Hans-Dietrich Genscher beugt sich in einem Sessel im Hotel „Adlon“ nach vorn und malt mit der Spitze des Zeigefingers einen kleinen Kreis auf seine Stirn. „Kopfschuss“, sagt er. „Mitten in die Stirn haben sie ihn getroffen.“ Der Mann neben ihm sei in sich zusammengesunken, als der Schuss fiel. Der Schütze hatte verborgen auf einem Balkon gestanden.
Der Tote war ein Kamerad aus der Kompanie, in die Genscher im Jahr 1944 als 17-Jähriger eingezogen wurde. Er selbst hatte zum Zeitpunkt des Schusses einen Stahlhelm auf, der andere nicht. Genscher sagt, dass ihn der Helm gerettet habe. „Ohne Helm hätte er möglicherweise auf mich gezielt, dann würde ich heute hier nicht sitzen.“
Genscher erzählt an diesem Nachmittag sowohl vom Krieg als auch vom Tod, und das nicht nur einmal. Er wird später sagen, dass sich ein Gespräch verändert, wenn man den Tod erwähnt, und dass es einen Menschen für immer verändert, wenn man das erlebt hat, was er erlebt hat.
Er wird nichts überdramatisieren, aber es wird klar werden, dass Hans-Dietrich Genscher auch Glück hatte. Er hat nicht nur den Krieg überstanden, sondern auch Lungentuberkulose und einen „Vernichtungsschmerz“, alles in anderen Jahrzehnten, aber Zeitsprünge macht er an diesem Nachmittag viele.
Den ersten gleich zu Beginn des Spaziergangs. Kurz nach der Begrüßung im Foyer des „Adlon“ läuft Hans-Dietrich Genscher für das Foto ans Brandenburger Tor. Es heißt, er laufe nicht mehr so viel. Dafür aber macht er sehr schnelle Schritte, als er das Hotel verlässt. Er ist alt geworden, ja, aber so forsch, wie er jeden Meter nimmt, könnte er auch einen Staatsbesuch absolvieren.
Das Einzige: Er wirkt missgelaunt, hat offenbar keine Lust für das Foto zu posieren. Hände erst „so“ halten, dann „so“, hören, wie Fotografen seine Aufmerksamkeit wollen: „Herr Innenminister!“ (von 1969 bis 1974), „Herr Außenminister!“ (von 1974 bis 1992) oder einfach: „Herr Genscher!!!“.
Fotograf Martin Lengemann bittet Genscher leise, sich ein bisschen zu drehen, der aber grummelt. Fünf Mädchen in seinem Rücken haben derweil viel Spaß, sie springen alle gleichzeitig vor dem Brandenburger Tor für ein Foto in die Höhe. Wenn Genscher sich noch etwas weiter drehen würde, könnte er sie sehen.
Eines von ihnen trägt einen Mantel in derselben Farbe wie Genschers Schal und Pullunder. FDP-Gelb. Genscher-Gelb. Legenden-Gelb. Dann reicht es ihm. Im Abstand von etwa acht Sekunden sagt er:
„Sie haben noch drei Minuten.“
„Jetzt noch zwei Minuten.“
„Noch eine Minute.“
„Eine Minute Zugabe.“
„So“, sagt er und geht. „Machen Sie”s gut.“
Der kurze Spaziergang ist zu Ende. Wir laufen schnell zum „Adlon“ zurück, in dem er immer übernachtet, wenn er in Berlin ist, mindestens ein oder zwei Nächte pro Woche. Hier hat er Besprechungen mit Politikern, Interviews mit Journalisten, Treffen mit Freunden. Das Hotel gefalle ihm, die zentrale Lage, die schweren Teppiche, vor allem die Architektur. „Sie haben es so aufgebaut, wie es war.“
Da erwähnt er indirekt zum ersten Mal den Krieg, in diesem Fall das 1945 ausgebrannte Hotel. Genau wie dieses Gebäude oder das Brandenburger Tor oder der Potsdamer Platz ist auch Hans-Dietrich Genscher ein Zeitzeuge. Der einzige lebendige. Kein Wunder, dass er sich an diesem Ort wohlfühlt.
Es kann auch daran liegen, dass er längst kein normaler Hotelgast mehr ist. Die Rezeption muss nicht nachschlagen, unter welcher Nummer sie ihn erreichen kann, der Mann an der Tür sagt „Guten Tag, Herr Genscher“ so, als sei es das dritte Mal in dieser Woche, und die Frau im Lift weiß, dass sie nicht erklären muss, wie er diese Zimmerschlüsselkarte an den Sensor halten muss.
Doch es gibt noch andere Gäste, solche, die täglich wechseln. Im Fahrstuhl trifft Genscher auf eine Frau mittleren Alters, die ganz aufgeregt und etwas zu laut sagt: „Sie sind der Herr Genscher!“ Er beginnt ein Gespräch, höflicher Small Talk.
Erster Stock. Er: „Sie kommen aus Süddeutschland, oder?“ Sie: „Aus Göppingen, ja, aber ich wohne jetzt in Hof.“
Zweiter Stock. Er: „Aus Göppingen!“ Kurze Pause. Dann sie: „Ich würde Ihre Partei so gern wählen, aber Sie müssen sie auffrischen!“ Er: „Ja, Sie müssen dabei helfen!“
Dritter Stock. Sie: „Wir müssen was tun! Sonst haben wir Pech!“ Er: „Ja, ich muss jetzt hier raus.“
Solche Situationen passieren ihm oft, sagt er, als er sein Zimmer betritt, aber diese Frau habe ihm gefallen. Positiv sei ihre Einstellung gewesen. Schließlich habe es die FDP nie leicht, sei nie eine Mehrheitspartei gewesen. Doch ohne sie wären Entscheidungen wie die Westintegration oder die Ostpolitik nicht zustande gekommen.
Leicht sei es auch für ihn damals nicht gewesen, die Koalition mit Kanzler Helmut Schmidt zu beenden. Die FDP wollte mehr von ihren wirtschaftspolitischen Vorhaben durchsetzen, und das ging mit der CDU unter Helmut Kohl leichter als mit Helmut Schmidt, der in einigen Fragen die SPD nicht hinter sich hatte.
Zehn Minuten mit Hans-Dietrich Genscher kommen einem Galopp durch die deutsche Geschichte gleich. Er spricht gern über den Liberalismus, den Begriff der Freiheit, das „Sich-nicht-verbiegen-Lassen“. Aber er kann dieses Reden über abstrakte Begriffe mit Geschichten füllen.
Er trat der FDP vor 50 Jahren bei, saß 33 Jahre lang für sie im Bundestag, 23 Jahre im Bundeskabinett. Er war Teil der Bonner Republik, einer anderen Politikergeneration mit Kurt Schumacher, Konrad Adenauer oder Theodor Heuss. Eine Zeit, in der Politiker nicht über 25.000-Euro-Vortragshonorare, Kanzlergehalt oder Promotionsplagiate diskutierten. Er sagt diplomatisch: „Jede Zeit hat ihre anderen Typen.“
Derzeit tritt er häufig mit Christian Lindner auf, einem Politiker, der 50 Jahre jünger ist als er und mit dem Genscher jetzt ein Buch schreiben will. Auf seinen Einfluss angesprochen, sagt Genscher: „Ich weiß nicht, wie wichtig ich heute für die Partei bin, aber ich weiß, dass die Partei für mich wichtig ist.“
Derzeit liegt die FDP mit vier bis fünf Prozent gleichauf mit den Piraten, doch er sagt, dass man in Nordrhein-Westfalen gesehen habe, dass aus zwei Prozent in kurzer Zeit acht Prozent werden können, wenn die Menschen – so wie die Frau im Fahrstuhl – sich für die Idee des Liberalismus begeistern.
An dieser Stelle holt er wieder weit aus, weiter, als es Christian Lindner, Philipp Rösler oder Guido Westerwelle jemals könnten. Die Idee sei ihm zum ersten Mal am 7. Mai 1945 gekommen, dem letzten Kriegstag.
Er hatte den Tod eines Kameraden direkt neben sich erlebt, war Soldat der Armee „Wenck“, jener 80.000 Mann, die sich von der sowjetischen Umklammerung befreiten und bei Tangermünde an die Elbe kamen. Ihr Ziel war nicht, den Krieg zu gewinnen – daran glaubte niemand. Sie wollten in amerikanische Gefangenschaft, alle hatten Angst vor den Sowjets, zu Recht, wie sich zeigte.
Damals konnten sie den Fluss nur auf Holzstegen überqueren. „Neben mir ging einer, mit dem ich von Anfang an auf einer Stube war.“ Der Mann habe zu ihm gesagt: „Was ist los, du sinnierst so?“ Genscher antwortete: „Ich habe eben zwei Entscheidungen getroffen. Die erste: Ich haue hier so schnell wie möglich ab. Die zweite: Ich will nur noch machen, was ich will.“
Hans-Dietrich Genscher lacht auf, als er daran zurückdenkt. Als ob er sich noch einmal freut, dass er nicht erschossen oder in Gefangenschaft gefoltert wurde, jetzt hier sitzen kann. Der Krieg war vorbei, und kurz darauf hörte er auf einer Versammlung den für ihn inzwischen berühmten Ausspruch: „Der Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu jeder Form der Unfreiheit.“
In diesem Moment habe er gewusst: Das ist mein Verein. Er trat am gleichen Tag den Liberaldemokraten bei. „Demnächst ist das…“, er überlegt, schaut nach oben, winkt ab, „…na ja, unendlich viele Jahre her.“
Es ist leicht, mit Hans-Dietrich Genscher über Geschichte und Weltpolitik zu reden, fragt man ihn aber nach Freunden und Familie, schaut er, als ob sich das nicht gehöre. Dann erzählt er doch von seinem ältesten Freund, einem Hallenser, mit dem er nicht nur Kriegserinnerungen teilte, sondern: Kindheit, Jugend, Krieg, Alter. Vor zwei Jahren starb er. „Das war der seltene Fall“, sagt er, der Überlebende, „dass ich am Grabe gesprochen habe.“
Er sei immer sparsam mit dem Wort „Freund“ gewesen, aber für Roland Dumas, Frankreichs Außenminister in den 80er- und frühen 90er-Jahren, habe er ihn verwendet. Dabei hatte Dumas zunächst das Amt abgelehnt. Er wollte nichts mit den Deutschen zu tun haben, sein Vater war von der Gestapo ermordet worden.
Wenn man Genscher fragt, wie die beiden trotzdem Freundschaft schlossen, sagt er etwas, das nur ehemalige Außenminister so formulieren können: „Sie können sich vorstellen, wie das ist, da ist so ein langweiliges Abendessen in einem großen, hellen Raum, und man redet über Asien und die USA und zu später Stunde kommt plötzlich die Frage auf: Wo warst du eigentlich am letzten Tag des Krieges?“
Die Frage hat er heute schon beantwortet. Es muss so ähnlich wie in diesem Raum abgelaufen sein. So entstand damals die Basis für eine Freundschaft – und auf lange Sicht vielleicht eine Grundlage für Europa.
Eben jener Roland Dumas war auch im Jahr 1989 Außenminister Frankreichs, ein Jahr, das Genscher beinahe nicht überlebt hätte. Er saß im Juli 1989 beim Friseur, wollte danach in den Urlaub fahren. „Plötzlich Ende, Aus“, sagt er. „Ich hatte einen Vernichtungsschmerz im Unterkiefer.“
Von solch einem Schmerz hatte er kurz zuvor in einem Flyer der Herzstiftung gelesen, den seine Frau ihm gezeigt hatte. Nur dadurch habe er gewusst, dass sich ein Infarkt ankündigte. Zum Friseur, der ihn trotzdem nicht gehen lassen wollte, sagte er: „Schneiden Sie hinten ein bisschen gerade, ich muss ins Krankenhaus.“
Wenige Wochen später kommt es zu einer Szene, die noch heute 100.000-fach auf YouTube angeschaut wird: Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft, nicht einmal ausreden kann er, weil die Menschen so jubeln.
Er sagt, er habe nie geweint bei öffentlichen Auftritten, aber wenn, dann wäre es dieser Moment gewesen. „Doch dafür war die Anspannung viel zu groß.“ Nun sitzt er im „Adlon“ und wiederholt den Satz von damals: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“
Weiter spricht er nicht. Selbst in seiner Erinnerung ist dieser Satz abgebrochen. Außerdem klingelt das kleine Telefon auf dem Tisch. Er bittet um Rückruf. Fünf Minuten, sagt er. Wenn das Genscher-Minuten sind, werden es nur Sekunden sein.
Bald auf Twitter
Für einen Augenblick geht es nicht um schwere Momente vor langer Zeit, sondern um die Gegenwart. US-Wahl? „Ich war klar für Obama, Bush junior hat Amerika durch seine Politik so verheerend geschadet.“ Angela Merkel? „Ich kenne sie noch vom Kabinettstisch, sie ist sehr originär und sich selbst treu.“ Twitter? „Das Phänomen nehme ich wahr, aber ich nutze es noch nicht, werde das aber ändern.“
Die Zeit ist eigentlich abgelaufen, aber dann erzählt er noch eine letzte Geschichte, es ist die mit dem größten Zeitsprung, fast 80 Jahre zurück. Es ist nur eine kleine Anekdote, aber sie handelt wieder von einer freien Entscheidung, und an ihrem Ende steht die Vorstellung, dass ohne diesen Moment für ihn und für Deutschland vielleicht vieles anders gekommen wäre.
Es war an einem Adventssonntag 1936, an dem seine Eltern spazieren gingen, wie immer am Sonntag. „Ich hatte mir überlegt“, sagt er und klingt selbst dabei fast staatstragend, „es wäre an der Zeit für meine erste Zigarette.“ Er hatte sich eine Packung Lloyd gekauft, zehn Pfennig für vier Zigaretten. Der neunjährige Genscher setzte sich in den Lehnstuhl des Vaters.
Genscher lehnt sich jetzt genauso im Hotel in seinem Sessel zurück. Plötzlich kam der Vater herein – er hatte etwas vergessen – und sah seinen Sohn dort. Genscher sprang hoch, bekam eine Ohrfeige, die erste und einzige. Schon am Abend war das vergessen, aber der Vater sagte, er wolle das nie wieder sehen. Diese Szene habe sich bei Hans-Dietrich Genscher eingebrannt. „Dieser Blick…“ Kurz darauf wurde der Vater ins Krankenhaus eingeliefert, er starb im Januar des darauffolgenden Jahres an Blutvergiftung.
Hans-Dietrich Genscher habe nie wieder in seinem Leben eine Zigarette geraucht. „Bei den Krankheiten, die ich hatte – wäre ich Raucher, säße ich vielleicht jetzt nicht hier.“