Ihre Schritte werden immer schneller, das können alle sehen, weil sie live übertragen werden auf dem großen Vorhang im Saal. Leslie Feist filmt sich selbst mit einer Kamera, wie sie hinter der Bühne durch Gänge hastet und schließlich im großen Saal angelangt und sich höflich den Weg durch die Menge bahnt.
Die 47-Jährige umarmt jemanden im Publikum und steht kurz darauf auf der kleinen runden Bühne inmitten der Menge. Sie hängt sich die Gitarre um, stellt sich ans Mikrofon und fragt auf Englisch: „Und was jetzt?“
Diese Frage werden sich die neuen Feist-Zuschauer unter den rund 3500 Menschen in der Verti Music Hall immer wieder einmal stellen: Was ist jetzt eigentlich: Ist es eine Video-Performance wie in Castorfs Volksbühne oder eine Lesung? Eher ein Rock- oder eher Pop-Konzert? Ein Solo-Abend oder einer mit großer Band? Ein sentimentaler Comedy-Stand-up? Oder irgendwie alles zusammen?
Beim ersten Lied landet die Kamera erst einmal achtlos auf dem Boden und auf der Leinwand sind nur ihre Füße zu sehen, riesig, wie sie in rosa Socken stecken. Vor diesem Hintergrund beginnt Feist mit „The Bad In Each Other“ aus ihrem dritten Studioalbum „Metals“. Ein grooviger Start mit tiefen Basstönen und leichten Western-Anklängen. Der Song handelt von zwei Menschen, die die gleichen Gefühle haben, aber zu unterschiedlichen Zeiten und so das Schlimmste ans Licht bringen.
Danach erzählt Feist die Geschichte von einem Ort, an dem man eigentlich gar nicht hinwollte, an dem man aber doch bleibt, weil es sich als „der richtige Ort“ herausstellt. „Kennt ihr das“, fragt sie das Publikum. „Habt ihr ein Foto von so einem Ort auf eurem Telefon?“ Ihr Kameramann Calvin werde in den kommenden Minuten durch die Reihen ziehen: „Zeigt ihm doch euer Foto.“ Während sie weitersingt (unter anderem „The Redwing“ und „Gatekeeper“) halten Menschen Bilder von Stränden in die Kamera, von Häusern in den Bergen – und ganz am Ende das Foto von ihrem Kind.
An solchen Stellen weiß man als Zuschauer manchmal nicht, wie viel denn wirklich Zufall ist bei der Inszenierung dieser Live-Musikvideos. Zu perfekt passen die hingeworfenen Glitzer-Herzen auf dem Boden. Und hat nicht auch Feist gerade ein Kind adoptiert, was viele Veränderungen in ihren Alltag brachte. Außerdem starb vor zwei Jahren ihr Vater überraschend, eine Erfahrung, die sehr in ihr fünftes Studioalbum „Multitudes“ eingeflossen ist. Hinzukam, dass ihre Tourdaten immer wieder verschoben wurden wegen einer weltweiten Pandemie und weil sie sich mit der Band Arcade Fire zerstritt, einem Musiker übergriffiges Verhalten vorwarf.
Und jetzt steht sie also auf der Berliner Bühne und ist nicht nur eine Feist, sondern gleich Hunderte: Der Kameramann hat sich beim Lied „Century“ so positioniert, dass es eine optische Rückkopplung gibt: Feist hinter Feist hinter Feist. Passend dazu singt sie immer wieder: „Someone who will lead you to someone“ – jemand wird dich zu jemandem führen. Es ist eines dieser rätselhaften Stücke, das das Vergehen von Zeit und Beziehungen betrauert. Sechs Jahre sei sie nicht in Berlin aufgetreten, sagt sie selbst danach und dass diese Zeit definitiv zu lang gewesen sei. Schließlich war sie hier auch einmal zu Hause.
Dann beginnt der Lesungsteil des Abends: Sie findet ein schwarzes Buch und liest daraus ein Gedicht vor, der von einem Sturm handelt, der kommt und vor dem sie sich wegducken möchte. Halt geben ihr in dieser Welt andere Menschen, und das Wissen um die „Elektrizität in ihren Augen“. Man könne sie sehen, sagt Feist, „wenn jemand einen zum ersten Mal anschaut“.
Rund 45 Minuten hat sie zu diesem Zeitpunkt gesungen, als Letztes die rätselhafte Ballade „A Man is not his Song“, die das Publikum fast in Trance versetzt. Umso überraschender das, was jetzt passiert: Bei „I Took all my Rings off“ öffnet sich die Bühne, der Vorhang und damit der Video-Bildschirm verschwindet – und eine große Diskokugel taucht den Saal in Lichtpunkte: Sie singt davon, dass die Welt ein Ring sei, Mond und Sterne ebenfalls – und: „Das Licht kam herein.“
Für den zweiten Teil des Konzerts wird sie also von ihrer Band unterstützt. Sie singt „My Moon My Man“, „Become the Earth“, „In Lightning“ und schließlich auch ihr wohl bekanntestes Lied: „1 2 3 4“. Es wurde ein Werbehit für Apples iPod in den Nullerjahren, Feist aber spielt es heute in einer Version, die jegliches Fingerschnipsen unmöglich macht – und trotzdem klingt es noch sehr nach ihr.