Berlin. In dieser Woche habe ich gelernt, was es heißt, Angst um einen Freund zu haben. Am Wochenende hatte ich erfahren, dass ein Freund von mir wegen des Coronavirus auf der Intensivstation liegt. Ich habe seiner Frau versprochen, keine Details darüber zu schreiben. Sie ist zu Hause, ihr Test war negativ. Sie telefoniert mit Ärzten und Freunden und Kollegen und ich versuche, nicht zu oft nachzufragen. Aber natürlich ist das jeden Tag der erste Gedanke: die Schläuche, die Geräte, die Ärzte in Masken oder Schutzanzügen. Wenn man einmal diese Intensivstationen in Italien gesehen hat, kriegt man das nicht mehr aus dem Kopf.
Im Vergleich dazu ist alles, was ich erlebe, ganz klein. Denn die fünfte Woche dieser Krise ist vor allem eine Woche der Stagnation. Jemand sagte neulich: „Wir erleben gerade den Teil eines Films, der normalerweise in der Rückblende zusammengeschnitten wird.“ Genauso fühlt es sich an. Es tut sich einfach wenig. In den Wochen zuvor habe ich viele alte Freunde angerufen. Soll ich sie einfach noch einmal anrufen? Auch die Anrufe bei meinen Eltern werden weniger oder kürzer. Das ist nicht schlimm, es ist wohl der Alltag im Nicht-Alltag, die schlichte Ereignislosigkeit, die Einzug hält. Der Dienstag ist der Donnerstag ist der Montag. Na ja, fast. Die Zahlen steigen stetig, und seit dieser Woche macht auch ein kleiner Anstieg schon ein sehr schlechtes Gefühl.
Montag. Morgens lese ich eine Meldung aus Indonesien, dort ist es schon abends. Den letzten Sommer habe ich in Indonesien verbracht. 30 Inseln in vier Monaten. Es fühlt sich jetzt an wie die gute alte Zeit. Der schönste Ort war eine Insel namens Arborek, mitten im Pazifik. Sie ist 600 Meter lang und 200 Meter breit, umgeben von Korallen. Es gibt keine Autos, im Dorfzentrum steht eine kleine blau angestrichene Kirche, in der sich das gesamte Dorf am Sonntag trifft. Man darf nicht unter Palmen entlanglaufen, wegen der Kokosnüsse. Logisch.
Githa war meine Tauchlehrerin auf Arborek. Wir saßen abends manchmal am Strand, also, alles ist ja Strand auf Arborek. Sie schreibt mir, dass ihre Insel in Quarantäne sei. Die 200 Bewohner von Arborek halten sich quasi an die gleichen Regeln wie die Menschen in Berlin. Das heißt in ihrem Fall, sie bekommen nur ab und zu Nahrung und Trinkwasser per Boot geliefert. Githa hat gehört, dass es in Berlin gerade schwierig sei, dieses Drinbleiben. Sie schreibt, dass ihr Neffe für ein paar Wochen zu ihr gezogen sei. Es sei sicherer auf der kleinen Insel. Sie hat ihn mit zu den Korallen genommen. Als sie wieder im Schiff waren, sagte er: „Die Fische sehen so glücklich und frei aus.“ Githa habe weinen müssen, schreibt sie. Sie sendet liebe Grüße.
Infizierte in Berlin: 2581. Tote: 13.
Dienstag. Ich chatte derzeit viel mit Telegram, die App hat die besten Sticker. Seit neuestem haben sie kleine grüne lächelnde Viren, die mal Bier trinken, mal einander umarmen – und anstecken. Auf manchen Stickern schaut das Virus ganz traurig, als ob die Aufregung ihm leidtut.
In der Mittagspause gehe ich kurz zum Vietnamesen gegenüber. Für sieben Euro machen sie sehr gute Reisgerichte. Sie haben ein humoriges Plakat im Schaufenster, das sie als Postkarte an jede Tüte kleben: Eine Frau, die eine Rolle Toilettenpapier auf dem Kopf hat. Es sieht lustiger aus, als es sich anhört. Dabei kann ich eigentlich keine Klopapier-Witze mehr hören. Beim Essen sehe ich, dass es schneit. Für einen Moment geht es im Berliner Internet nur um Schneeballschlachten, Schneemänner und um den Klimawandel.
Meine erste Maskenbestellung im Internet
Nachmittags bestelle ich mir meine ersten Masken. Dafür habe ich all meine Prinzipien über Bord geworfen und eine wahrscheinlich personalisierte Werbung auf Facebook angeklickt und direkt drei Stück geordert. Der Hersteller in Mannheim ist sonst bekannt für Hipster-Socken in schrillen Farben. Jetzt stellen sie Masken her, für stolze zehn Euro das Stück, aus Baumwolle, also nicht medizinisch einsetzbar. Aber ich könnte damit in Jena schon wieder auf die Straße. Ich überlege noch, ob ich nicht gleich auch Socken mit dazu bestellen soll. Wer weiß, wann das wieder möglich ist, aber ich entscheide mich dagegen. Die Lieferung soll zwei bis drei Tage dauern. Als ich bestellt habe, erreicht mich eine E-Mail. „Wir sind zwar Profis was Textilproduktion angeht, jedoch müssen wir hier eine komplett neue Lieferkette aufbauen…“. Dachte schon, dass das länge dauern wird.
Infizierte in Berlin: 2777. Tote: 15.
Mittwoch. Morgens höre ich die Corona-Lieder von den Ärzten und von Danger Dan. Es ist (schon wieder) ein Lied über Toilettenpapier. In Indonesien habe ich regelmäßig die linke Hand benutzt und danach so lange die Hände mit Seife gewaschen, dass es leicht für vier Happy Birthdays gereicht hätte. Der Refrain hat mich doch berührt. Zu sanften Dur-Akkorden am Klavier singt der Hip-Hop-Rapper: „Doch jedes Blatt Klopapier dieser Welt / würd ich geben, würd ich geben / für ‘nen Frühlingsspaziergang mit dir durch den Berliner Zoo.“
Mittags treffe ich jemanden, der mir erzählt, dass er einen Krebs erfolgreich überstanden hat. Die Ärzte gaben eine Überlebenschance von weniger als einem Prozent. Dass er es geschafft, sagt er, hatte auch mit viel Liebe zu tun. Ich denke an Schläuche, Masken, Schutzanzüge und hoffe, dass auch mit meinem Freund wieder alles gut wird.
Ich mit dem Fahrrad bis zum Alexanderplatz, um einmal wieder meine Ration asiatischer Lebensmittel aufzustocken: Bier und Tee aus Korea, Gewürze aus Indonesien, Chili aus China. Der Laden ist voll, aber alle sind bemerkenswert rücksichtsvoll. Die Abstands-Schlange reicht quer durch den Laden. Manche tragen eine Maske.
Abends schaue ich die Trump-Show im Internet, das Weiße Haus streamt die Pressekonferenz live, allabendlich um 23 Uhr. Auf YouTube läuft sie auch, aber YouTube schaltet so oft Werbung, dass ich es nicht mehr ertrage. Nein, ich werde nicht von Helen Mirren Schauspiel in einer „Masterclass“ lernen!
Es ist jedenfalls absurd, wie schnell Trump es schafft, von jedem ernsten Thema auf sich zu kommen. Am heutigen Mittwoch sagt er: „Wussten Sie, dass ich Nummer eins auf Facebook bin? Ich dachte, dass ist nett. Das steht ja für etwas.“ Ich halte nie bis zum Ende durch.
Infizierte in Berlin: 2993. Tote: 17.
Donnerstag. Wenn ich morgens aufwache, muss ich seit einiger Zeit immer mein Mobiltelefon schütteln, nur dann stoppt der Wecker in der App „SleepTown“. Das Besondere an dieser App ist nicht die schöne Aufweck-Melodie, sondern dass sie mich für das Aufwecken morgens belohnt. Wenn ich das Telefon bis zu einer bestimmten Zeit morgens geschüttelt haben, wird ein Haus gebaut. Ich habe das jetzt vier Wochen lang gemacht und mir quasi im Schlaf eine kleine Stadt gebaut. Leben wir nicht in der schönsten aller neuen Welten?
Ich merke noch mehr als sonst, dass ein Leben ohne mein Telefon in Quarantäne schlicht nicht möglich wäre. Die morgendliche Konferenz, der Drosten-Podcast, die Telegram-Sticker, die kleinen Foto-Witze, die in der Homie-Chat-Gruppe herumgeschickt werden.
Und dann das: Am Donnerstag schickt mir meine zwölfjährige Nichte eine selbstproduzierte Nachrichten-Sendung. Mein neunjähriger Neffe sitzt in einer Papp-Kiste, aus der die beiden einen Bildschirm gebastelt haben und trägt die Themen vor: „Frühjahrsputz, Ostern und das Wetter – zum ersten Thema gebe ich ab zu unserer Korrespondentin vor Ort.“ Die Korrespondentin-Nichte interviewt die eigene Mutter beim Putzen. Die spielt mit und man merkt ihr beim Beantworten der Fragen kaum an, dass sie sich auch etwas Hilfe beim Putzen vorstellen könnte. Aber das Highlight ist das Interview mit dem Osterhasen: Mein kleiner Neffe, zwei Jahre alt, mit einer Strumpfhose (Ohren!) auf dem Kopf, einem Schnuller im Mund und einem Körbchen mit Eiern in den Händchen. Die Korrespondentin fragt den Hasen: „Macht es Spaß?“ Sie nimmt ihm den Schnuller aus dem Mund. Er sagt ins Mikro ganz laut: „Ja!!!“
Am Abend gegen 23 Uhr mache ich einen Abstands-Spaziergang mit zwei Freunden. Mit Späti-Bier in der Hand laufen wir die leere Schönhauser Allee Richtung Pankow. Als uns ein Polizeiauto entgegenkommt, sehe ich den Bußgeldkatalog vor mir und will in eine Seitenstraße wechseln. Aber das Auto fährt vorbei. Als wir uns kurze Zeit später trennen, schickt einer der beiden noch ein Foto von einem komplett intakten Metall-Rollkoffer einer teuren Marke. Die Dinge kosten normalerweise mehrere Hundert Euro. Jemand hatte ihn einfach abgestellt, der Freund hat ihn natürlich mitgenommen. Wir werden ja bald wieder reisen können, oder?
Infizierte in Berlin: 3223. Tote: 20.
Freitag. Zwischen meinen Schreibeinsätzen gehe ich regelmäßig an mein Klavier. Der Unterricht per Skype funktioniert super. So langsam beginnt Bachs zweites Präludium auch nach etwas zu klingen. Ich bemerke aber, dass ich immer Schritte über mir höre, sobald ich tagsüber Klavier übe. Vielleicht geht mein Obermieter immer genervt ins Schlafzimmer? Ich weiß es nicht.
Gegen Mittag skype ich mit Christian Y. Schmidt, jenem Schriftsteller, der auch in dieser Woche wieder mindestens dreimal so viele Corona-Meldungen wie ich gelesen hat und dank seiner chinesischen Frau in Peking weiß, was zur Zeit in China los ist. Nachdem er sich über meine verwuschelten Haare lustig gemacht hat, reden wir über diese Corona-App, von der jetzt alle reden. In China müssen alle eine App auf dem Telefon installiert haben. So lassen sich im Infektionsfall alle Kontakte verfolgen, und die App weiß auch, wann man nach China eingereist ist. Ohne das Okay dieser App dürfen Chinesen weder die U-Bahn benutzen, noch die Chinesische Mauer oder einen Club besuchen.
Schmidt ist dafür, dass eine solche oder ähnliche App auch in Deutschland eingeführt wird. „Es wird ja sowieso freiwillig sein“, sagt er. „Man kann ja hier keinen dazu zwingen.“ Ohne elektronische Unterstützung sei es zu schwierig, Infektionswege nachzuvollziehen. „Sonst dauert die Ausgangssperre noch länger.“ Die App könnte auch sicherstellen, dass man wieder reisen könnte. „Doch wirklich sinnvoll ist eine solche Maßnahme erst, wenn die Neuinfektionen wieder unter 200 pro Tag sinken.“ Dass Deutsche mehr Wert auf Datenschutz legen, findet er gut. Aber auch ich weiß, dass wir täglich mehr private Daten mit Unternehmen wie Facebook oder eben Skype teilen, als uns lieb ist.
Sonst ist ihm aufgefallen, dass Masken in Berlin keine Besonderheit mehr sind. „Selbst die Kassiererin bei Rewe trug gestern eine“, sagt er. „Aber sie sagte, dass sie die selbst besorgt habe.“ Auch die Menge der Menschen, die „die Aufregung für übertrieben halten“, ist bei uns beiden geringer geworden. Vielleicht wirkt Christian Y. Schmidt deshalb in dieser Woche nicht so wütend wie sonst. Oder ist es deshalb, weil auch bei ihm diese Ereignislosigkeit Einzug gehalten hat? „Mein Lebenswandel hat sich gar nicht so sehr verändert“, sagt er. „Ich traf mich auch vor Corona meist zu zweit mit Freunden.“
Am Abend tue ich schon wieder etwas Illegales: Ich lade jemanden zum Abendessen ein. Als wir im Drei-Meter-Abstand langsam die erste Weinflasche leeren, muss ich an Christian Drosten denken. Er hatte erzählt, dass sich zwei Menschen infiziert hatten, die nur Rücken an Rücken saßen. Wir sind beide seit drei Wochen im Homeoffice, gehen nur auf kurze Spaziergänge und sind symptomfrei. Trotzdem könnte die Polizei klingeln, wenn die Nachbarn das Klingeln an meiner Wohnungstür gehört haben. Ein Hamburger Cousin hatte mir geschrieben: „Die Leisetreter, Denunzianten und Blockwarte kommen wieder. Oder sie waren nie weg. Ich habe sie schon gesehen, in der Nachbarschaft.“
Infizierte in Berlin: 3486. Tote: 22.
Sonnabend. Am Morgen gehe ich zum Briefkasten. Ich hatte gestern meine Wohnung gar nicht verlassen. Die Masken sind noch immer nicht angekommen. Dann gehe ich auf den Balkon und nehme ein Video für meine Oma auf. Sie wird am heute 88 Jahre alt. Sie lebt in einer Stadt in Brandenburg, nicht weit von ihrer Haustür, ist ein Kreisverkehr. Wegen der Statue in der Mitte, die entfernt an das Virus erinnert, heißt er jetzt „Corona-Kreisel“. Nachts wird er schön angestrahlt. Die Tage meiner Oma, sagt sie, seien oft ereignisarm. Sie puzzelt viel. Ab heute hat sie ein Puzzle von einem Vulkan in Indonesien im Morgengrauen. Im Video sage ich zu meiner Oma: „Wir sehen uns bald wieder.“
Infizierte in Berlin: 3486. Tote: 22.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 5. 4. 2020