Die Insel
Bernd H. sitzt an seinem Strand, schaut in die Dunkelheit, aus der es leise plätschert. Zwei Katzen schnurren um sein Bein. Er sagt: „In der Nacht ist es fast am allergeilsten.“ Oben am Himmel schiebt sich eine Wolke über das große, unendliche Schwarz. Er löscht alle Lichter auf der Insel und schaut nach oben. „Das da oben ist keine Wolke, das ist die Milchstraße.“ Er zündet sich eine sehr lange Zigarette an, die er sich gebaut hat. Aus einem Lautsprecher kommt leise House-Musik, die auch in Berlin in einem Club laufen könnte.
Aber Bernd H. wollte weg aus Berlin und das schon lange. Es ist Juni 2019, und der 39-Jährige wohnt sein zweites Jahr auf seiner eigenen Insel in Indonesien. Sie heißt Maila und ist so klein, dass Google Maps sie nicht anzeigt. Sie liegt mitten in der Inselgruppe, die Pulau Banyak heißt, indonesisch für: viele Inseln. Sie ist „seine“ Insel, er hat sie für 30 Jahre gemietet. Sie ist ungefähr 3000 Quadratmeter groß, „wie der Görli, ganz für mich allein“. Bezahlt hat er 8600 Euro. Das sind 150 Millionen Indonesische Rupiah, ein Vermögen in einem Land, in dem das monatliche Durchschnittseinkommen bei 154 Euro liegt.
Bernd H. fand die Insel 2017, als er eine Reise durch verschiedene Länder in Südostasien machte. Noch im gleichen Jahr reiste er wieder nach Indonesien. Er flog also von Berlin nach Singapur, von dort nach Medan, die viertgrößte Stadt Indonesiens auf der Insel Sumatra. Dann dauerte es noch rund 20 Stunden bis zu seiner Insel: per Nachtbus von Medan nach Singkil an die Westküste Sumatras, per Schiff in drei Stunden auf die Insel Balai, danach mit einem Schnellboot auf die Insel Sikandang. Von dort sind es 15 Minuten bis nach Maila.
Die Gegend ist touristisch nur wenig erschlossen. Es gibt auf Sikandang eine kleine Siedlung mit fünf Holzhütten, die von einem Mann betrieben wird, der sich Elvis nennt. Bernd H. fühlte sich in dieser Gegend sofort zu Hause. „Die Menschen hier strahlen eine Zufriedenheit aus, die uns Deutschen doch längst abhanden gekommen ist“, sagt er. Was brauche man denn zum Leben? „Essen, Medizin und einen Raum zum Schlafen.“ Ihn ärgert es, dass in Deutschland alle plötzlich vegan leben wollen. „Das sind doch Luxusdiskussionen, die wir uns nur erlauben können, weil wir echte Probleme gar nicht mehr kennen.“
Geboren ist H. in Karlsruhe, später zog er nach Hamburg, begann bei Start-ups zu arbeiten. Seinen letzten Job in Berlin, wo er fünf Jahre bis zu seiner Abreise lebte, nennt er selbst einen Traumjob, aber auch der machte keinen Spaß. Er war „Talent Development Manager“ für YouTube. Er kümmerte sich um die Video-Blogs von 120 Deutschen. Er löste technische Probleme, coachte erfolgreiche Influencer, seine jüngste Kundin war zwölf Jahre, der älteste Kunde war über 80 Jahre alt. Mit ihnen sprach er meist am Nachmittag, nachdem er ausgeschlafen hatte. Nachts gab es Skype-Konferenzen mit San Francisco – und dann ging es weiter bis nach Mitternacht. Er hatte eine kleine Wohnung in Lichtenberg, mit Badewanne und Balkon. Seine Monatsmiete lag bei 650 Euro. Die Insel kostet ihn auf die 30 Jahre umgerechnet weniger als 25 Euro im Monat.
In Berlin ging er nach der Arbeit aus oder verbrachte seine Zeit mit Computerspielen. Er mochte die kuriosen Begegnungen auf alternativen Underground-Partys außerhalb des S-Bahn-Rings – und er mochte das Erkunden von Höhlen in digitalen Rollenspielen. Am meisten spielte er jene, die in den 1990er-Jahren bekannt waren: „Baldur’s Gate“, „Betrayal at Krondor“, „Das Schwarze Auge“. Die Grafik ist noch so einfach, dass man mit bloßem Auge die Pixel erkennen kann. Meist irrte er in diesen Spielen durch eine geheimnisvolle Welt und bekämpfte Monster.
In Deutschland kam sein Gehalt pünktlich, er konnte Geld sparen. „Aber ich hatte auch das Gefühl, ich arbeite die ganze Zeit für die Idee, die ein anderer hatte“, sagt er. Aber H. wollte selbst eine gute Idee haben. Er wollte auf Maila Hütten bauen und diese dann vermieten. Er wollte etwas Nachhaltiges schaffen, was den Leuten hilft. Auch den Einheimischen, sagt er. „Chinesen haben angefangen, erste Inseln hier mit großen Hotels zuzubauen.“ Er wollte zeigen, dass es auch anders möglich ist.
Als er auf die Insel kam, gab es dort nur Bäume und einen Sandstrand. „Es ist der Wahnsinn“, sagt er, „wenn du hier einen Samen in die Erde legst, hast du nach einer Woche einen Strauch und noch eine Woche später musst du ihn zurückschneiden, weil er sonst alles überwuchert.“ Aber wenn er sich verletzt, dauert es auch länger, bis die Wunde verheilt. Er findet die Tiere faszinierend: die Echsen, die morgens an sein Lager kommen, um Eier zu stehlen, die Krabben, die sich in den Sand buddeln – und die graue Schlange, die irgendwo in den Bäumen lebt. „Ich weiß nicht, ob sie gefährlich ist“, sagt er, „aber sie ist sehr scheu, ich sehe sie sehr selten.“
Maila ist für ihn die Gelegenheit, ein richtiges Abenteuer zu haben. „Die Insel ist wie Minecraft“, sagt er und meint das Spiel, mit dem Millionen Jugendliche und sicherlich auch ein paar Erwachsene ihre eigene Welt erschaffen, zum Beispiel eine kleine Inseln bauen, Häuser konstruieren, Gärten anlegen. Es ist ein Ein-Personen-Spiel. H. mag keine Spiele mit mehreren Teilnehmern.
Er hat 2019 eine Webseite vorbereitet, über die Reisende mit ihm in Kontakt treten können. Ein paar Freunde besuchten ihn, sein Vater verbrachte seinen 80. Geburtstag auf Maila. Die Nacht des runden Geburtstags feierte die Familie. „Es war ein schöner Tag, damals“, sagt er. „Aber nur eine Nacht, die anderen Tage verbrachten wir auf Sikandang bei Elvis.“ Der war inzwischen so etwas wie ein Freund geworden. Der Indonesier Elvis spricht fließend Englisch. Wer mit ihm lange am Lagerfeuer sitzt, erfährt, wie er einmal im Gefängnis war, weil jemand Hanfpflanzen hinter seinem Haus fand. Auch Elvis lebt allein auf seiner Insel.
Von Büchern wie „Robinson Crusoe“ oder „Herr der Fliegen“ bis hin zum Tom-Hanks-Film „Cast away“ – die Idee einer Südsee-Insel, auf der alles nach eigenen Regeln läuft, ist etwas, das Menschen immer fasziniert hat. Kinder stellen in Freundschaftsbüchern bis heute einander die Frage, welche Dinge sie mit auf eine einsame Insel nehmen würden. Welches Buch? Welche Musik?
Doch in unseren Zeiten stecken Bücher, Musik, Filme und noch viel mehr in einem Mobiltelefon. H.s Huawei-Smartphone ist Navigationshilfe auf dem Meer, Übersetzungshilfe für Indonesisch und Unterhaltungsquelle für regnerische Abende. „Die Internet-Verbindung am Strand ist sehr gut“, sagt er. „Zumindest besser als in der Berliner U-Bahn.“ Der 4G-Turm steht auf der gegenüberliegenden Insel. Sie heißt „Matahari“, das heißt auf Indonesisch „Auge des Tages“ – oder: „die Sonne“. Er ist selten dort. „Dort gibt es Salzwasserkrokodile“, sagt er.
Indonesisch kann H. nur wenig. Die Sprache ist nicht schwer, viele Wörter stammen aus dem Holländischen: Gelas – das Glas, Mobil – das Auto. Doch die meisten Verben beginnen mit „m“, da wird es kompliziert. Außerdem: „So ziemlich alle Verben kann man per Gestik verdeutlichen.“ Er habe keine Lust auf religiöse und politische Diskussionen. „Wenn ich nur wenig Indonesisch kann, muss ich nicht jedem erklären, wie ich mein Geld verdiene und warum ich nicht verheiratet bin.“
Indonesien ist ein konservatives Land. Er weiß das. Die soziale Kontrolle funktioniert sehr stark und betrifft auch die, die nur zu Besuch sind. Wenn man mit über 30 noch nicht verheiratet ist, stößt man in Indonesien auf großes Unverständnis. Alleinreisende Touristen werden oft gefragt: „Hast du keine Freunde?“ Soziale Medien sind hier sehr erfolgreich. Vor einigen Jahren hatte Twitter die meisten Nutzer weltweit in dem Inselstaat. Ein indonesisches Sprichwort sagt: „Wenn Du etwas tust, gibt es immer jemanden, der zuschaut.“
H. besorgt sich einen Gasherd, eine Plane für die Hängematte, eine Solaranlage, damit er tagsüber Strom sammeln kann, den er abends verbraucht. Seine Insel soll nachhaltig sein. Sein Trinkwasser kauft er sich im Dorf auf der Nachbarinsel. In Deutschland hat er am liebsten Apfelschorle getrunken. In Indonesien ist er zu „Cider“ gewechselt, so nennt man dort Sprite. Der Joint, den er abends zur House-Musik raucht, entspanne ihn, sagt er. Außerdem helfe es gegen den Augendruck.
Er schafft sich zwei Katzen an, nennt sie „Angela“ und „Vladimir“. Die Tiere sind selbstständig, erkunden die kleine Insel. Er baut Hütten aus Holz und Stroh, eine Hock-Toilette im hinteren Teil der Insel. Neben der Toilette steht im Gras eine Halterung mit Toilettenbürste. Zwischendurch reist er manchmal nach Medan, dort schaut er die letzte Staffel von „Game of Thrones“ und kauft sich Werkzeug. Er besorgt sich auch „obat“, indonesisch für „Medizin“ und „Drogen“. Er kauft sich Marihuana.
Als er von einer dieser Reisen zurückkehrt, sind alle Hütten abgebrannt, die Hühner sind weg. Eine Katze ist tot: Angela. Er hatte sie zu Freunden gegeben, aber dort wurde sie überfahren. Auch mit den Einheimischen gibt es immer mehr Probleme. „Im Grunde denken sie die ganze Zeit, ich bin der reiche Deutsche, der unendlich viel Geld hat.“ Er leiht einem Inselnachbarn Geld, einem zweiten. Als ein Dritter Geld möchte, sagt er Nein. Der wird wütend. „Einmal ramme ich das Boot eines Mannes, wir schauen es gemeinsam an und sehen keine Schrammen.“ Drei Wochen später bekommt H. trotzdem eine Rechnung über 600 Euro für den Schaden an einem anderen Boot.
Indonesien ist ein Land, das empfindlich auf Ausländer reagiert. Mehr als 350 Jahre waren Niederländer Kolonialherren und ließen auch 1945 nicht von dieser Idee ab, als sich die ganze Welt schon dekolonisierte. Erst nach vier Jahren Krieg entließ die niederländische Königin im Jahr 1949 das Land in die Unabhängigkeit. Nirgendwo wurde härter gegen die weißen Einwanderer gekämpft als in der Provinz Aceh, zu der die „Pulau Banyak“ offiziell gehören. Schon Marco Polo stellte hier fest: „Sie essen Menschenfleisch – mit Limette und Salz.“
H. blieb für sie der weiße Ausländer. Fast alle Einheimischen sind Fischer und haben Geldsorgen. Neben seinem eigenen Projekt hat H. versucht, sagt er, zu helfen, ihr eigenes Geschäft nachhaltiger zu gestalten. Doch sie wollten meist keine Hilfe, sie wollten Geld. Wenn er es einer Insel gab, war die Nachbarinsel neidisch. „Mir wäre es am liebsten“, sagt er, „sie würden denken, Maila sei eine Geisterinsel.“ Hinter vorgehaltener Hand nennt Elvis ihn „orang gila“ – der Verrückte.
Das Gefängnis
Zwei Monate später, Ende August 2019, sitzt H. im Verhörzimmer der Polizei im Gefängnis „Rutan 2“ im Norden von Medan. Er ist froh, endlich einmal Deutsch reden zu können. Seit vier Wochen sitzt er jetzt im indonesischen Gefängnis. Er hofft noch immer, schnell wieder auf seine Insel zurückkehren zu können. Die Haftbedingungen haben ihm zugesetzt. Mehrere Zähne sind locker, am Arm hat er einen Hautausschlag, er ist abgemagert, sein Augendruck ist wieder zurück, er wirkt nervös.
Er erzählt, was passiert ist. Auf Deutsch können ihn die Polizisten nicht verstehen: Am 25. Juli 2019 habe es nachts um 1 Uhr an seiner Tür geklopft. Er hatte gerade Marihuana bekommen von seinem Dealer, den er gut kannte. Er hatte sich gewundert, dass es 100 Gramm waren statt der bestellten zehn Gramm, aber sich zunächst nichts dabei gedacht. Er habe die Tür geöffnet und im nächsten Augenblick saß er in Handschellen hinten auf dem Motorrad eines Polizisten. Seitdem ist er im Gefängnis.
„Am Anfang war es eine kleine Zelle, zwölf Quadratmeter, darin 14 Männer, durch das Gitter haben sie uns Tüten mit Reis gegeben.“ Er konnte kaum schlafen in den ersten Tagen. „Das Schlimmste ist, dass ich nichts tun kann“, sagt er. „Jetzt bin ich in einer größeren Zelle, mit 40 anderen und habe nie meine Privatsphäre, nicht einmal auf dem Klo.“ Die Toilette ist in einer Ecke des Raumes, der Boden meist feucht. Zeitweise ist so eng, dass sie Körper an Körper liegen müssen. Aber weil er Deutscher ist, lassen ihm die Mitgefangenen mehr Platz. „Die Ratten sind nicht so schlimm, die sind scheu“, sagt Bernd. „Richtig eklig sind die Kakerlaken, die kriechen unter das T-Shirt.“
Die Polizei hat ihm eine Woche lang nicht erlaubt, jemanden zu kontaktieren. Er konnte weder seine Familie noch die Botschaft und einen Anwalt kontaktieren. Er war auf sich allein gestellt. Er hat Angst um seine Eltern, wie sie reagieren würden, falls sie über dritte Personen von seiner Situation erfahren. Seine Eltern sind beide schon über 80.
„Während des Verhörs reibt einer der Beamten Zeigefinger und Daumen aneinander“, sagt Bernd, „das internationale Zeichen für Geld.“ Bernd nennt ihm eine Summe, die zwischen 1000 und 2000 Euro liegt. Der Beamte lacht und weist das zurück. Später wird er sich sehr ärgern, dass er nicht mehr geboten hat, dass er nicht früher jemanden anrufen konnte. Er sitzt in der Falle.
Sein Anwalt, Charles Silalahi, ist ein Indonesier, der schon häufiger Ausländer in Indonesien vertreten hat. Er sitzt im August 2019 neben Bernd und sagt: „Die ersten drei Tage sind entscheidend in Indonesien.“ Wenn man sich innerhalb dieser Zeit mit der Polizei einigen könne, komme man schnell wieder frei. Doch er traf Bernd erst in seiner zweiten Woche in Haft. „Sein Fall wurde nach Jakarta gemeldet, ab jetzt ist es kompliziert.“ Er sagt, dass er jetzt mit dem Richter „einen Deal“ machen müsse. Er spricht von 13.000 Euro. Die könnten das „Verfahren beschleunigen“. Er spricht auch von einem möglichen Strafmaß. Die Menge Marihuana sei dafür unbedeutend. „Vielleicht ein Jahr“, sagt er, „vielleicht zehn.“
Die Arbeit der Justiz in Indonesien ist in der Tat kompliziert zu verstehen, zumal die Provinz Nordsumatra, deren Hauptstadt Medan ist, laut Transparency International als die korrupteste Region des Landes gilt. Anwälte haben die Funktion der Vermittler zwischen verschiedenen Interessengruppen, dabei geht es eigentlich immer nur um Geld. Und wenn Ausländer in diese Mühlen geraten, spielt auch die Politik eine Rolle.
Das Drogenproblem ist immens auf allen Inseln. Vor allem Crystal Meth, indonesisch „Sabu-Sabu“, ist verbreitet. Die Justiz unterscheidet kaum zwischen Ecstasy, Marihuana und Sabu-Sabu. Regelmäßig werden lange Gefängnisstrafen für Drogennutzer verhängt – für Dealer auch die Todesstrafe. Im Jahr 2018 wurde gegen 15 Nicht-Indonesier die Todesstrafe verhängt. Vollstreckt wird sie selten. Die harten Drogengesetze wurden 1917 von den Niederländern eingeführt. Vorher gehörte Marihuana zum indonesischen Kulturgut, insbesondere in der muslimischen Provinz Aceh. Marihuana gehört neben Kaffee zu den wichtigsten Exportgütern der Region.
Als Bernd die Prognosen hört, sagt er, dass er das nicht überleben werde. Ein Jahr vielleicht, aber keinen Tag länger. Zunächst aber tut er alles, um aus dieser Zelle herauszukommen. Die Deutsche Botschaft in Jakarta oder das Konsulat in Medan können ihm nicht helfen. Der Honorarkonsul in Medan ist ein Indonesier, der ihn besucht, aber kaum Einfluss hat. Wörtlich wird ihm aus der Botschaft mitgeteilt: „Ihr Fall ist Standard, es gibt keine Extrawurst.“
Laut Auswärtigem Amt stehen ihm „regelmäßige Haftbesuche, die Vermittlung von Rechtsschutz und Kontakt mit den Behörden des Gaststaates“ zu. Doch er fühlt sich meist allein gelassen. In Berlin startet eine WhatsApp-Gruppe von Freunden, die sich um ihn sorgen. Sie schicken ihm Bücher. Seine Familie kümmert sich von Karlsruhe aus, schickt ihm Geld. Von einer Veröffentlichung während seiner Haft rät die Botschaft ab. Die Erfahrung habe gezeigt, dass Presseberichte einen negativen Effekt auf die Inhaftierten haben, heißt es aus der Deutschen Botschaft.
Nun ist es leicht zu sagen, Bernd hätte sich eben an die Gesetze des Gastlandes halten müssen. Er hört es immer wieder, auch von seiner Mutter bei ihrem ersten Anruf Ende August 2019, im Verhörzimmer. „Das weiß ich selbst“, brüllt er ins Telefon. „Jetzt fang nicht damit an!“ Dann weint er.
Ende September greift sein Hautausschlag auf den ganzen Körper über, drei Zähne sind ihm ausgefallen. Er ist mittlerweile in ein besseres Gefängnis überwiesen worden, es liegt weit am Rande der Stadt Medan. Charles Silalahi fährt regelmäßig vorbei, bringt Bücher, die Freunde in Berlin organisiert haben. Er liest „Homo Deus“ von Yuval Noah Hariri, „American Gods“ von Neil Gaiman und „Crazy Rich Asians“ von Kevin Kwan. Er hat alle schnell durch.
Er sitzt in einem kleinen Besuchszimmer des Gefängnisses, freut sich über die mitgebrachten Zigaretten und das Gemüse, an das Charles Silalahi gedacht hat. Er wirkt ruhiger, weniger fahrig, spricht nicht mehr nur von seiner Insel, die auf ihn warte, sondern auch von Deutschland. Im neuen Gefängnis kann er mit anderen indonesische Actionfilme sehen. In seinem Zimmer schlafen nur zehn andere, die Tür ist meist offen. Er teilt sich das Bett mit einem Gefangenen, der nachts darin schläft. Regulär gibt es drei Mahlzeiten und zwei Appelle, bei denen sich alle zeigen müssen: 7 Uhr und 14 Uhr.
„Ich lege mich meist erst nach dem Morgenappell hin“, sagt er, „da ist es im Gefängnis ruhiger als in der Nacht.“ Nachts wird „gefeiert“, werden Drogen konsumiert. Kakerlaken gab es nur noch im Bad. Er erzählt lachend von dem Moment, als eine Ratte vom Fenster auf seinen Kopf gesprungen ist. „Normalerweise kommen die aber nicht ins Zimmer.“ Er bekommt sein Mobiltelefon wieder, muss dafür aber die Wachen bestechen. Andere Wachen nehmen es ihm trotzdem weg, wenn sie es sehen. Dann muss er es sich zurückkaufen. Sein Spitzname ist „Apaitu“, indonesisch für „Was ist das?“. Er stellt diese Frage sehr oft. Er lernt Schimpfwörter („Kontol“), das Wort für Neid („iri“) und das für Wut, das die ganze Welt kennt: „Amok“.
Und noch etwas ändert sich: Er kann wieder Marihuana rauchen. „Im Gefängnis bekommst du alle Drogen“, sagt er. „Ich habe Mithäftlinge erlebt, die wegen einem Joint inhaftiert wurden und hier aus Langeweile mit Sabu-Sabu angefangen haben.“ Bernd sagt, er habe das Crystal Meth nie angerührt. Er habe die Veränderung mitbekommen, die es bei Menschen anrichte. Er hat auch Menschen sterben sehen im Gefängnis. „Sie werden morgens mit einer Trage rausgefahren.“
Gegen Ende Oktober bittet der Anwalt die Eltern um eine größere Geldsumme. Die Rede ist von 13.000 Euro, doch Charles Silalahi möchte über die genaue Aufteilung der Summe nicht sprechen. Ein Großteil sei für den Richter bestimmt. Ob es Teil einer offiziellen Strafzahlung oder einfach Bestechung ist, wird auch H. nicht erfahren.
Am 28. Januar 2020 steigt er in einen Bus, der ihn ins Gericht bringt. In der indonesischen Tageszeitung „Tribun-Medan“ erscheint am Tag darauf ein Artikel über den Prozess. Darin steht, dass 90 Gramm Marihuana bei ihm gefunden wurden und er nach Paragraf 112, Absatz 1, zu elf Monaten Haft verurteilt wird. Der letzte Satz des Artikels ist interessant: „Vor der Urteilsverkündung wird dem Richter ein Brief der Deutschen Regierung vorgelegt.“
Bernd H. geht es nach dem Urteil besser. Er weiß, dass seine Tage im Gefängnis gezählt sind. Er schickt nachts Nachrichten, erzählt, wie das Coronavirus auch ins Gefängnis kommt. „Hier liegt ein Indonesier und hustet“, schreibt er, „als ich den Wärtern sage, dass er uns alle anstecken könnte, bringen sie ihn in ein anderes Zimmer.“ Er spielte wieder Computerspiele. Normalerweise schafft er Rollenspiele nie zu beenden. Im Gefängnis hat er „Betrayal at Krondor“ und „Baldur’s Gate“ durchgespielt.
Zurück zu Hause
Am 24. Juni 2020, nach elf Monaten im indonesischen Gefängnis, wird er entlassen. Es geht dann plötzlich alles ganz schnell. Er weiß bis heute nicht, was den Ausschlag für seine Freiheit gab: das Geld seiner Eltern, der gut vernetzte Anwalt – oder der Brief der Deutschen Botschaft? Nach Angaben des Auswärtigem Amtes sitzen derzeit neun Deutsche in indonesischen Gefängnissen.
Einer seiner Freunde holt ihn vom Flughafen ab. H. hat jetzt 17.000 Euro Schulden bei seinen Eltern. Seine Zähne sind kaputt. Im „Kostenheilplan“ der Krankenkasse steht, dass es ebenfalls 17.000 Euro kostet. Er versucht, im Internet Geld zu sammeln. Er will ein Buch schreiben über seine Geschichte. Er sagt: „Diese Zeit im Knast war das ultimative Abenteuer, etwas Krasseres hätte ich mir nie vorstellen können.“
Bernd H. ist jetzt ein verurteilter Straftäter, aber laut Charles Silalahi könne er auch wieder nach Indonesien reisen, auf seine Insel. Doch das kann er sich momentan nicht vorstellen. Er hat gelernt, dass es das nicht gibt, die „einsame Insel“, es gibt immer Nachbarinseln. Und er hat gelernt, dass Familie einem das Leben retten kann.
Hinter der Geschichte: Wie der Autor von dem Fall erfuhr
Die Reise Von Juni bis September 2019 reiste der Autor Sören Kittel durch Indonesien. Er hatte in Leipzig, Amsterdam und später an der Humboldt-Universität in Berlin die Sprache des Landes gelernt und es zuvor mehrfach bereist. Über Freunde hatte er vor der Abreise von Bernd H. gehört, der sich eine kleine Insel im Ozean gemietet hatte. Anfang Juni 2019 besuchte er ihn auf der Insel Maila. Zwei Monate später hörte der Autor, dass H. im Gefängnis war. Zweimal reiste er wieder nach Medan und traf ihn im Gefängnis. H. erzählte von Haftbedingungen und dass er zwei Wochen lang keinen Zugang zu einem Anwalt bekam. Zwischendurch hielt der Autor Kontakt mit den Eltern, der Deutschen Botschaft und dem Auswärtigen Amt. Diese rieten von einer Veröffentlichung während der Haftzeit ab, weil das dem Fall nicht zuträglich sei. Derzeit sitzen rund 2500 Deutsche im Ausland in Haft wegen verschiedener Vorwürfe, häufig wegen Drogendelikten. Mehr Informationen zu Bernd H. und seinem Fall unter: berndout.wordpress.com.
Das Land Indonesien ist ein Land in Südostasien, das sich über 17.508 Inseln erstreckt. Die Mehrheit der Einwohner ist muslimisch, vor allem auf der Hauptinsel Java, wo rund zwei Drittel der 260 Millionen Einwohner leben. Seinen Namen erhielt das Land durch den Berliner Ethnologen Adolf Bastian, der es im Jahr 1884 in einem Buch so bezeichnete. Die Landessprache Indonesisch wird auf allen Inseln gesprochen – zusätzlich zu den mehr als 250 lokalen Sprachen.
Das Buch Am 14. November 2020 erscheint das Buch „Inselhopping Indonesien“. In 18 Kapiteln behandelt es die Reise von Sumatra, Java, Borneo, Sulawesi, Bali und Komodo – bis nach West-Papua. Der Autor folgt einem Opferritual am Strand von Seminyak, trifft den einzigen Rabbi des muslimischen Landes, reist zu einer Kirche, die wie ein Huhn aussieht und trifft H. auf seiner Insel und im Gefängnis von Medan. Nach einem Buch über Südkorea ist es das zweite „Reiseabenteuer“ des Autors.