Seoul. Als Kim Kwang-ho seinen Bruder zum ersten Mal nach 68 Jahren wiedersieht, weint er nicht, er umarmt ihn auch nicht – sondern er bleibt kühl. „Ich konnte ja nicht sofort wissen“, sagt er wenige Wochen nach dem Treffen, „ob es wirklich mein Bruder ist.“ Er lächelt unsicher und schiebt hinterher, er sei an sich kein emotionaler Mensch.
„Ich bin Ingenieur“, sagt Kim, „also habe ich auch dieses Thema zunächst nüchtern betrachtet.“ Der 80 Jahre alte Mann wirkt streng, auch wenn es hier um einen der emotionalsten Momente seines Lebens geht. „Und es ist doch normal, dass ich nicht weiß, wie jemand aussieht, den ich fast 70 Jahre nicht gesehen habe.“
Kim will auf keinen Betrüger hereinfallen und der Mann, der ihm gegenübersitzt, könnte genau das sein: Jemand, der sich Kontakte in den Süden erschwindeln will. „Zum Glück hatte er ein Bild dabei, von sich selbst als Kind und von anderen Verwandten“, sagt Kim. „Und er kannte alle ihre Namen, da wusste ich, das muss Kwang-il sein, mein Bruder.“
Das Jahr 2018 war für Kim Kwang-ho ein ganz besonderes Jahr und für sein Heimatland Südkorea auch. Nach mehr als vier Millionen Toten im Koreakrieg und nach Jahrzehnten der Funkstille nahmen die beiden Staaten, die „Bruderstaaten“ genannt werden, Süd- und Nordkorea, am 9. Januar 2018 erstmals wieder bilaterale Gespräche miteinander auf.
Am 27. April 2018 trafen Diktator Kim Jong-un und Südkoreas Präsident Moon Jae-in sich in der demilitarisierten Zone. Die Fotos von diesem Treffen hängen noch jetzt im Schaukasten der Botschaft Nordkoreas in Berlin. Im Juni 2018 fand dann der erste Gipfel zwischen US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un in Singapur statt – und kapp acht Monate später folgt in dieser Woche der zweite Gipfel der beiden Männer in Vietnam.
Für Herrn Kim bedeutete diese Annäherung, dass er sich wieder Hoffnung machen darf, nach fast 70 Jahren Trennung Anschluss zu seiner Familie im Norden zu bekommen. Seit dem Jahr 2000 organisieren beide Staaten regelmäßig sogenannte Familienzusammenführungen. Mal werden sie kurzfristig abgesagt, mal verschoben. Doch weil Besuche verboten sind, bleiben diese Treffen die einzige Gelegenheit, bei der normale Menschen aus dem Volk aufeinandertreffen – keine Sportler oder Politiker.
Es sind immer hochemotionale Termine, sehr alte Menschen liegen sich weinend in den Armen. Bis zu 700.000 Südkoreaner haben noch Familie im Norden, 130.000 von ihnen haben sich für diese Treffen registriert, aber nur 20.000 davon konnte zu einem Treffen verholfen werden. Doch jedes Jahr wird die Zahl derer geringer, die sich noch an Verwandte im Norden erinnern können.
Kim Kwang-ho jedenfalls besteigt am Morgen des 20. August 2018 zusammen mit seiner Frau einen Reisebus und fährt in Richtung Norden, von Seoul aus nur rund 50 Kilometer. Fast 90 Menschen sitzen mit ihm im Bus, das Ticket zum Verwandten-Treffen wurde unter ihnen verlost. Die Stimmung hat er als angespannt in Erinnerung.
Stumm fahren sie vorbei an einem Urwald, zu dem sich in den 60 Jahren die demilitarisierte Zone entwickelt hat. Doch die grüne Idylle täuscht. In diesem rund vier Kilometer breiten Streifen sollen Millionen Landminen liegen. Ein weiterer positiver Effekt der Gespräche: Die Staaten haben sich geeinigt, die Minen zu räumen.
Im Gepäckfach des Busses liegen viele Pakete für die Geschwister im Norden. Herr Kim hat zwei für seinen Bruder gepackt: mit Hemden, Westen, Medikamenten und Daunendecken, weil die Winter im Norden noch härter sind als im Süden. „Ich habe auch südkoreanischen Schokokuchen eingepackt“, sagt er und lacht, „weil ich gehört habe, dass den jeder in Nordkorea kennt.“
Er spricht das Wort nicht Koreanisch aus, sondern Englisch: „Choco Pie“. Manche sagen, einige Nordkoreaner fliehen nach Süden, weil sie endlich den berühmten Schokokuchen essen wollen. Aber bis heute weiß Kim Kwang-ho nicht, ob das Paket seinen Bruder erreicht hat. „Da waren sofort Männer, die es mitgenommen haben.“ Er meint nordkoreanische Beamte, die immer neben ihnen standen. Aber das merkte er nicht, weil er sich so auf seinen Bruder konzentrierte. „Die Zeit verging viel zu schnell.“
Die Familienzusammenführungen sind streng reglementiert. An drei Tagen gibt es vier Begegnungen von jeweils rund drei Stunden. Zusammen, sagt er, habe er seinen Bruder zwölf Stunden gesehen. Manche der Treffen finden in einem großen Saal statt, mit Stimmengewirr und Lärm, andere in einem privateren Umfeld, einem kleinen Extra-Zimmer. Südkoreanische Medien umringen die Familien oft, machen Fotos. Am Tag nach einem Treffen drucken die Zeitungen Bilder der weinenden alten Menschen. Kim Kwang-ho aber sagt, dass nicht viele geweint haben. Ihm sei viel eher aufgefallen, wie still es häufig war.
Das lag auch daran, dass alle konzentriert versuchten, die Zeit zu nutzen. „Wir haben uns über unsere Familien erzählt“, sagt Kim Kwang-ho. Er berichtet seinem Bruder von seinem Studium in Seoul, wie er dann mehr als dreißig Jahre als Professor an einer Universität gelehrt habe, wie er dort seine Frau kennenlernte, drei Kinder mit ihr bekam, später vier Enkelkinder. Seine beiden Söhne sind Zahnärzte, er ist stolz, wenn er von ihnen erzählt. Dann ist sein Bruder dran: Kwang-il wuchs allein mit der Mutter auf, er studierte erst Elektrotechnik und dann Chemie in Nordkorea. Auch er heiratete, hatte aber nur eine Tochter, die ebenfalls eine Tochter hat.
Kim Kwang-ho war 13 Jahre alt, als er seinen damals neunjährigen Bruder und die gemeinsame Mutter zum letzten Mal sah. Der Norden hatte gerade den Süden angegriffen. Kwang-ho wurde wie viele flüchtende Nordkoreaner im Jahr 1950 mit Schiffen aus der umkämpften Stadt Hungnam in den Süden gebracht.
Es waren Schiffe der US-Marine und Frachter, die bis zu 100.000 Zivilisten und ebenso vielen Soldaten das Leben retteten. Die Aktion spielt eine Rolle im Film „Ode to my Father“ aus dem Jahr 2014, der diesen Moment ins Kino brachte: Tausende winkende Menschen am Hafen, und dazwischen Verwandte, die einander verlieren. „Genauso war es“, sagt er, „ein großes Chaos.“ Die Familie trennte sich dort am Hafen. Der Bruder Kwang-il dachte damals, er könnte Kwang-ho und die anderen bald wiedersehen.
Kim Kwang-ho kann sich noch genau erinnern: „Als ich das Schiff bestieg, hatte ich das Gefühl, dass ich meine Mutter und meinen Bruder für lange Zeit nicht wiedersehen würde.“ Sonst aber habe er nur wenige Erinnerungen an die Zeit vor der Trennung. „Ich weiß noch, dass ich meinen Bruder immer geärgert habe, weil er so jung war.“
Und der Bruder habe ihn daran erinnert, wie sie beim Abendessen eine richtige Familie waren: Mutter, Vater und die sieben Kinder. „Aber wir haben noch Glück gehabt“, schiebt er sofort nach. „Mein Bruder hat immerhin überlebt.“ Er selbst ist der letzte Überlebende der Familie in Südkorea, seine fünf Geschwister sind mittlerweile gestorben, ohne Kwang-il je wiedergesehen zu haben.
Jetzt wo die Zeichen mehr auf eine Kooperation mit Nordkorea stehen, denkt Kim Kwang-ho oft an seinen Bruder. Er schaut vor sich hin, faltet sein Taschentuch sorgfältig zusammen, er spricht leise und überlegt länger vor jedem Satz. Er sagt, dass weder er noch sein Bruder über politische Umstände ihrer Heimat sprechen durften.
Sie haben sich daran gehalten. „Natürlich hat mein Bruder nichts Negatives über Nordkorea gesagt“, sagt Kim Kwang-ho, „aber ich konnte sehen, dass es ihm nicht gut ging.“ Kwang-il sei sehr dünn gewesen und auch die Kleidung habe ärmlich gewirkt.
Der Moment, in dem Kwang-ho die Tragweite dieses Treffens aber bewusst wurde, ist der Moment des Abschieds. Es gab so viel aufzuholen, dass beide nicht daran dachten, was sein wird, wenn die Zeit um ist. „Doch als ich wieder auf einem Platz im Bus neben meiner Frau saß und meinem Bruder winkte, der draußen stand“, sagt er und beginnt zu schluchzen, „da wusste ich, den sehe ich nie wieder.“
Er sagt, dass er diese Erfahrung seinen Enkeln einschärft. „Damit sie verstehen, wie froh sie sein können, ihre Geschwister immer um sich zu haben.“