Fünf Jahre nach dem Relotius-Skandal: Beim Spiegel sind noch viele Fragen offen

Foto: Julius Hirtzberger

Doch zurück zum Tod der Reportage und den Rouladen: Ich habe das so geschrieben, weil damals viele Spiegel-Geschichten genau so begannen. Etwas Großes trifft auf etwas Kleines, das lässt doch aufhorchen und so richtig nachprüfbar ist es auch nicht. Als ich lernte, Reportagen zu schreiben, wurde uns beigebracht, dass unser Text den Leser mit jedem Absatz davon abhalten soll, sein Mobiltelefon zur Hand zu nehmen. Heute müssen wir dafür sorgen, dass er oder sie es nicht weglegt: Jeder Absatz muss irgendwie Lust auf den nächsten machen. Und der erste Satz, der muss sitzen.

Ich stand also nach dem Kantinenessen auf der Straße und las den ersten Satz eines Textes auf Spiegel online, der einen der größten Medienskandale der Nachwendezeit auslöste: „Kurz vor dem Ende seiner Karriere kommen sich Glanz und Elend im Leben des Claas Relotius einmal ganz nah.“ Nach diesem ersten Satz erzählt Ullrich Fichtner, damals designierter Chefredakteur des Spiegels, wie Claas Relotius jahrelang Artikel fälschen, sich ganze Geschichten komplett ausdenken konnte.

Dieser Text vom 19. Dezember 2018 ist ohne Paywall noch immer zu lesen und wirklich ein interessantes Stück Zeitgeschichte. Er beschreibt, wie Relotius am 3. Dezember vor fünf Jahren seinen vierten Reporterpreis entgegennimmt, während sich im Hintergrund die Beweise gegen ihn auftürmen, bis auch endlich die Chefredaktion einsehen muss, dass sie reagieren muss. Also macht sie es selbst publik: Claas Relotius hat 60 Reportagen gefälscht.

Ullrich Fichtner beendet seinen ersten Absatz mit den damals so beliebten Ein-Wort-Sätzen. Diese sogenannten Holophrasen waren unter Reportern sehr im Trend, schon immer etwas manieriert, sicherlich, aber wer braucht schon ein Verb und ein Objekt, wenn ein Subjekt allein schon seine Wirkung nicht verfehlt – oft durch einen Absatz abgetrennt:
Fichtner schreibt: „Fake.“
Ein paar Zeilen später: „Der bescheidene Claas? Ausgerechnet?“

Als ich den Text damals anfing zu lesen, konnte ich wie viele Journalisten in diesem Land nicht mehr aufhören, auch ohne die Taschenspielertricks des Reporters, ich war fasziniert, wie er Stück für Stück das Drama entblätterte. Er wurde später dafür kritisiert, nicht einfach die nüchterne Form des Berichts gewählt zu haben. Aber vielleicht musste es genau so ein Text sein, denn er wird auch noch in weiteren fünf Jahren interessant zu lesen sein.

Ich las dann das gesamte Sonderheft des Spiegels mit dem gespreizten Leitspruch auf dem Titel „Sagen was ist“, schaute diverse Dokumentationen, las das wunderbare Buch von Juan Moreno „1000 Zeilen Lüge“. All diese Werke spiegeln eine immer neu formulierte Fassungslosigkeit wider.

Sie deckt sich bis heute mit meiner Fassungslosigkeit darüber, dass ich diesen Texten geglaubt habe. Ich habe mit Kollegen über „Nummer 440“ und „Die letzte Zeugin“ gesprochen, wie immer begeistert, wenn mal wieder ein neuer Relotius erschienen war. Wie schafft er das nur? Ich weiß noch, wie ich bei seinem Stück „Königskinder“ für einen Moment gedacht habe: Warum schreibt er auf, wie viele Stufen das Kind in seine kalte nasse Kellerbude hinabsteigt? Warum ist das wichtig? 15 Stufen. Er hat für diesen Text den vierten Reporterpreis gewonnen.

Ich habe damals am 19. Dezember 2018 eine Nachricht geschrieben, versucht, nüchterne Worte zu finden für dieses Ereignis, wie sicherlich viele Kollegen. Doch im Grunde bin ich bis heute noch nicht wirklich weitergekommen. Ich habe nicht das Gefühl, dass es nicht noch einmal vorkommen kann. Ich glaube, ich könnte wieder auf einen gut geschriebenen Text hereinfallen, heutzutage sogar von einer KI geschrieben, auch mit Holophrasen. Vielleicht.

Ein paar Fragen bleiben noch, eigentlich drei: Warum waren zwei von drei Mitgliedern in der Aufarbeitungskommission des Spiegels Mitarbeiter des Magazins und wurden während dieser Zeit befördert, wie es die Sky-Doku andeutet? Warum ist der damalige Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer MDR-Programmdirektor geworden, ohne dass es irgendjemand wagte, den Namen Claas Relotius in seine Vita hineinzuschreiben, auch wenn dieser Name dort wirklich hingehört? Und warum wurde dieser brisante Stoff, der Journalisten des ganzen Landes bis heute den Arbeitsalltag erschwert, ausgerechnet in eine Kinokomödie von Bully Herbig verwandelt mit Pappkameraden als Hauptfiguren, die ernsthaft Golf spielen oder unverständliche Eheprobleme haben?

Denn, ja, alle deutschen Reporter kann jetzt immer der Relotius-Style vorgeworfen werden wegen dieser Sache vor fünf Jahren. Und der Vorwurf sitzt jedes Mal echt tief. Unsere Art, Geschichten zu erzählen, hat sich verändert. Und an manchen Tagen stehe ich geistig noch immer dort vor der Musikerkantine hinter dem Konzerthaus und scrolle den Text immer wieder nach oben und nach unten. Als ich ihn heute noch einmal gelesen habe, musste ich auch lachen. Die Spiegel-Redaktion hat inzwischen darunter eine Korrektur ergänzt, weil ein Wort „in einer früheren Version des Textes“ verwendet wurde, das heute als unangemessen gilt. Das Wort verdient einen Ein-Wort-Satz und es ist wirklich alles andere als zeitgemäß. Getürkt.