Kurz vor 21 Uhr wird es unübersichtlich auf meinem Bingo-Zettel. Gisela ruft: „23!“, Inge wiederholt sehr laut: „23!“. Sie schreibt die Zahl auf eine Folie am Overhead-Projektor. Alles ist sehr handgemacht hier. Dann machen sie dasselbe mit der 70 (Inge: „Die Siebzig!“), mit der 8 („Die Acht!“) und der 40 („Pfirsich!!!“). Die 40 habe ich auf meinem Zettel! Ich lege einen Knopf auf die 40. Die 15 danach habe ich auch! Nur noch drei freie Felder! Und plötzlich ruft Inge: „Den Elf!“ Ein Feuerwerk bricht auf der Bühne los, alle Lampen blinken, die Band spielt einen Tusch, und der ganze Saal jubelt frenetisch.
Ich muss sehr verwirrt aussehen. Mein Kumpel Jörg beugt sich zu mir und sagt, das mit „den Elf“ habe mit einer früheren Gastgeberin des Kiezbingos zu tun. Die Dragqueen Mary Wijnvoord hätte damals mit ihrem niederländischen Akzent moderiert, und so wurde es ein Running Gag, die Zahl 11, niederländisch „den Elf“, mit einem Tusch zu feiern. Das ergibt noch immer keinen Sinn, aber je später es wird, desto lauter wird das Gejohle, desto leiser wird die Stimme in meinem Kopf, die permanent sagt: „In was für einen Quatsch bist du hier geraten?“ Und irgendwann johle ich einfach mit: „Den Elf!“
Dem Kiezbingo eilt der Ruf voraus, eine Institution im Berliner Club SO36 zu sein. „Du warst noch nie da?“, hatte ich oft in Kreuzberg gehört. Es begann im Jahr 1998 als kleine Kiezveranstaltung für ältere Damen aus der Nachbarschaft, dann wurde es zum Kult (2000er-Jahre), dann kamen die Touristen (2010er-Jahre) und damit die peinlichen Momente („Sorry, no German!“). Gerade als das die Ur-Berliner so richtig zu nerven begann, kam Corona. Das Kiezbingo ging in eine längere Pause, seit einigen Monaten ist es zurück. Inzwischen hat es wohl wieder den Kultstatus der frühen 2000er erreicht. Zumindest ist fast kein Englisch in der Schlange zu hören, höchstens Deutsch mit britischem Akzent.
Überhaupt: Diese lange Schlange auf der Oranienstraße, sie gehört für Fans zu einem Teil des Kiezbingo-Erlebnisses. Ich stehe an diesem Abend ganz vorne, bin der zweite in der Schlange. Jörg hatte mir eingeschärft, unbedingt um 18 Uhr da zu sein. Zehn Minuten später kommen er und Yvonne, mit Bier und Pizza in der Hand. Sie erzählen, dass sie einander beim Kiezbingo kennengelernt haben und gehen heute, sieben Jahre später, immer noch gemeinsam hin. Sie essen im Stehen vor dem SO36, und Yvonne sagt: „Kurz vor der Pandemie war ich mal um Punkt 18 Uhr hier, und es war leer. Zehn Minuten später kam ich zurück, und die Schlange war so lang, dass ich Sorge hatte, nicht mehr reinzukommen.“
Das passiert dann auch wirklich: Die Schlange wächst innerhalb von Minuten, auch weil meist einer für eine ganze Gruppe ansteht und plötzlich sieben Menschen dazukommen. Der vierte unserer Runde wird später gegen halb acht nicht hineingelassen, was die Stimmung bei uns am Tisch stark sinken lässt. Diese Bingo-Tür, sie ist verdammt hart.
Warum dieser Abend so beliebt ist in Berlin, ist nur auf den ersten Blick schwer zu verstehen. Ist es die Ballsaal-Atmosphäre, die fast an einen Saloon in einem Western-Film erinnert? Ist es die schnodderige Moderation der beiden Drag Queens Gisela Sommer und Inge Borg? Sind es die Preise, die alle aus Kreuzberg kommen? Oder ist es einfach die laute, ausgelassene Stimmung, die im Nu alle Krisen unserer Zeit, den Ukrainekrieg, die Energiekriese, den Klimakollaps, draußen vor der Tür lässt?
Das SO36 ist hergerichtet wie ein bayrisches Bierzelt. Die Bänke ziehen sich quer über den Dancefloor, und in einer Ecke steht ein Tisch mit der nächsten langen Schlange. Dort gibt es die Bingo-Zettel in Orange, Blau, Weiß und Pink. Sie kosten zwischen 1,50 und 6 Euro. Sämtliche Einnahmen (an diesem Abend etwas mehr als 2000 Euro) gehen an diesem Abend an eine Initiative für Seenotrettung. Vor der Bühne liegen die Preise, Geschenke von umliegenden Buchläden, Restaurants und Boutiquen: Eierlikör, bunte Socken, das legendäre Wandmalset von Farben Kacza und links und rechts der Bühne die Hauptpreise, jeweils ein Pappaufsteller von Inge Borg und Gisela Sommer.
Wir setzen uns ganz vorn an den Bühnenrand und Yvonne zeigt sofort schwärmerisch auf den Aufsteller von Inge Borg, mit erhobenem Bein. „Den will ich“, ruft sie und malt sich aus, wie gut der Pappaufsteller in ihre Küche passen würde. Doch sie weiß, die Chancen darauf sind gering: Sie müsste nicht nur „Bingo“ haben als erste in einer Runde, sondern dann auch noch aus der Lostrommel den Hauptpreis ziehen.
Wir reißen Zettel in Stücke und legen die kleinen Knöpfe vor uns auf dem Tisch bereit. Wer genau hinschaut, erkennt in den Knöpfen ein Gesicht. Manche haben eine Sammlung 1-Cent-Stücke dabei, alles hier hat Kultstatus.
Kurz nach 20 Uhr wird es zum ersten Mal turbulent: Mehrere Frauen und Männer laufen singend in Frauenkleidern quer durch den Saal. Das Bingo-Ballett wirft mit Federboas, Pompoms und Perücken, tanzt durch die Reihen, die Wild-Flamingo-Bingo-Band spielt laut, und dann betreten die Moderatorinnen mit gespielt schlechter Laune die Bühne: Diese Stadt, dieser Lärm und jetzt noch dieses Bingo! Den ganzen Abend kommen sie aus dem Schimpfen nicht mehr heraus.
Die Runden selbst sind sehr kurz. Zuerst kündigen die Moderatoren ein Muster an, das gespielt und über das 5×5-Feld gelegt wird. Mal spielen wir nur die erste Reihe, nur die Diagonalen, ein Viereck ist natürlich die Rosette – und gleich in der ersten halben Stunde spielen alle das Muster vom „Pimmel“: Vier Felder links und vier Felder rechts unten und in der Mitte ein Strich. Wir decken die übrigen Felder ab und schon fliegen die Zahlen um uns herum: 67, 18, 6, „den Elf“ und so weiter. Dann ruft irgendwann jemand „Bingo!“ und darf auf die Bühne.
Inge fragt meist freundlich: „Woher kommst du?“ – „Ich trau mich nicht, das zu sagen.“ – „Na, so schlimm wird’s schon nicht, Süße.“ – „Aus Stuttgart.“ – „Ok, das ist doch schlimm!“ Gisela wiederum fragt meist etwas forscher nach: „Bist du Single?“ Und dann kommentiert sie Berufe mit: „Damit kann man Geld verdienen?“ Bevor jemand die Bühne verlässt, wird er untergehakt, hebt ein Bein und ruft: „Super! Sexy! Bingo!“
Das ist das Kernelement vom Kiezbingo: Wir lernen Berliner kennen, die sich auf die Bühne trauen. Den Azubi aus Syrien, die Friseurin aus Lichtenberg, den Koch aus Mitte und die Kassiererin aus Schöneberg. Bevor sie in den Lostopf greifen, werden sie von Gisela und Inge befragt, andere würden sagen: gegrillt. Nicht immer sind die beiden fair in ihren eher persönlichen Fragen. Eine Buchautorin aus dem Iran hat es dabei vielleicht ein bisschen leichter bei Gisela als eine Unternehmensberater aus Prenzlauer Berg. Es soll schon vorgekommen sein, dass jemand ein Bingo nicht sagen wollte, weil er Angst vor den beiden hatte. Es soll auch vorgekommen sein, dass Gisela jemanden am Kragen auf die Bühne zerrte.
Manchmal müssen sie erst etwas abgeben, nämlich dann, wenn sie ein Kleidungsstück gewinnen. Dann ruft der Saal wie beim Flaschendrehen: „Ausziehen!“ Jörg steht irgendwann ohne T-Shirt auf der Bühne und kommt mit einem neuen T-Shirt wieder an den Tisch. Später wird er erzählen, dass manche schon ohne Preis von der Bühne heruntergeschickt wurden, weil sie die falsche Antwort gegeben hatten. Wird Eierlikör oder Wodka gewonnen, muss der meist schon auf der Bühne zumindest geöffnet werden.
Am ehesten lässt sich der Abend wohl mit einer Runde „Rocky Horror Picture Show“ vergleichen. Es gibt eine Menge Rituale, es wird sehr viel gelacht, gepöbelt und gewonnen. Den Elf! Du Sau! Ausziehen! Bingo!
Als wir gegen Mitternacht wieder draußen auf der Oranienstraße stehen und mit dem Pappaufsteller von Inge Borg posieren, wird uns klar, dass Yvonne wirklich den Hauptpreis gewonnen hat. Es heißt, er mache sich sehr gut neben der Speisekammer. Sie hebt ein Bein und sieht aus, als würde sie für die Ewigkeit rufen: Super! Sexy! Bingo!
Das nächste Kiezbingo findet am 13. Dezember im SO36 statt.