In dieser Woche habe ich sehr oft „Happy Birthday“ gesungen. Eigentlich fast jedes Mal, wenn ich mir die Hände gewaschen habe. Es heißt ja, dass man den Refrain – gibt es eigentlich Strophen? – zweimal beim Hände waschen singen soll. Dann sind ungefähr 20 Sekunden um, und man kann mit dem Abtrocknen (Papierhandtücher!) beginnen.
Es wurde eine sehr turbulente Woche, wahrscheinlich für sehr viele Menschen in dieser Stadt. Während in der vergangenen Woche am Montag der erste Corona-Infizierte in Berlin gemeldet worden war, ist es in dieser Woche das erste deutsche Todesopfer, das an Covid-19 starb. Die Kurve der Infizierten ist genauso exponentiell gestiegen wie unsere Lernkurve: die meiner Schwägerin, meines Arztes, meines Chefs und meine sowieso. Jeden Tag erfahren auch die Wissenschaftler mehr über das Virus. Und je mehr wir wissen, umso geringer – so zumindest ist es bei mir – wird meine Angst.
Ein Freund schrieb am Ende dieser Woche, dass er keine Lust mehr habe, irgendetwas über Corona zu lesen. Mir geht es zum Glück genau anders herum, ich möchte möglichst alles wissen, auch die Details. So finde ich es faszinierend, wenn Musikhochschulen die ersten Flügel komplett renovieren müssen, weil übereifrige Musikstudenten die Klaviertasten permanent mit Desinfektionsspray eingesprüht haben. Doch das hatte ich erst Sonnabend erfahren, bei meinem Klavierlehrer. Also der Reihe nach.
Montag Ich komme morgens zur Arbeit, und es fühlt sich fast wie ein Déjà-vu an: Der erste deutsche Tote wird gemeldet. Die Stimmung ist ernst, aber noch sollen wir alle normal ins Büro kommen. Aber mit einem Schlag hört auch eine gewisse Leichtigkeit auf, die bei dem Thema bisher doch spürbar war. Gegen Mittag lese ich auf Twitter davon, dass in Italien allein an einem Tag rund 100 Menschen an Covid-19 gestorben sind. Ich trinke währenddessen einen Kaffee, verschlucke mich und bekomme einen Hustenanfall. In einem Großraumbüro gibt es derzeit nichts Schlimmeres. Zwischen den Hustattacken rufe ich nur „Verschluckt!“, und meine Kollegen sind dann alle beruhigt.
Am Nachmittag muss ich noch einmal zur Apotheke und zum Arzt. Ich frage bei der Gelegenheit die Krankenschwester, wie es denn „sonst so“ läuft. Sie sagt, dass sie ab Mittwoch nach Japan fliege, „wenn der Flieger denn geht“. Derzeit ist das noch möglich, aber man sei ja angehalten, so wenig wie möglich zu verreisen.
In der Apotheke steht vor mir eine Frau, die ganz aufgeregt ist. Als sie dran ist, kauft sie Hustenbonbons. Sie hustet wirklich sehr stark. Mit kratziger Stimme sagt sie, dass sie „fünfeinhalb Stunden!“ bei ihrem Hausarzt gewartet habe. Sie habe sich testen lassen wollen. Die Apothekerin lächelt. Nachdem sie das Geld entgegengenommen hat, greift sie unaufgeregt zum Desinfektionsmittel. Dann bin ich dran. Ich kaufe ebenfalls Hustenbonbons und ein Erkältungsbad.
Am Abend treffe ich einen Kollegen einer anderen Zeitung in der Bar „Schwarzsauer“ an der Kastanienallee in Prenzlauer Berg. Die Kellnerinnen sind ausnehmend freundlich und bringen die Getränke sogar an den Tisch. Wir bestellen Bier vom Fass, so wie alle hier, und zeigen uns Fotos unserer Kinder. Als er sagt, dass in zwei Wochen die Taufe seiner Tochter sei, frage ich ihn, ob er denn wirklich glaube, dass die Taufe stattfinde. Er schaut, als ob er mich nicht verstünde: „Was meinst Du?“ Ich erkläre ihm, dass in Italien gerade auch Taufen und Hochzeiten abgesagt werden. Er sagt, so schlimm werde es nicht und lädt mich für Sonnabend zu seinem Geburtstag ein.
Infizierte in Berlin: 48.
Dienstag. Am Morgen benutze ich zum ersten Mal den Ebola-Bump. So heißt es, wenn man zur Begrüßung von Menschen statt der Hand sich mit der Ellenbogenspitze kurz berührt. Einmal habe ich es vergessen. Zur Strafe singe ich zwei Happy Birthdays.
Über den Tag verteilt lese ich immer wieder die Einträge von Christian Y. Schmidt, dem Autor, den ich vergangene Woche traf. Er kann seit einer Woche keine Freunde mehr auf Facebook hinzufügen, er hat die Grenze von 5000 erreicht. Er verlinkt aktuelle Meldungen über Corona weltweit, darunter beginnen oft interessante Diskussionen. Unter einem Text über die ersten Toten in Deutschland hat eine Nutzerin geschrieben: „78“. Jemand fragt: „Was meinst Du damit?“ Die Antwort: „Na ja, der Patient hätte ja den nächsten Winter ohnehin nicht erlebt.“ Es entspinnt sich ein Streit, sie legt nach: „Als Konjunkturmotor taugt das Ding ja besser als Ostern oder Valentinstag.“ Die Aggressivität, mit der einige auf sie reagieren, ist aber fast so besorgniserregend wie ihre Meinung. Ich schreibe Schmidt und bitte ihn um ein zweites Treffen.
Infizierte in Berlin: 58.
Mittwoch Zum ersten Mal ist zu spüren, dass sich in den nächsten Tagen einiges ändern wird im Zusammenleben in Deutschland. Gefühlt jede zweite App erinnert mich daran, dass wir in einer neuen Zeit leben: Dating, Taxi-bestellen, selbst Airbnb erinnert mich an das Schlagwort, dass wir ab diesem Tag mit in unseren Wortschatz aufnehmen: „social distancing“. Es geht darum, Abstand voneinander zu halten. Ein Freund verliert zwei wichtige Auftraggeber, für die er die Öffentlichkeitsarbeit machen sollte. Er macht sich Sorgen um seine Existenz. Ein anderer sollte einen Preis bei einem Filmfestival gewinnen, er wurde bereits angerufen und vorbereitet. Jetzt ist das Festival abgesagt, und er bekommt auch die 2500 Euro Preisgeld nicht. Und der Komiker Dieter Nuhr twittert, dass er wegen eines Virus, das eine „Erkrankungsrate von 0,0001 Prozent hat“, doch bitte auftreten möchte. Der Journalist Gabor Steingart verteidigt ihn gegen die vielen Gegenstimmen mit: „Der Mann will doch nur arbeiten.“ Es passt alles nicht zusammen.
Am Nachmittag treffe ich Christian Y. Schmidt, wieder im „La Tazza“ in Prenzlauer Berg. Er ist deutlich besser gelaunt in dieser Woche. Er hat nicht mehr das Gefühl, dass das Thema in Deutschland heruntergespielt wird. Aber er ist müde. „Täglich nehme ich mir vor, heute machst Du weniger.“ Inzwischen bekomme er viele private Nachrichten von Menschen, die wissen wollen, ob und wo sie sich testen lassen können. „Ich bin kein Arzt“, sagt er, „aber das offenbart, dass mehr Aufklärung nötig ist.“
Sicherlich, es gebe Informationen im Netz und im Fernsehen. Aber in China war die Seuche auch im Straßenbild präsent. „Auf Bannern, Plakaten und auf LED-Leinwänden wurde den Leuten mitgeteilt, wie sie sich zu verhalten haben.“ Das Fehlen solcher Aufklärung sei ein Riesenproblem. „Inzwischen denke ich, dass es hier schlimmer wird als in Italien.“
Nach dem Treffen gehe ich zu meinem Yoga-Kurs. Bei „Yoga für Dich“ in Prenzlauer Berg ist es wirklich für einen Moment, als gebe es Corona nicht. Wir sind mehr als 20 Teilnehmer im Kurs. Niemand hustet, als wir „Ohm“ sagen sollen. Und wenn wir eine Übung nicht schaffen, dürfen wir „ein Klötzchen unters Popöchen“ legen. So redet man dort wirklich, und es könnte nicht besser sein. Danach gibt es gefiltertes Wasser. Nur das Desinfektionsspray im Bad erinnert an die neue Zeit, die außerhalb des Studios gerade anbricht.
Infizierte in Berlin: 81.
Donnerstag Es deutet sich an, dass sich unser Büroalltag verändern wird. Inzwischen hat das Virus in zwei Berliner Redaktionen „zugeschlagen“. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass auch bei uns die erste Quarantäne verhängt wird. Wir sollen unsere Arbeitsplätze räumen und uns für den kommenden Tag im Home Office einrichten. Ich lese ständig neue Meldungen aus Italien und England, und selbst in meinen Chatgruppen gibt es kaum ein anderes Thema.
Ein Verwandter von mir schickt mir einen Text, der doch „ein interessanter Beitrag“ zur aktuellen Lage sei. In dem Kommentar „Tagesdosis“ bringt ein „Friedensaktivist“ namens Rüdiger Lenz Themen wie Trump, Afghanistan, Putin, Ramelow, Greta Thunberg, Ghandi, Shakespeare und das Corona-Virus in derart seltsame Zusammenhänge, dass man am Ende nicht mehr weiß, was er eigentlich sagen wollte. Zwei Zitate: „Glaubt man den Medien, ist das Ende der Welt angebrochen.“ Und: „Viele hier glauben vermutlich, das Virus sei schlimmer als das Ebola-Virus, aber dabei merken sie nicht, dass das Geschäft der Angstmacherei längst im Gange ist.“
Ich bin schockiert, dass es Menschen gibt, die noch immer nicht verstanden haben, dass es für die meisten nicht um die konkrete „Angst vor dem Tod“ geht, sondern darum, unser Gesundheitssystem nicht mit zu vielen Fällen handlungsunfähig zu machen. Dabei sagen doch seit Wochen alle Experten auf gefühlt allen Kanälen genau das. Hat Christian Y. Schmidt doch Recht? Brauchen wir wirklich die großen Tafeln, die uns daran erinnern, ruhig zu bleiben, uns von einander fern zu halten und einfach öfter die Hände zu waschen?
Den Rest des Tages verbringe ich am Telefon: Meine Eltern haben ihren Kegelabend für Sonnabend abgesagt, der
50. Geburtstag, zu dem ich eingeladen war, ist ebenfalls abgesagt – und einer meiner Freunde, der im Krankenhaus arbeitet, erzählt, dass sie angefangen haben, sich selbst Schutzmasken zu nähen.
Infizierte in Berlin: 123
Freitag ist der erste Tag, an dem ich zuhause arbeiten muss. Dort entsteht auch dieser Text, im „Home-Office“. Ich werde einer WhatsApp-Gruppe namens „Homies“ zugefügt. Dort werden Themen besprochen und Arbeitsaufträge verteilt. Die Telefonkonferenz funktioniert, die Leitung hält den zugeschalteten Anrufern stand. Nur ein Problem: Die „Homies“ wollen, dass die Ressort-Chefs näher an das Mikrofon rücken, aber die sitzen in der Redaktion ja extra weit weg voneinander.
Ich frühstücke und lese von Trumps Drive-In-Tests auf Parkplätzen. In meiner WhatsApp-Gruppe werden Fotos voller Kühlschränke und von Toilettenpapier-Reserven gezeigt, alles natürlich auch ironisch, man weiß ja, dass man jederzeit Nachschub bekommt. Oder? In der Mittagspause gehe ich in die Kiezkantine, ein soziales Projekt, wo vor allem Menschen mit psychischen Erkrankungen arbeiten. Noch vor zwei Wochen hatte sich ein Mitarbeiter beschwert, dass wegen zu vieler Gäste die Köche unter Stress gerieten. Heute ist nicht jeder Tisch besetzt. Das Hirschgulasch ist sensationell. Am Ausgang gibt es kostenlos für jeden Gast Papiertaschentücher.
Danach gehe ich zu meinem Frisör, der heißt „Notaufnahme“. Es ist gut besucht, vor fast jedem Spiegel sitzt jemand und wird frisiert. Mein Friseur sagt dass immer mal wieder jemand anrufe und beginne, eine Krankheitsgeschichte vorzutragen. „Ich unterbreche dann sofort und gebe die Notrufnummer.“ Ansonsten würden sie auf die Desinfektion achten. Beim Frisieren haben wir über die Pläne am Wochenende gesprochen. Ausgehen fällt aus. Einer meiner Freunde schreibt in die Party-Whats-App-Gruppe: „Wir feiern bei meiner Mutter. Bärbel statt Berghain.“
Infizierte in Berlin: 174.
Sonnabend Ich stehe morgens auf meinem Balkon und sehe einer Frau zu, wie sie schwere Taschen trägt. Was trägt sie? Natürlich! Sie war einkaufen! Mir fällt ein, dass ich gegen Mitternacht noch mit einem Freund in Wien telefoniert hatte. Er erzählte, dass er nur noch leere Regale gesehen hatte. „Später am Abend musste die Polizei die Supermärkte schützen“, sagte er, „weil es zu Schlägereien kam.“ Ich will mich nicht um Milch prügeln müssen. Es kann ja nicht schaden, im Notfall ein paar asiatische Nudelsuppen mehr zu Hause zu haben.
In meinem Supermarkt gibt es zunächst keine Einkaufswagen mehr. Nach zwei Minuten habe ich einen, den Wagen schiebe ich mit zwei Fingern. Ich setze meine Kopfhörer auf und starte den Podcast von Drosten, den alle meine Freunde sklavisch hören. Die Folge vom Freitag behandelt in der Überschrift „Natürlich kann man noch einkaufen gehen“ ausgerechnet Hamsterkäufe. Mich stört dieses „Natürlich“. Nichts fühlt sich an wie immer. Im Supermarkt wirken alle gereizt. Als ob die Marktleitung auf jeden Fall verhindern will, dass Bilder von leeren Regalen entstehen, wird aufgefüllt, was das Zeug hält.
An der Wursttheke kaufe ich die letzten beiden Weißwürste, nicht weil ich heute welche essen will, eher, weil es eben die letzten beiden sind. Ich frage, ob neue Kollegen eingestellt wurden. „Das ist schon die ganze Zeit so!“ Die Verkäuferin packt mir die Wurst ein und sagt: „Wenn alles andere zu ist, wir bleiben auf, manchen Sie sich da mal keine Sorgen, heute noch bis 23 Uhr.“ Außerdem kaufe ich ein: Knoppers-Riegel (neu und nur für kurze Zeit), vier Packungen Spaghetti, zwei Packungen Speisequark und einen Saft, auf dessen Flasche steht, dass er „das Immunsystem stärkt“. Die Fertigpizza-Kühltruhe ist fast leer.
Dann fahre ich zu meinem Klavierlehrer. Wir benutzen den Ebola-Bump zur Begrüßung, dann schickt er mich Hände waschen. Nach dem Unterricht reden wir darüber, dass Klaviere an der Hochschule kaputt seien, weil Studenten Desinfektions-Spray auf die Tasten sprühen. Dann hat er es eilig. Er will zum Flieger, Ski-Urlaub in den französischen Alpen. Am Montag hätte mich das noch nicht gewundert. Heute schon.
Abends gehe ich zu einem Geburtstag. Die Feier ist von der Kneipe in seine Wohnung verschoben worden. Alles ist ja dicht, ab heute. Kein Kino, keine Kneipe, kein Theater, kein Schwimmbad, keine Sauna, kein Museum, kein Club. Wir sitzen um einen Kasten Bier und singen Happy Birthday. Nur einmal. Für ihn.
Infizierte in Berlin: 216.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 15. 3. 2020