Zigarette rauchte, sprach mich eine Nachbarin an, dass wir zu laut seien“, sagt er, „dabei haben wir nur zu viert geredet“. Kurz darauf kam noch eine Nachbarin und beschwerte sich, nicht so laut zu „trampeln“. Sind Menschen geräuschempfindlicher geworden?
Am frühen Nachmittag erreichen mich Bilder aus Usedom. Gleich zwölf Fotos, darunter ein Strand ohne Menschen mit einem leeren Strandkorb. Ein paar Wellen mit schwebender Möwe. Und ein Schiff, das auf die nächste Ausfahrt wartet. Ein Freund von mir hat eine Reha in letzter Minute bewilligt bekommen. Innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns sind wieder Kurgäste erlaubt. Er darf also als einer der ersten wieder an den Strand, wo der Sand „singt“. Angeblich klinge es in Usedom wie ein Orchester, wenn der Wind durch die Dünen weht. Nur ist es dort selten so leer, dass man darauf achten könnte.
Er schickt noch ein Selfie in Schwarzweiß von sich am einsamen Strand. Ich schaue, wie lang die Zugfahrt dorthin dauert: 2,5 Stunden. Aber jetzt würde ich als Tourist noch mit Bußgeld nach Hause geschickt. Also: Geduld.
Am Abend merke ich, dass ich meine Wohnung wieder nicht verlassen habe. Also bringe ich wenigstens meinen Müll nach unten. Dort sehe ich, dass die Chat-Gruppe „Gemeinsame Gartenliebe“ aus meinem Haus wirklich den Innenhof begrünt hat. Kinder spielen jetzt zwischen Blumen und zwar so heftig, dass mir fast ein Ball ins Gesicht fliegt und der Picknicktisch, den sie neben den Sandkasten gestellt hatten, mit allem Essen umkippt. Die Mutter sitzt daneben und lacht laut. Ich freue mich kurz an dieser sonnigen Szene, aber da ich nur ein stummer Leser der Chat-Gruppe geblieben bin, habe ich mit den Blumen nichts zu tun und will zurück in meine Höhlenwohnung. Im Briefkasten finde ich noch das die Biografie von Tori Amos, die ich vor Monaten vorbestellt hatte. Auf der ersten Seite schreibt sie, dass wir in „Zeiten einer nie dagewesenen Krise“ leben. Sie meint sicherlich Trumps Präsidentschaft, aber sie lässt es offen.
Abends schauen wir zu zweit einen Film auf Disney+. Es dauert, bis wir uns geeinigt haben. Ich kenne die StarWars-Filme schon und für den Rest: Ich bin leider nicht mehr sieben Jahre alt. Wir entscheiden uns für den Film, in dem Walt Disney die Autorin von „Mary Poppins“ überredet, ihre Geschichte zu einem Film werden zu lassen. Emma Thompson hat an diesem Abend zwei Männer zum Weinen gebracht. Disney-Tränen, sozusagen. Die zählen nur halb, oder?
Infizierte in Berlin: 6143, Tote: 159.
Donnerstag Da am Freitag keine Morgenpost erscheint, haben viele Redakteure vor einem Feiertag traditionell frei. Zwei Kollegen treffen einander morgens in der Telefonkonferenz und merken langsam, dass sie „den Vogel abgeschossen“ haben. Sie unterhalten sich und schreiben anschließend in den Gruppenchat, dass es trotzdem „schön“ war, die „Stimme des anderen zu hören“. Gegen Mittag schaue ich die Pressekonferenz des Robert-Koch-Instituts, weil ich auch von dort inzwischen nur noch gute Nachrichten erwarte. Es wird die letzte Pressekonferenz sein für eine längere Zeit. Aufgrund des Rückgangs des Virus wolle man auf dieses Briefing vorerst verzichten. Selbst als Virus-Laie kommt mir das etwas verfrüht vor.
Am Nachmittag bin ich zum Eisessen verabredet, wir stellen uns also bei „Hokey-Pokey“ in die Schlange. Der Eisladen war vor einigen Jahren so beliebt, dass die Schlange umliegende Cafés auf die Barrikaden trieb. Die Corona-Abstands-Schlange wird mit Fußmarken so gestaltet, dass genug Platz bleibt. Wir laufen zum Helmholtzplatz, wo inzwischen viele Menschen in der Sonne sitzen. Sie rufen auf Englisch und Finnisch durch die Gegend und bleiben oft in Gruppen mit Kindern stehen, weil sie einander lange nicht gesehen haben. Auch meine Begleitung nickt und grüßt mehrere Menschen im Vorbeigehen.
Bei einem seiner Freunde bleiben wir länger stehen und ich lerne, dass ein Gymnasiallehrer gerade doppelt so viel zu tun hat als vor Corona-Zeiten: „Ich muss einerseits den Unterricht für die Hälfte der Schüler vorbereiten, die in die Schule dürfen, gleichzeitig darf der Rest nicht den Anschluss verlieren. Die Abiturprüfungen wollen kontrolliert werden und die Eltern haben jetzt alle meine Handynummer und nutzen sie auch.“
Wir laufen an der Gethsemanekirche vorbei, an deren Zaun gelehnt die Menschen auf dem Boden sitzen und Aperol-Spritz und Gin-Tonic trinken. Zum Abschied umarmen wir uns. Das fühlt sich ungewohnt an. Oder sehe ich das auch zu eng: Eine Umarmung?
Infizierte in Berlin: 6203, Tote: 163.
Freitag. Morgens rufe ich wie immer Christian Y. Schmidt an, den Berliner Buchautor, der mit einer Chinesin verheiratet ist und wirklich lieber in Peking bei seiner Frau wäre jetzt. „Sie war diese Woche allein in der Provinz Shanxi auf einer Reise und hat buddhistische Statuen in einer Höhle besichtigt.“ Er ist ungeduldig, und ich glaube, dass er in einer der ersten Maschinen nach Asien sitzen wird, die vom frisch eröffneten BER abgehen. Bei unserem Gespräch wird deutlich, dass auch dieses Tagebuch langsam an ein Ende kommt. Wir reden immer mehr über andere Dinge, die nichts mit Corona zu tun haben.
Schmidt ist immer noch der bestinformierte Mensch in meinem Freundeskreis, was die Corona-Zahlen angeht. Er weiß auswendig, wie viele Tote pro eine Million Einwohner in Schweden und den Niederlanden gezählt werden (beide haben die Grenze von 300 überschritten, Deutschland liegt bei ungefähr 90). Aber allein in Bayern liegt dieser Wert schon fast doppelt so hoch. Er will auch nicht mehr länger der Pandemie-Experte in seinem 5000-Freunde-Netzwerk sein. „Das soll jetzt langsam mal aufhören.“ Er freut sich, dass sich die Maske inzwischen fast durchgesetzt hat im Berliner Alltag, weil so zumindest sichtbar wird, dass viele die Krankheit ernst nehmen. „Seltsamerweise ist die Quote der Frauen unter den Maskenträgen deutlich höher als die der Männer.“ Er überlegt, ob es daran liegen könnte, dass es eine Art Modeaccessoire geworden sei. „Aber wahrscheinlich sind Frauen einfach gesundheitsbewusster.“
Am Nachmittag bin ich mit einer Freundin zum Eiskaffee-Trinken verabredet. Ja, Eis spielt derzeit eine große Rolle. Es kommen auch wieder andere Zeiten. Wir laufen zum Mauerpark und sitzen auf der Anhöhe. Wir haben uns seit drei Monaten nicht gesehen, und sie erzählt, dass sie schon Corona hinter sich hat. Also, sie ist sich zumindest sehr sicher. Sie war zwei Wochen lang krank, und es fühlte sich nicht wie eine Grippe an. „Zwei Abende lang habe ich wirklich fast keine Luft bekommen“, sagt sie. „Und ich war sehr froh, dass es von selbst besser wurde.“ Sie hat sich in dieser Woche einen Corona-Selbsttest gekauft, online, 25 Euro, Lieferung innerhalb von 48 Stunden. Sie verspricht mir, den Test am Sonnabend noch auszuprobieren.
Infizierte in Berlin: 6236, Tote: 164.
Sonnabend. Am Sonnabend schickt sie mir die Ergebnisse vom Test. Der erste ist negativ. Sie hat also keine Antikörper und ist demnach noch nicht gegen Corona immun. Der zweite Test ist ebenfalls negativ. Jetzt fragt sie sich natürlich, ob sie überhaupt Corona hatte.
Am Nachmittag gehe ich mit einem Freund auf die „Hygiene“-Demonstration in Mitte. Die Stimmung ist angespannt. Niemand trägt Masken oder hält den Mindestabstand ein: Impfgegner, „Corona-Rebellen“ und Meditierende im Schneidersitz. Eine Frau ruft ins Mikrofon, dass sie wegen der Demonstration nach Berlin gekommen sei. An einem Haus steht: „Geht Heim!“ Sie sagt: „Was ist, wenn dieses Land nicht mehr meine Heimat ist?“
Infizierte in Berlin: 6242, Tote: 164.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 10. 05. 2020