Berlin. In In dieser Woche habe ich gelernt, dass Streit in Corona-Zeiten sich ernster anfühlt. Ich habe mich mit einer guten Freundin gestritten und mich dadurch eines sozialen Kontakts beraubt, der nicht nur regelmäßig, sondern wichtig war. Wir hatten gemeinsam Sport gemacht und Kaffee getrunken. Dann habe ich einen Fehler gemacht, und offenbar ist eine Entschuldigung nicht genug. Als wir per SMS streiten, bin ich irgendwann selbst wütend und breche den Dialog ab.
Hinzu kommt, dass ich in dieser Woche im Urlaub bin, außer Radio und TV habe ich gerade wenig Kontakt mit der Außenwelt, noch nicht einmal Kollegen rufen an. Mir fällt auf, dass ich auch mit Freundschaften in diesen Zeiten sorgfältiger umgehen muss. Habe ich früher regelmäßig eine große Gruppe von Freunden pro Woche getroffen, hat sich in den vergangenen zwei Monaten das doch erstaunlich schnell auf wenige Menschen beschränkt.
Montag. Weil ich spät am Sonntagabend die Nachricht gelesen habe, dass Kim Jong-un, Nordkoreas Diktator gestorben sei, war meine Nacht kurz. Ich werfe mein Nordkorea-Netzwerk an, schreibe Mitarbeitern vom Auswärtigen Amt, mehreren Journalisten in Seoul und den Nordkoreanern, die ich kenne. Unterschiedlicher könnten ihre Meinungen nicht sein. Es ist alles dabei zwischen „Der Dicke lebt“ über „Wenn er stirbt, übernimmt seine Schwester“ bis zu: „Er hat sich versteckt, wir wissen nichts.“
Noch beim Frühstück habe ich das Urlaubsgefühl, der Tag liegt vor mir ohne Termine. Auf Facebook schreibt ein Freund: „Vorsichtig optimistisch in die neue Woche. Das Gröbste scheint überstanden. Aber nicht übermütig werden und noch ein paar weitere Wochen an die Regeln halten. Dann wird alles gut.“ Darunter wird in 27 Kommentaren diskutiert, ob nicht das Gröbste nicht doch noch vor uns liegt, was diese Maskenpflicht bringen soll – und als ich weiterscrolle, vergleicht jemand Gesichtsmasken-Träger mit Sklaven.
Gegen Mittag treffe ich einen Freund für den täglichen Spaziergang. Mir fällt auf, dass wir uns zwar auch vor der Krise häufig gesehen hatten, aber so regelmäßig nie. Früher reichten Whats- App-Nachrichten, die uns gegenseitig der Freundschaft versicherten. Er ist schlecht gelaunt. Er arbeitet sonst in einem großen Kaufhaus. Erst war er auf Kurzarbeit, dann wurde er ein Mitglied des Versand-Teams, das plötzlich sehr viel zu tun hatte. Eine Kiste fiel auf seinen Zeh, und noch heute ist es nicht verheilt. Seine Schicht beginnt morgens um fünf Uhr. Er sagt, dass er heute wieder mit den Vögeln gegen vier Uhr aufgestanden sei. In der U-Bahn konnte er sehen, dass sich das neue Maskengesetz langsam durchsetzt. Nach der Schicht hieß es nach drei Wochen plötzlich wieder: Schluss für den Versand. Der Rest der Woche sei wieder Kurzarbeit. Nächste Woche macht der Laden wieder auf.
Abends gegen 21 Uhr gehe ich einkaufen. Ich laufe mit meiner weißen Maske durch die Straße, aber als ich dann selbst im Geschäft der einzige mit Mund-und-Nasen-Bedeckung bin, schiebe ich sie am Weinregal unters Kinn.
Infizierte in Berlin: 5677. Tote: 127.
Dienstag. Morgens jogge ich kurz an die Böse-Brücke, schon auf dem Rückweg wechsle ich fließend in den Spaziergang. Da fällt eine Drogerie in meinen Blick. Seit Wochen wollte ich morgens einmal in dieses Geschäft gehen, um eine Packung Desinfektionsspray zu kaufen. Als Frühaufsteher bekomme ich eine – es ist wirklich die letzte im Regal. Zusammen mit dem Badeschaum „Chill Out“ gehe ich zur Kasse.
Mittags bekomme ich eine Nachricht von Sören Kittel. Es ist ein Namensvetter, den ich vor ein paar Jahren auf Facebook entdeckt habe und mit dem mich außer dem gleichen Vor- und Nachnamen und dem Heimatbundesland Sachsen wenig verbindet. Er ist großer Fan der AfD. Ich nahm das vor drei Jahren zum Anlass, ein Porträt über ihn zu schreiben. Nachdem der Text erschien, brach der Kontakt aber nicht ab. Hin und wieder, gerade bei großen politischen Themen, meldet er sich.
Sören arbeitet in der Schweiz und fährt jedes Wochenende zu seiner Frau und den drei Kindern nach Sachsen. „Jetzt werden die Autobahnen langsam voller“, schreibt er. Und, dass er die Maßnahmen für völlig überzogen halte. Ich erzähle von dem Freund im Krankenhaus und mehreren im Bekanntenkreis, die sich infiziert hatten. Er wiederum kennt keinen einzigen, der ebenfalls infiziert sei. Ich kann mir vorstellen, dass es für ihn schwer sein muss, aufgrund von einer abstrakten Vorsorge sein Leben umstellen zu müssen.
Aber als er schreibt, es sei doch nur wie eine Grippe, fühle ich mich an Gespräche von vor acht Wochen erinnert. Obwohl ich sonst versuche, weder Großbuchstaben noch Ausrufezeichen in Nachrichten zu verwenden, schreibe ich: „ES IST KEINE GRIPPE, VERDAMMT!!!!“ Er lässt sich nicht provozieren und schreibt, dass seine Firma 450 Mitarbeiter habe und außer ein paar negativen Tests habe es in seinem Umfeld nur die Angst vor dem Virus gegeben, nie das Virus selbst. Wir schreiben dann noch ein bisschen über Schweden und andere Zahlenspiele, aber mir wird klar, dass ich ihn nicht überzeugen werde.
Abends telefoniere ich mit zwei Freunden. Der eine redet nur über seine Aktien, der andere hat Probleme, weil sein Konto seit Wochen gesperrt ist. Die Steuerrückzahlung ist längst passiert, aber das Konto wird nicht entsperrt, wahrscheinlich, weil die Banken gerade andere Sorgen haben. Er kommt vorbei, und ich leihe ihm etwas, damit er durch die Woche kommt.
Infizierte in Berlin: 5736. Tote: 137.
Mittwoch. Ich blättere morgens durch meine E-Mails und finde einen Leserbrief, dessen Autor mich darauf hinweist, dass ich in der vergangenen Woche die einfache Regel des Zuhausebleibens ignoriert habe. Er will wissen, wie meine Zeitung dazu steht, dass ich das so offen aufschreibe in meinem Tagebuch. Ich schreibe ihm zurück, dass er recht hat und dass es durchaus Kollegen gibt, die diesen Regelübertritt angesprochen haben. Aber gleichzeitig versuche ich, diese Kontakte auf wenige Freunde zu beschränken und den Abstand einzuhalten.
Aber ein Blick auf Twitter zeigt, dass der „Corona-Graben“ die Gesellschaft tief spaltet. Die einen posten Fotos von vollen Parks und weisen auf die Särge hin, die für die Menschen auf dem Bild bereit stehen. Andere versuchen, dieses laxe Verhalten damit zu begründen, dass der Wert von „R“ konstant unter 1 ist. Das bedeutet, dass derzeit in Deutschland eine infizierte Person weniger als eine Person ansteckt. Kann man also tatsächlich wieder Eis essen gehen und sich auf die Parkbank nebeneinander setzen?
Gegen Mittag fahre ich an den Kudamm. Ich werde für eine Nacht in einem Hotel dort übernachten, um aufzuschreiben, wie eine große Hotelkette mit der Corona-Krise umgeht. Die Hotelangestellten tragen Masken, und von einigen werde ich bis zu meiner Abreise nicht mehr als die Augen sehen. Das Wetter wechselt ständig, von meinem Zimmer kann ich die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von oben sehen. Leider verpasse ich den Moment, als ein Regenbogen Berlin überspannt.
Am Abend sitze ich im 29. Stock und schaue auf Berlin. Die Straßen sind leer. Ich bekomme eine Nachricht eines Koreaners: Ein koreanisches Pärchen wurde in einer Berliner U-Bahn beleidigt und tätlich angegriffen. „Corona-Asiaten“ wurden sie genannt, und erst als die beiden die Polizei riefen, liefen die jungen, angetrunkenen Männer weg. Ich frage die beiden Koreaner, ob wir uns treffen können. Sie wohnen nicht weit vom Hotel entfernt.
Infizierte in Berlin: 5821. Tote: 147.
Donnerstag. Am Morgen lese ich Artikel in Zeitungen von Boris Palmer (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP) und Frank Castorf (ehemaliger Volksbühnen-Intentant), die sich alle drei über die Maßnahmen beschweren. Castorf will sich von der Kanzlerin nicht vorschreiben lassen, wann er sich die Hände wäscht, und Palmer ist der Meinung, dass die Corona-Toten ohnehin bald gestorben wären. Der Corona-Graben zwischen Kritikern wie diesen drei und dem Rest wird breiter. Auf Twitter werden die Anfeindungen der beiden Lager aggressiver.
Der Begriff Quarantäne kommt aus dem Italienischen und geht auf die Zeit der Pest zurück. Wörtlich bezeichnet er die „40 Tage“, die Schiffe nicht anlegen dürfen, wenn Kranke an Bord sind. Ich überlege, ob diese Dauer sich vielleicht bis heute durchgesetzt hat, weil sonst die psychischen Folgen auffällig werden.
Ich laufe vom Hotel zu den beiden Koreanern, die rassistisch belästigt wurden. Sie haben mich in ihre Wohnung eingeladen. Auf dem Weg dorthin erlebe ich an der Bleibtreustraße, wie sich zwei ältere Männer laut streiten. Einer war mit dem Rad auf dem Fußweg vorbeigefahren. Da schubst der Laufende den Fahrenden. „Weil Sie hier nichts zu suchen haben!“ Der Fahrende hält an und blafft zurück: „Ich kann doch nichts dafür, wenn Sie ein Arschloch sind!“ Eine Passantin geht dazwischen und beruhigt, dass doch nichts weiter passiert sei.
Das koreanische Ehepaar erzählt, dass sie seit dem Vorfall keine U-Bahn mehr benutzen. Sie leben seit vier Jahren in Berlin und haben so etwas noch nie erlebt. Als ich abends in meine Wohnung komme, lädt mich ein Nachbar auf Cocktails ein. Er war bis vor zwei Wochen in New York und hatte sich vorher extra nicht gemeldet. Seine Quarantäne verlief ereignislos, und er würde sich über Gesellschaft freuen. Ich bin zu müde und verschiebe es auf Freitag. Da wird er ja auch zu Hause sein.
Infizierte in Berlin: 5881. Tote: 149.
Freitag. Als ich Buchautor und China-Kenner Christian Y. Schmidt am Vormittag anrufe, kommt er gerade aus einer langen Telefonkonferenz mit sechs Teilnehmern in Peking und Guangzhou. Er hat zum ersten Mal das Programm Zoom probiert und ist ganz überrascht, was man alles machen kann. Seiner Frau geht es gut in Peking, auch wenn dort die Fitnessstudios nach kurzer Zeit wieder schließen mussten, sind die Restaurants weiterhin offen. Ihre Verwandten in Guangzhou erzählen von einem Ausflug mit dem Auto und sind gut gelaunt. „Vorsichtig sind sie auf jeden Fall alle“, sagt er, „und ich darf im Augenblick noch nicht zurück.“
In Berlin fällt ihm in dieser Woche auf, dass sich die Masken so langsam durchsetzen. „Aber das Problem ist“, sagt er, „dass viele nicht wissen, wie sie die Masken richtig auf- und absetzen.“ Er habe gesehen, wie einige die Maske unters Kinn schieben, sobald sie aus der Bahn heraustreten. „Dann kann man es gleich lassen.“ Denn dann sei sie von innen sofort mit Bakterien und Viren verkeimt. Aus China kenne er die Erklär-Videos, die den korrekten Gebrauch zeigen. Er selbst stellt aber auch bei sich eine Leichtsinnigkeit fest. „Es ist wie damals nach dem Tschernobyl-Unfall 1986, man isst dann doch irgendwann den ersten Salat und denkt nicht mehr daran.“
Auch er hat mitbekommen, dass für viele Länder Schweden als Beispielland gilt im Umgang mit Corona. „Aber wenn man sich die Zahl der Toten anschaut, relativiert sich das schnell.“ Während Schweden 256 Tote pro einer Million Einwohner hat, haben die USA nur 193 Tote zu verzeichnen, Deutschland nur 79. Und trotzdem gibt es hier Menschen, die die Maßnahmen noch immer übertrieben finden. „Ich weiß nicht, woher der Todestrieb der Menschen kommt“, sagt Schmidt. „Aber ich möchte nicht an Covid-19 sterben, die Berichte vom langsamen Ersticken klingen nicht besonders attraktiv.“
Weil 1. Mai ist, treffe ich mich mit einem Freund am Mauerpark und trinke ein Alster. Wir sehen viele Menschen in Gruppen, auch viel Polizei, aber trotzdem bleiben die meisten auf Abstand, soweit das möglich ist. Als ich danach meinen Freund anrufe, der mich ja auf Cocktails eingeladen hatte, ist der schon betrunken. Er hat Besuch von einem anderen Freund bekommen, der Masken abholen wollte, und sie haben schon mit dem Trinken begonnen. Wir verschieben auf Sonnabend, ich bin wieder allein mit dem Internet. Ich schreibe der Freundin, mit der ich im Streit liege: „Weißwein?“ Sie antwortet, sie müsse viel arbeiten. Ihr Laden öffne am Montag.
Infizierte in Berlin: 5936. Tote: 152.
Sonnabend. Am Morgen gibt es Nachrichten, dass Kim Jong-un doch nicht gestorben ist. Er hat das getan, was er schon immer gern getan hat: eine Fabrik eröffnet. Über Fälle von Covid-19 in Nordkorea ist trotzdem bis heute nichts bekannt.
Am Nachmittag bekomme ich noch eine E-Mail des Leserbrief-Schreibers vom Mittwoch. Er sagt, dass er selbst zu der Minderheit gehöre, „die die teilweise sehr unplausibel vorgetragenen Argumente der Virologen nicht einfach übernimmt, sondern die teilweise eklatanten Widersprüche nicht akzeptiert“. Er sieht jedenfalls keine Verhältnismäßigkeit gegeben. Und ich dachte, er wolle mich auf mein Fehlverhalten aufmerksam machen…
Am Abend sitze ich beim Nachbarn und er erzählt von New York. Es gibt guten Gin, Eiswürfel in Form von Blumen, und wir stoßen darauf an, dass das alles hier bald vorbei sein wird.
Infizierte in Berlin: 5970. Tote: 154.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 3. 5. 2020