Die Stadt, der Fluss und der „Gönisch“: Ein Besuch in Dresden

Dresden (Sören Kittel)

Anna Mateur und ich knipsen beide unser Sächsisch an, denn es soll schließlich um Dresden gehen, unsere Heimatstadt. Und vor wem müssen wie uns da verstellen! Sie holt mit den Armen weit aus und ruft in den Raum: „Der König war da!“ Bei ihr klingt das wie: „Do Gönisch wor do! Do Gönisch wor do!“ Sie meint August den Starken, jenen König, der den Ruf Dresdens weltweit geprägt hat, sodass er bis heute vergoldet im Stadtzentrum auf einem Pferd zu sehen ist.

Dann sagt sie drei Sätze über Dresden, die alle sehr wahr sind. Erstens: „Mit dem August fängt für viele Kultur in Dresden an und hört leider auch auf.“ Dabei gehe es doch, zweitens, bei der Stadt um mehr als nur um Barock und Porzellan. Drittens: „Dresden ist eine Großstadt, die sich manchmal wie eine Kleinstadt verhält.“ Auch ich erinnere mich, dass das Bewahren und Behüten den Einwohnern wichtig ist, ja. Aber, sagt Anna Mateur, es gebe auch die Momente, in denen sich die Stadt öffne für Neues, für etwas, das sie am meisten liebe: Chaos. „Das“, sagt sie, „liebe ich an Dresden.“

Anna Mateur ist wohl eine der berühmtesten Dresdnerinnen Deutschlands, die 46 Jahre alte Sängerin und Schauspielerin spielte bis vor kurzem in Berlin die Hauptrolle in dem Musical „Die Bettwurst“ und wird ab Ende März wieder in der Bar jeder Vernunft zu sehen sein mit ihrem Soloprogramm „Kaoshüter“. Sie ist in jeder Hinsicht auffällig: laut, selbstbewusst und in allen möglichen Musik-Stilen zu Hause – Country, Oper, Jazz, Musical und Rock ’n’ Roll. Sie kann Sächsisch und Hochdeutsch, und die Verbindung Dresden–Berlin ist für sie schon längst auf einen Katzensprung geschrumpft. Aber die Elbe verlassen für den Landwehrkanal? Niemals.

Anders als ich. Das ist auch der Grund für das Gespräch in Berlin: Mateur kann mir helfen, einen Dresden-Besuch im Jahr 2023 vorzubereiten, ich hab so ein bisschen den Draht zur Heimat verloren. Wir sind zwar beide mit einem Jahr Abstand dort geboren, haben beide die Wiedervereinigung noch als Kinder mitbekommen, aber ich bin mit 18 umgezogen und nie zurückgekehrt, außer für kurze Besuche auf dem Elbhangfest oder dem Striezelmarkt. Mein Dialekt wurde schwächer, so schwach, dass Sachsen, die ich in Asien oder Amsterdam traf, fast vorwurfsvoll sagten: „Das hört man ja gar nicht, dass du aus Dresden kommst.“

„Dresden ist ja für Berliner schon immer ein Phänomen unter den alten Bezirkshauptstädten: Als Tal der Ahnungslosen galt es während der DDR-Zeit als fast der einzige Ort, der keinen Zugang zu Westfernsehen hatte, dabei gab es im Stadtteil Prohlis Menschen, die sich lebhaft an den Senderstart von Sat.1 im Jahr 1984 erinnern können. Gleichzeitig aber lebten die Dresdner nahe am Dreiländereck von Polen und ČSSR – und so nah zum ungarischen Balaton wie kaum andere Ostdeutsche. Außerdem sind die Sachsen in Westdeutschland die bekanntesten Ostdeutschen überhaupt. Als der Spiegel das Cover druckte mit „So isser, der Ossi“, hätte da auch stehen können: „So isser, der Dresdner“. Der Autor des Textes wohnt in einer Villa am Großen Garten und denkt sicher immer noch, den Ossis gerecht geworden zu sein.“

Anna Mateur empfindet Dialekt als Stärke. „Menschen, die immer nur Hochdeutsch reden, tun mir ein bisschen leid“, sagt sie. Sie würden Sprache genau wie ihr Outfit der Situation anpassen. Aber umgekehrt heiße das nicht, dass sie jemandem nach ihrem Dialekt oder ihrer Kleidung sofort verurteilten. „Das ist etwas, das man in Dresden lernen kann und muss“, sagt sie, „nur weil sich jemand  komisch kleidet oder ein hässliches Tattoo hat, heißt das nicht, dass er nicht höflich ist.“ Sie ist froh, dass es in Dresden noch viele Orte gibt, an denen sich unterschiedliche soziale Schichten begegnen. Einer dieser Orte ist das Arnoldbad, ein Freibad gleich am Großen Garten. „Dort treffen Ausländer auf Nazis und Arme auf Reiche, und es klappt trotzdem.“

Und damit kommt sie auf den Kern eines jeden Gesprächs über Dresden: die Spaltung der Gesellschaft. Erst Pegida, dann die Impfgegner, jetzt die sogenannten Putinversteher. Immer gibt es eine Gruppe, die sich gegen den Mainstream der Gesellschaft stellt und die besonders in Dresden selbstbewusst auftritt. In der Stadt sitzen inzwischen AfD-Politiker in entscheidenden Positionen, haben schon als Richter auf sich aufmerksam gemacht, und gerade erst Ende Februar auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche konnte Rechtsaußen Björn Höcke seine These verbreiten, dass Putin lediglich die Ukraine „befreien“ wolle.

Sowohl bei Anna Mateur als auch bei mir sind diese Kämpfe im Freundes- und Familienkreis längst angekommen. Sie aber kämpft auf ihre Art gegen diese öffentliche Vereinnahmung der Stadt. Sie geht zu den Gegendemonstrationen mit Schildern, die auffallen. Wenn es zum Jahrestag des Feuersturms auf Dresden am 13. Februar 1945 schneit, hält sie ein Schild in die Höhe mit: „Schnee gegen Rechts“. Wenn sie erkältet ist, trägt sie eines mit „Angina gegen Rechts“. Sie nennt es „Dada gegen Goliath“. „Mit absurdem Humor können die nichts anfangen“, sagt sie. „Pointenlosigkeit macht die wütend.“

Auf einem ihrer Alben hat sie ein Lied aufgenommen, das wie ein Mantra klingt, ein Protestruf für Begegnungen mit Pegida. Mateur singt: „Dresden den Dresdnern, Chemnitzer raus / Chemnitz den Chemnitzern, Leipziger raus / Sachsen den Sachsen, Saarländer raus.“ Der Text schraubt sich immer absurder hinauf und landet schließlich ganz logisch bei „Mutti der Mutti, Vati raus“. Alles hat seinen „rechten Fleck“, heißt es, und „ein Schneemann hat immer drei Kugeln“. Es soll sich nichts ändern, nur wenn es so bleibt, wie wir es kennen.

Erst vergangene Woche wieder tauchte Dresden deutschlandweit in den Nachrichten auf, weil sich in der Frauenkirche zwei sächsische Literaten auf einem Podium unterhielten. Lukas Rietzschel, 28, und Uwe Tellkamp, 54, sprachen über Meinungsfreiheit und was man noch ungestraft sagen dürfe. Das Gespräch endete unversöhnlich. Nicht einmal auf den Klimawandel konnten sich die beiden Schriftsteller einigen. Am Ende sagte Tellkamp, er wolle Dresden trotz allem nicht verlassen. „Hier ist doch alles, was ich hasse.“

Anna Mateur und ich würden das beide so nie sagen, dazu ist die Liebe zu groß. Längst haben wir uns in Geschichten verstrickt über die Grauzonen, die zu wenig Raum bekommen im Reden über Dresden. Da hat eben jemand ein seltsames Tattoo und ist an anderer Stelle ein Engel gegenüber den Nachbarn und hat immer ein offenes Ohr. Und diese politischen Zuschreibungen … Anna Mateur sagt auf Sächsisch: „Haste schon gehört, do Maik, do is jetzt wiedo reschts, die bundn Hoore obrosiert.“ Aber das kann auch in zwei Wochen wieder anders sein. In Dresden ist wenig in Stein gemeißelt und wenn, dann eben meist in den butterweichen Sandstein, der sich schon mit dem Küchenmesser bearbeiten lässt.

Denn das ist die Stadt, die sich in den vergangenen Jahren auch zu einem weltweiten Touristenliebling entwickelt hat: das herausgeputzte Dresden mit Zwinger, Schinkelwache, Gemäldegalerie, Semperoper, Italienischem Dörfchen, Hofkirche, Brühlscher Terrasse, Residenzschloss, Augustusbrücke, Fürstenzug und Kunstakademie. Das sind zwölf Gebäude, die in anderen Städten allein schon eine Attraktion wären. Am Dresdner Theaterplatz stehen sie alle zwölf dichtgedrängt direkt nebeneinander. Tausend Jahre Prunk mit einmal um die eigene Achse drehen. Manche sagen, es gibt keinen schöneren Platz in Europa.

Anna Mateur saß schon als Teenager an diesem Platz, unterhalb der Augustusbrücke und sah die Punks und Touristen aus „Amiland“, sächsisch für Amerika, vorbeilaufen. „Im Fluss schwammen Kondome und tote Ratten“, erzählt sie. Sie saß dort am Elbufer und spielte Querflöte. Später zog sie über den Platz in den Gang zum Zwinger bei der Gemäldegalerie. „Dort war die Akustik zwar besser“, sagt sie, aber sie sei auch häufiger verscheucht worden. Eine 13-Jährige, die bei Mozart beginnt und im gleichen Lied im Jazz endet. Das brachten die Museumswärter nicht zusammen. „Einer kam zu mir und sagte, meine Musik löse den Alarm bei den Bildern aus.“ Sie lacht bei der Erinnerung daran.

Doch ihr Dresden ist auch eines, bei dem Künstler aus aller Welt eine Rolle spielten. Spektakel-Theater am Elbufer, Elbhangfest im Frühjahr mit Tausenden Gästen aus zig Ländern – und natürlich seit 25 Jahren der Schaubudensommer. Letzteres hat sie als Sängerin und Organisatorin mitgeprägt, ein großes Kostümspektakel mit viel „Puff“, wie sie sagt. Das ist eine ihrer Wortschöpfungen, die das Zirkusgefühl wiedergeben sollen, wie ein guter Abend in der Bar jeder Vernunft.

Ganzjährig „Puff“ findet sich in der Neustadt, einem Stadtteil, der sich wohl am besten beschreiben lässt als Kreuzung aus Friedrichshain und Prenzlauer Berg. Boheme trifft Ostkünstler. Bis heute haben sich dort Kneipen gehalten, die etwas von der Zeit erzählen, als man nicht so viel Brimborium brauchte. Das kann die Devise sein für Orte wie Trotzdem, Hebedas oder den Klassiker: Raskolnikoff, von allen Dresdnern nur das Ras genannt.

Im Ras hat sich einmal der Sohn von Anna Mateur einen Zahn ausgeschlagen, weil er hingefallen ist. Sie musste ihre Pelmeni stehen lassen, um ins Krankenhaus zu fahren. Heute gibt es im Ras vegane Pelmeni, und sie sind fantastisch. In den 90er-Jahren stand der Sand knöcheltief, das war das Markenzeichen vom Ras, wie die rote Lampe über der Tür. Dieser Sand steht heute abgefüllt in kleinen Gläsern in einer Vitrine, mit Jahreszahl. So können Besucher heute noch sehen, welche Zigarettenstummel im Jahr 1991 einst hier im Raum lagen, oder im September 2001, als ich genau dort an einem Tisch saß mit einem Freund aus New York, ich wollte das coole Dresden zeigen. Plötzlich platzte jemand herein und erzählte von Türmen, die einstürzen. Er lud uns in seine Wohnung ein und dort blieben wir stundenlang.

Und spätestens da merke ich, dass ich vielleicht doch Dresden nie so richtig verlassen habe, dass die Stadt noch fast die gleiche ist wie die, die ich vor 26 Jahren verlassen habe. Ich merke das, als ich in Dresden einfahre, wie fast immer mit dem Zug: Da ist erst der Neustädter Bahnhof, dann die Innenstadt mit der alten Zigarettenfabrik Yednize, die jetzt ein Märchen-Vorlese-Café ist, dann die Augustusbrücke, an der einst Anna Mateur saß und gespielt hat für vorbeifahrende Boote. Und schließlich der Blick, den der italienische Maler Giovanni Antonio Canal so oft gemalt hat, dass seine Ansicht bis heute als „Canaletto-Blick“ bekannt ist: die Elbe, die Brücke und all die Gebäude rund um den Theaterplatz – mit der Frauenkirche, die wie eine Glucke über die Stadt wacht, die Stadt der Königinnen und Könige.