Berlin – Artem hat Bärchen-Öhrchen auf dem Kopf und erzählt ganz begeistert vom Rebound-Effekt. „Den gibt es ja nicht nur in Beziehungen“, sagt er ein bisschen zu altklug für jemanden Mitte 20, „sondern auch in der Wissenschaft.“ Am besten erkläre er es mittels Glühbirnen. „Wenn du also alle Glühbirnen zu Hause in Energiesparlampen umwandelst“, sagt Artem, „dann sparst du ja erst einmal Strom, aber wenn du dir dann angewöhnst, sie immer brennen zu lassen, dann verbrauchst du eben mehr Energie.“ Dieser Effekt – Anstieg des Verbrauchs trotz gesteigerter Effizienz –, das sei der Rebound-Effekt. „Kannst du auf Autos anwenden oder Flugpreise, funktioniert überall.“ Dann fragt er etwas unvermittelt: „Hast du eigentlich Drogen dabei?“
Als ich verneine, stellt Artem keine weiteren Fragen, aber erzählt munter weiter. Ich will gerade auch nur zuhören, will nicht von Berlin erzählen oder von irgendwas anderem, vor dem ich doch hier gerade fliehe. Also höre ich das Thema seiner Masterarbeit in Umweltwissenschaften (klar, der Rebound-Effekt), ich lerne, woher er kommt (München) und „woher eigentlich“ (aus Russland) und wo er wohnt (Wedding). Als dann jemand sich umdreht und sagt „Bist auch aus Wedding!“, hab ich meinen Gesprächspartner kurzzeitig verloren.
Wir stehen in der Schlange, um unser Stoffbändchen abzuholen, unsere Eintrittskarte zum Festivalgelände. Es ist Sonnabend, drei Uhr morgens, rund 100 Kilometer nördlich von Berlin. Bisher haben wir nur ein vorläufiges Papierbändchen mit QR-Code, das mit unserem PCR-Test verbunden ist, den ich bei meiner Ankunft gemacht habe („Mund auf, bitte ein tiefes A sagen“). Mit Papierbändchen darf ich nur zum Zeltplatz und dort mit Freunden auf mein Testergebnis warten. Meine Freunde haben Wein besorgt, Artems Freunde offenbar etwas anderes, sie haben ihm auch die Bärchen-Öhrchen ins Haar gesteckt und den Glitzer ins Gesicht gepustet. Das sollte seine Laune bessern.
Als ich per App erfahre, mein Test sei negativ, laufe ich zur Schlange, meine Freunde gehen schon einmal aufs Fest. So richtig gelöst ist die Stimmung noch nicht. Menschen schauen sorgenvoll auf die Wetter-App. Es soll Regen geben. Außerdem sind die Schilder überall irgendwie einschüchternd: „Nur mit PCR Test!“ Schon am Eingang musste man seinen Personalausweis vorzeigen, die Tickets sind streng personalisiert. Auf einem Fake-Wahlplakat am Zaun steht: „Alle reden vom Klima. Wir ruinieren es. CDU.“ Darunter hat jemand mit Filzstift geschrieben: „Ich auch, sorry.“
Das passt nicht ganz zu den Ganzkörper-Hasenkostümen, zu den Astronauten-Anzügen, den Flamingo-Hüten und diesem bunten Regenschirm mit Lichterketten, der an eine Qualle erinnert. Diese Dinge kann ich schon in der Schlange mitbekommen. Der Bass ist schon jetzt so laut, dass wir ihn bis hierher hören. Die Schlange macht einen Bogen, und plötzlich sehe ich drei Freunde von mir aus Berlin nur fünf Meter entfernt, ich könnte sie leicht erreichen. Doch genau da höre ich hinter mir diesen Dialog: „Kommt ihr mit vor?“ – „Nein, hier drängelt man sich nicht vor.“ – „Come on, das machen doch alle, wir sind zu viert, das fällt gar nicht auf.“ – „Nein wirklich, wir bleiben hier, das macht man hier nicht. Das ist Un-Fusion-haft.“
Da hörte ich ihn zum ersten Mal, den Namen, den das Festival doch eigentlich nicht haben will. Überall auf der Website versuchen die Macher den Namen „Planet C“ durchzusetzen, aber alle nennen es „Fusion“. Oder besser: ФУЗИОН.
Bis zur Pandemie galt die Fusion als Deutschlands bestes Festival. Seit 1997 treffen sich Berliner auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Lärz in der Mecklenburger Seenplatte und feiern fünf Tage und vier Nächte, also bis vor kurzem ein typisches Berliner Touristenwochenende: Donnerstagmorgen bis Montagabend. Planet C soll nur von Freitag bis Sonntag dauern. Kaum zu glauben, dass vor 25 Jahren rund 300 Berliner für fünf D-Mark hier feiern durften und 2019 ein Woodstock-ähnliches Massentanzfest im Schlamm mit rund 70.000 Menschen daraus wurde. Alle Angereisten mussten Zelte aufbauen, duschen, essen, trinken und tanzen. Und 2020? Keine Fusion.
Trauriger Mann mit Kulleraugen-Bärchengesicht
Und jetzt also Planet C. Passend zur Pandemie gibt es drei Festivals: Alpha, Beta im August und die Gamma-Version Mitte September. Alle Tickets wurden verlost. Doch schon auf der allerersten Website verbreiteten die Festival-Macher nicht nur gute Laune, sondern eher auch schlecht gelaunten Friedrichshain-Tacheles: „Dummheit, Ignoranz und Profilierungsgeilheit haben in vergangenen Jahren zu immensen Schäden geführt“, steht dort zum Beispiel. Gemeint sind illegale Graffitis auf Dixi-Klos. Auch: „Verstopft nicht unser DRK-Zelt wegen Aspirin.“ Offenbar hatten zu viele Gäste Kopfschmerzen. Und wer beim Abfeuern von Feuerwerk erwischt wird, stellen die Veranstalter klar, „muss das Feuerwehrauto waschen!“
Artem sagt, er sei noch nie auf der Fusion gewesen. Er wird nervös, so langsam kommen wir in die Nähe des Eingangs. Er zeigt mir sein Handy und macht ein trauriges Kulleraugen-Bärchengesicht. Er meint, seine Freunde hätten extra einen Gruppenchat eingerichtet. Doch während der bis vor zwei Stunden noch gut funktionierte, ist er seit einer Weile der Einzige, der noch schreibt. Untereinander stehen kleine Sprechblasen: „Hey, bin in der Schlange.“ – „Na, feiert ihr?“ – „Wo seid ihr?“ – „Treffen wir uns?“ – „…“ – „Hallo?“ – „Leute!!!“ – „Huhu?“
Artem hat bisher immer nur diese Geschichten gehört, vom Festival: von aufwendigen Lichtinstallationen; von Feuerbällen über der Tanzfläche, von Buden mit veganem Burger; von einem Mann, der immer viel zu laut „Dinnele“ ruf; von Barkeepern, die fünf Flaschen Bier über die Theke reichen und etwas unsicher „zehn Euro?“ fragen; von Diskussionsrunden zum Klimawandel; von Filmabenden zum Thema „Wie das Antropozän den Planeten zerstört“; von fast nackten Akrobaten; von ganz nackten Tänzern auf der Tanzfläche; von einer echten Giraffe („Ich schwör’s, ich hab eine Giraffe gesehen“); vom leichten Wummern, das bis zu den Zeltplätzen zu hören ist; von Menschen, die seit Stunden im Regen tanzen; von dem Gefühl, wenn man die Schuhe einfach in den Müll wirft; von dem Bild einer übervollen Dixi-Toilette, das man nie wieder aus dem Kopf bekommt; von dem kalten Gefühl, wenn man morgens um 8 Uhr nach dem Tanzen kurz in den See springt, der auf dem Festivalgelände ist. Und vor allem: dass man am besten Ort zur richtigen Zeit ist.
Als wir ganz vorn an der Reihe sind, lächelt uns eine Frau in einem großen roten Hut an. Sie sagt etwas zu laut, wie der Conférencier am Eingang zu einem Ball: „Willkommen auf Planet C!“ Ich muss hineinschlüpfen in das Bändchen, dann zurrt sie es fest und schaut mir tief in die Augen, als sie sagt: „Rein mit dir.“ Dann darf ich die Maske abziehen und sehe 10.000 Menschen ohne Maske, drei Tage lang. Ein Experiment. Artem ist längst in der Masse verschwunden. Als ich das Papierbändchen wegwerfen will, zeigt jemand auf den Mülleimer: „Da hinein, wir sind ein sauberes Festival.“ Für alles andere gilt: What happens at Fusion, stays at Fusion.
Erschienen in der Berliner Zeitung, 12.9.2021