Berlin. In dieser Woche kam zum Glück etwas Hoffnung zurück, dass dieses Leben nicht noch Jahre so weitergehen wird. Die Vorfreude auf ein Ende der „Maßnahmen“ wurde fast überlebenswichtig. Wenn einem fast jeder Fernsehsender per Dauereinblendung das Zuhausebleiben empfiehlt und sogar mein Mobilfunkbetreiber dafür sorgt, dass links oben die ganze Zeit die gleiche Empfehlung anstatt „T-online“ angezeigt wird, ist es auch irgendwann mal gut. Schon kapiert!
Montag. Morgens läuft im Radio dieser Song von „Wir sind Helden“: „Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück.“ Ich rasiere mich und muss lächeln. Sitzen da jetzt in den Musikredaktionen Leute, die sich die ganze Zeit überlegen, welche Lieder in diesen Zeiten eine andere Bedeutung haben?
Ostermontag ist ohne Familie irgendwie auch wie jeder andere Tag. Ich habe zwei Pakete zeitgleich verschickt. Zugegeben: Mittwoch vor Ostern war sportlich geplant – aber warum erreicht das eine Paket Hannover bis Sonnabend und braucht bis Bernau fast eine Woche? Meine Familie hat Bilder von der Ostereiersuche geschickt, mein zehnjähriger Neffe zeigt darauf traurig seinen Osterkorb in die Kamera. Traurig, weil er nur so wenig gefunden hat, oder weil dieses Ostern so anders ist?
Am Nachmittag telefoniere ich mit einem Freund in Brasilien. Er wohnt in Rio de Janeiro, an der Stelle, wo die beiden Strände Copacabana und Ipanema in einem rechten Winkel aufeinandertreffen. Er sagt, er joggt jeden Morgen am Wasser. Alles sei fast leer, obwohl der Präsident Jair Bolsonaro die Krankheit als „Gripezinha“ bezeichnet – ein „Grippchen“. Mein Freund will vorerst dort weiter wohnen bleiben. Er liest viel, im Sommer wollte er seinen Geburtstag in Berlin feiern. Wir verabschieden uns mit diesem ungewissen Gefühl, dass es jetzt noch zu früh für irgendwelche Pläne ist.
Infizierte in Berlin: 4667. Tote: 56.
Dienstag. Morgens fahre ich zu einem Interview mit einer Berührungstherapeutin in Berlin. Die studierte Medizinerin heißt „Kuschel“ mit Nachnamen, und wir reden fast zwei Stunden darüber, was es bedeutet, in Zeiten wie diesen in Berlin allein zu sein. Es herrsche hier ohnehin eine „Berührungsarmut“, sagt sie. Und sie meint damit nicht, „angefasst werden“. Das sei ein großer Unterschied. Bei einer Berührung ist man 100 Prozent bei der Sache und achtet genau auf jede Reaktion des Berührten.
Sie arbeitet nicht nur mit Singles, die lange keinen Partner hatten. Sie denkt auch an Menschen mit Behinderung oder die Witwen und Witwer, die allein in ihren Wohnungen sitzen. Sie hat sich akribisch vorbereitet auf das Interview und zitiert gleich zu Beginn ihre Lieblingsautorin zum Thema Berührung, Virginia Satir: „Wir brauchen jeden Tag vier Umarmungen zum Überleben, acht Umarmungen zum Leben, zwölf Umarmungen zum Wachstum.“ Gerade bekommen die meisten, die allein leben, gar keine Umarmungen. Auch sie als Therapeutin tut das im Augenblick nicht. Aber sie kann Hausaufgaben verteilen. Es gibt eine Art, sagt sie, sich selbst (nicht sexuell) aufmerksam zu berühren, die etwas Heilsames haben kann.
Als ich aus dem Interview herauskomme, fühle ich mich, als hätte ich selbst gerade eine Therapiesitzung gehabt. Ich übersteige eine Absperrung, setze mich auf einem Spielplatz in die Sonne und telefoniere mit einem lieben Menschen. Ich hoffe, dass mich niemand „erwischt“, 15 Minuten später geht es mir schon wieder besser.
Abends schaue ich mit einem Freund bei mir zu Hause „Tiger King“ auf Netflix. Es ist eine irre Dokumentation über das dunkle Herz von Amerika. Ich lerne, dass mehr Tiger in US-Käfigen leben als in freier Wildbahn im Rest der Welt. Es ist deprimierend und faszinierend zugleich.
Infizierte in Berlin: 4736. Tote: 62.
Mittwoch. Gegen Mittag gehe ich auf einen Spaziergang mit einem Freund. Wir laufen an einem Geschäft vorbei, das „Hüte und Wein“ heißt und genau diese beiden Dinge normalerweise verkauft. Der Inhaber stellt gerade ein paar Weinflaschen auf mehrere Kisten vor das Geschäft. Daneben steht ein Schild: „Wir verkaufen derzeit keine Hüte.“ Wir laufen auf den Mauerpark zu, an der Graffiti-Wand war ja zu Beginn der Krise Gollum aus dem „Herr der Ringe“ gesprüht, wie er eine Rolle Klopapier als „Mein Schatz“ in der Hand hält. Inzwischen ist die Rolle übersprüht, und direkt daneben hält sie jetzt das Ratten-Eichhörnchen aus „Ice Age“ in der Hand. Gedankenblase: „He He He“. Auf dem Rückweg kaufe ich zwei Flaschen Wein aus dem Rheingau. „Da kann man nichts falsch machen“, sagt der Verkäufer.
Als ich nachmittags am Rechner sitze und arbeite, höre ich durchs offene Fenster Applaus. Es ist erst 16 Uhr, für das Krankenschwester-Klatschen ist es die falsche Zeit. Vom Balkon aus sehe ich, dass rund 15 Menschen mit Abstand zueinander stehen. Das sieht von oben immer noch sehr seltsam aus, wie sich Grüppchen bilden und versuchen, nicht wie eine „illegale Gruppe“ auszusehen.
Ich beschließe eine spontane Pause, überquere die Straße und stelle mich dazu. Offenbar wohnt die Künstlerin „Klara Li“ in meiner Straße – und ist an diesem Mittwoch 54 Jahre alt geworden. Sie ist es auch, die ihre Freunde auf den Bürgersteig vor ihrem Atelier eingeladen hat. Jeder hat einen Zettel in der Hand mit dem Text zum Lied „Kleines Senfkorn Hoffnung“.
Das ist eigentlich ein Kirchenlied, in dem es darum geht, dass aus kleinen Dingen irgendwann große Dinge werden, wenn man sie pflegt. Aus dem Senfkorn wird am Ende der ersten Strophe ein Baum, der Schatten wirft und „Früchte trägt für alle, die in Ängsten sind“. Klara Li selbst freut sich, dass so viele Menschen zu ihrem Geburtstag gekommen sind. Ich rede mit so vielen fremden Menschen wie schon lange nicht mehr.
Am Abend backe ich einen Apfelkuchen; vor allem, weil an diesem Tag der Quark im Kühlschrank seine Haltbarkeit verliert. Mein Kühlschrank-Regime ist überhaupt in den letzten Wochen perfekt geworden. Er ist sauber, gut geordnet und wird täglich etwas geleert. Ich male ein grünes Virus auf den Kuchen, rund und mit schuldbewusst-traurigem Gesicht. Ich gebe meinen Nachbarn jeweils ein Viertel des Kuchens. Mein Opa war Bäckermeister; mir fällt auf, dass sein Apfelkuchen um ein Vielfaches besser geschmeckt hat. Ich habe ja jetzt Zeit zum Üben, aber das Mehl ist alle.
Infizierte in Berlin: 4870. Tote: 74.
Donnerstag. Mein Nachmittagsspaziergang führt mich dieses Mal zum Potsdamer Platz. Ich bin dort mit einem alten Freund verabredet. Ich setze mich in die Sonne, neben den geschlossenen Arkaden auf einer Bank hinter einer Absperrung. Eine Mitarbeiterin von „Butter Lindner“ kommt und setzt sich im großen Abstand dazu. Sie sagt: „Seien Sie bloß vorsichtig hier“, dann zündet sie sich eine Zigarette an. Ich frage, was sie meint. Sie zeigt auf die umliegenden Wohnungen: „Die Polizei war heute schon einmal da, weil ich hier gesessen habe, offenbar haben die Leute hier nichts Besseres zu tun.“ Ich lerne das neue Wort „Bürgeranzeige“ und wünsche ihr einen schönen Tag.
Ich laufe mit meinem Freund langsam durch die leere, sonnige Innenstadt. Er ist Freiberufler, alle seine Auftraggeber haben storniert. Die staatliche Unterstützung habe ihm den Schlaf zurückgebracht. Aber was in zwei, drei Monaten werden soll, sei ungewiss. Am Ende sitzen wir am Gendarmenmarkt. Jede Bank ist besetzt. Kurz bevor wir uns verabschieden, schauen wir zwei Müllmännern bei der Arbeit zu. Mir fällt auf, dass alle auf dem Platz ihnen zuschauen. Mit neon-orangefarbenen Overalls führen sie mit geübten Handgriffen einen riesigen Staubsauger über die Mülleimer. Rumpelnd fliegen die Kaffeebecher durch den dicken Schlauch. Es klatscht zwar niemand, aber irgendwie liegt trotzdem Bewunderung in der Luft.
Am Abend schickt mir die Kinder-Nachrichten-Crew der Familie meines Bruders wieder zwei neue Ausgaben – diesmal zwei monothematische Sendungen. In der ersten denken sie sich eine Modenschau aus. Sie hatten gelesen, dass am Vortag der „weltweite Tag der Banane“ war – den gibt es wirklich. Ihre Mode-Ideen lassen den Bananenrock alt aussehen, aber mit Fantasie-Preisen von 7900 Euro verkaufen sie sich zumindest nicht unter Wert. Die zweite Ausgabe handelt von der Trampolin-Weltmeisterschaft in ihrem Garten. Die Moderation erfolgt in Reimen. „Ball“ reimt sich auf „Knall“ und „Nacht“ auf „aufgewacht“. Im Hintergrund geht – 200 Kilometer entfernt – die gleiche Sonne unter wie hier in meiner Straße.
Abends vor dem Einschlafen lese ich in der „New York Times“, dass in einer Hütte neben einem Altersheim in New Jersey 17 Leichen übereinander gestapelt wurden. Die Betreiber des Altersheims wussten sich nicht anders zu helfen. Ich kann bis vier Uhr nicht einschlafen.
Infizierte in Berlin: 4971. Tote: 84.
Freitag. Morgens klingelt es an der Wohnungstür. Als ich öffne, liegt ein kleines Paket auf dem Fußabtreter, ich höre noch den Postboten die Treppen hinunterlaufen. Darin sind drei Masken, die ich vor fast drei Wochen bestellt hatte. Ich rufe „Danke“ ins Treppenhaus.
Danach telefoniere ich wieder mit dem Buchautoren und China-Kenner Christian Y. Schmidt. Er ist noch genervter als in der Woche zuvor. „Diese Lockdownerei geht mir ordentlich auf den Zeiger. Trotzdem ist sie notwendig.“ Er ist am Ostersonntag mit dem Rad bis zum Wandlitzsee gefahren. „Da draußen war doch ziemlich was los.“ In dieser Woche hatte er im Internet immer wieder China verteidigt, obwohl sich Theorien verdichten, dass das Virus wohl aus einem Labor in Wuhan von Fledermäusen auf den Menschen übertragen wurde. Ein Labor-Unfall, der jetzt die ganze Welt beschäftigt?
Schmidt glaubt nicht daran. „Es gab in den 80er-Jahren auch einen Ost-Berliner Biologieprofessor, der öffentlich vermutete, dass HIV aus einem CIA-Labor entwischt sei.“ Auf jeden Fall sei inzwischen erwiesen, dass das Virus nicht von Menschen erschaffen wurde. „Außerdem war die beschuldigte chinesische Wissenschaftlerin gleichzeitig diejenige, die schon am 13. Januar das vollständige Genom des Virus der WHO zur Verfügung gestellt hat. Warum? Um die Aufmerksamkeit der Welt auf ihr angebliches Unfalllabor zu lenken?“
Für Schmidt hätte die Welt besser auf die Warnungen aus China gehört. „Wenn wir früher die gleichen Maßnahmen wie Vietnam, Südkorea, Neuseeland oder Australien ergriffen hätten“, sagt er, „stünden wir jetzt besser da.“ Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem zu ähnlichen Maßnahmen gekommen wäre. „In Peking ist seit einem Monat niemand mehr an Covid-19 gestorben, und trotzdem sind die Schulen weiterhin geschlossen.“ Wenn in Deutschland jetzt schon behauptet wird, das Virus sei „unter Kontrolle“, befürchtet er, dass die Zahlen wieder steigen werden.
Am Abend passiert der Quarantäne-Alptraum für Großstädter. Mein Internet-Router leuchtet rot und blinkt furchterregend. Mein Wlan ist weg. Ich schalte es dreimal an und wieder aus, dann rufe ich den Service des Providers an, bin dabei überraschend ruhig. Kurz darauf kommt eine SMS mit einem Termin: Sie kümmern sich am Dienstag darum. Großartig. Kein Netflix, kein Youtube, keine Online-Verbindung zur Morgenpost-Redaktion. Was kommt als nächstes?
Infizierte in Berlin: 5091. Tote: 91.
Sonnabend. Eine alte Freundin ruft an, sie sei gerade in der Nähe meiner Wohnung und wolle kurz vorbeikommen. Sie ist gebürtige Nordkoreanerin und hat dort bis zu ihrem 19. Lebensjahr gewohnt. Über Südkorea ist sie dann schließlich nach Berlin gezogen. Im Mai hat sie ihren großen Deutschtest, Stufe C1. Von ihr erfahre ich immer interessante Details über das Leben in diesem Land, über das man sonst so wenig erfährt. Als sie hereinkommt, wäscht sie sich ihre Hände – und umarmt mich plötzlich. Ich bin davon vollkommen überrascht, wohl, weil ich das seit sechs Wochen nicht mehr erlebt habe.
Sie beruhigt mich, dass sie seit sechs Wochen zu Hause sei und die ganze Zeit nie Symptome hatte. Ich denke an all die glatten Oberflächen, die sie auf dem Weg zu mir wohl berührt hat – und wir setzen uns mit Abstand auf den Balkon. Sie erzählt von Freunden in Südkorea, wo jetzt eine App ihre Kontakte bei Infektion untersucht. „Ich finde es gut, dass das in Deutschland kritisch gesehen wird“, sagt sie. Über Nordkoreas Antwort auf das Virus weiß sie wenig. Sie will sich aber nicht vorstellen, dass die Menschen in Pjöngjang alle in ihren Häusern bleiben müssen. „Was mir Sorgen macht“, sagt sie, „ist, dass jetzt ohnehin schon eine schwere Zeit ist.“ Im Frühling seien in den meisten Familien die Vorräte aus dem Winter aufgebraucht, aber die Felder sind noch nicht so weit, dass man etwas ernten kann. „Deswegen ist im Frühling der Hunger oft am größten.“ Wenn sie jetzt noch zu Hause bleiben müssen, wird es wirklich schwierig. Zum Abschied umarmt sie mich noch einmal.
Abends gehe ich einkaufen. Mehl ist ausverkauft, der nächste Kuchen muss warten. Ich bin der einzige im Laden, der eine Maske trägt.
Infizierte in Berlin: 5187. Tote: 92.
Erschienen in der Berliner Morgenpost, 19. 04. 2020