Berlin. Rainald Grebe sitzt in einem Frühstücksraum des Hotels Kastanienhof auf der Kastanienallee in Prenzlauer Berg. Er sagt, er sei hier noch nie gewesen. Der komplett leere Saal strahlt etwas Trauriges und gleichzeitig Exklusives aus. Mitte April ist Rainald Grebe 50 Jahre alt geworden. Er schenkt sich selbst ein großes Konzert in der Waldbühne, am 31. Juli. Die Proben dafür sind angelaufen. Vor einigen Wochen kam sein neues Album „Popmusik“ heraus. Es ist fröhlich und sentimental, wie viele Alben von ihm. Im letzten Song heißt es: „Sind Sie nicht dieser Sänger von ‚Bra-han-den-burch‘, wir wissen nicht, was Sie haben, aber wir checken sie durch.“ Am Ende singt der Tod im Lied: „See you soon!“
Herr Grebe, erste Kollegen sprechen jetzt offen von ihrer Depression, wie geht es ihnen nach fast 14 Monaten Pandemie?
Inzwischen finde ich das legitim, also man darf ganz offen Depressionen haben. Ich habe lange Zeit gesagt, mir geht es doch ganz gut. Ich bin schließlich privilegiert, gebe Interviews…
Sie bringen im Lockdown ein neues Album heraus…
Genau, aber die Zahlen steigen wieder, die Kitas machen wieder zu, die Künstler bleiben weiter zu Hause. Die Kalenderblätter fliegen raus, April, Mai – und kein Leben nicht. Manchmal schaue ich zurück und denke, der Beruf war ja mal ganz schön.
Konzerte für Instagram waren keine Option für Sie?
Na ja, es gibt Kollegen, die haben vor Autos gespielt, also in einem Autokino. Ich wollte das nicht. Außerdem fehlt mir die Erfahrung.
Vermissen Sie die Bühne nicht?
Ich habe mal zwei Jahre als Dramaturg gearbeitet. Ich muss nicht immer in der ersten Reihe stehen. Man vergisst es vielleicht auch, weil es inzwischen schon so lange her ist, dass Veranstaltungen nicht nur angekündigt sind, sondern dann auch wirklich stattfinden.
Aber die Veranstaltung in der Waldbühne soll am 31. Juli sein, wie sicher können Sie jetzt sein, dass Sie dann singen dürfen?
Natürlich sind das erschwerte Bedingungen unter Corona. Und es bleibt natürlich ungewiss. Schon die Proben sind ein Abenteuer. Die Querflöte ist ja das schlimmste Instrument, die braucht zwölf Meter Abstand. Eine Tuba geht wieder, da braucht man weniger Platz. Generell gilt die Regel: Je größer der Trichter, desto geringer die Distanz. Bei Menschen ist die Lautstärke entscheidend. Wenn jemand schreit, dann sechs Meter Abstand, eineinhalb Meter beim normalen Sprechen.
Schlägt sich der Lockdown in ihrem neuen Album eigentlich nieder?
Das sind alles Songs, die ich im Januar und Februar 2020 geschrieben habe, also kurz davor.
Moment, Sie haben mitten im Winter einen Song über Eisessen geschrieben?
Das Thema ist so virulent in der Stargarder Straße, dort gibt es diesen Eisladen, HokeyPokey, die machen doch gefühlt im Dezember zu und im Januar wieder auf.
Basilikum-Grüner Apfel!
Rosskastanie-Rosmarin! Das ist kein Eisladen, heute heißt das Eis-Patissier. Das Ding ist, ich kenne da jemanden, der wohnt darüber. Ich hatte vor, im Sommer da vielleicht die Lautsprecher auf den Balkon zu stellen und dann läuft das Lied in Dauerschleife. Vielleicht freut das ja sogar die lange Schlange.
Ein Happening für Menschen, die im Abstand in der Schlange stehen. Musik für eine große Gruppe, das gibt es doch gar nicht mehr.
Einerseits hat man sich daran gewöhnt, andererseits merke ich eine gewisse Anspannung während der Viruskrise. Ich kenne fast nur Menschen, die Glück hatten bisher. Aber viele zermürbt es, dass keiner sagen kann, wie lang das noch dauert. Manche nehmen das ernst, manche überhaupt nicht, es gibt Menschen, die zerstreiten sich sogar über die Maßnahmen.
Kennen Sie solche Menschen?
Klar, die kennt doch jeder: Der eine läuft jetzt mit bei den „Querdenkern“, der andere lässt sich nicht impfen. Und ich hänge rum und rege mich darüber auf, dass ich keine Novemberhilfen bekomme.
Sind sie nicht berechtigt?
Ich musste nachweisen, dass 80 Prozent meiner Einnahmenmengen wegen Corona wegfallen. Ich komme aber nur auf 73 Prozent. Auf der anderen Seite: Die Kollegen, die 5000 Euro bekommen haben, müssen jetzt nachweisen, wofür sie es ausgegeben haben. Und das ist schon hart.
Haben Sie in der Zeit wenigstens eine Sprache gelernt oder etwas in der Art?
Ich habe tatsächlich etwas Neues zum ersten Mal gemacht: Ich habe angefangen, ein Hörspiel zu schreiben. Ich hatte mir ursprünglich vorgestellt, das zu machen, wenn ich alt bin, und dann ist es jetzt im Lockdown einfach passiert. Man sitzt zu Hause und liest.
Wovon wird es handeln?
Es geht um den Berliner Autor Hans Fallada, ich beschäftige mich mit seinen letzten Jahren vor seinem Tod. Sein Leben soll nur anhand von nicht-fiktionalem Material gezeigt werden, Arztbriefe, Notizen von Dienstmägden oder von Freunden, Zeugenaussagen vor Gericht, solche Sachen. Das Beste ist: Weil es ein Podcastformat ist, das vor allem für die Mediathek produziert wird, darf es so lange dauern, wie es eben dauert. Es geht wirklich nur nach dem Inhalt.
Wie kamen sie darauf?
Er wohnte in Carwitz, das ist nur ein paar Dörfer weiter von dem Ort, wo ich wohne. Er war ziemlich besoffen und versuchtet.
Versuchtet?
Ja, er selbst hat es immer „dun“ genannt. Er hat Morphium genommen, alle möglichen Drogen, aber vor allem war er in Berlin in den Kneipen. Er war ja ein erfolgreicher Schriftsteller. Aber er hat den Erfolg eben auch sofort wieder versoffen. Dann hat er sich einen Hof in Brandenburg gekauft und dort mit Frau und drei Kindern gelebt.
Wie ist es geendet?
Schlimm. Er war dauernd in der Psychiatrie. Den Kneipenroman „Der Trinker“ hat er ja in sechs Wochen geschrieben. Im Knast. Er war im Grunde immer voll drauf. Es ist erstaunlich, was der menschliche Körper alles verträgt. Ich meine: zwölf Flaschen Wein an einem Tag! Er starb an einer Überdosis Schlafmittel, seine Frau hatte sich mit den Medikamenten vertan.
Vielleicht ist das die falsche Frage, aber: Suchen einen die Stoffe auch manchmal? Warum ist der Mann Ihnen nahe?
Ach, zum einen ist er so eine Dorfattraktion in meiner Gegend. Das Museum und Archiv zu Fallada ist einfach nicht weit. Alle, die uns besuchen, wollen immer dahin.
Anders gefragt: Arbeiten Sie an Ihrem Alterswerk?
Ja, das ist mein Spätwerk. Ich schaue mal, wie lange ich noch mache. Ich bin ein bisschen krank.
Was haben Sie?
Die Krankheit heißt Vaskulitis, es ist eine Autoimmunkrankheit, die bei vielen das Leben verkürzt.
Wie äußert sich das?
Ich habe Schlaganfälle. Im Januar war ich wieder im Krankenhaus. Ich hatte sechs Schlaganfälle. Ich dachte, ich werde nicht mehr. Dass ich hier sitze, das ist schon eine Zugabe.
Wirkt sich das auf Ihren Alltag aus?
Ich finde es relevant, dass auch Ärzte die Frage beantworten: Wie lange denn noch? Es könnte in diesem Jahr passieren, dass ich nur noch im Rollstuhl sitze.
Kann man die Krankheit in Schach halten?
Ach, da gibt es verschiedene Äußerungen von Spezialisten. Ich trinke zum Beispiel keinen Alkohol mehr, andere sagen, man kann mit Ernährung und Sport etwas dagegen tun. Das versuch ich jetzt, ich laufe viel herum oder ich fahre Fahrrad.
Sie wirken jetzt ganz gesund.
Ja, das ereilt mich immer ganz plötzlich. Weil die Krankheit sich im ganzen Hirn ausbreitet, kann sich das jedes Mal anders äußern. Das eine Mal äußert es sich eher wie ein Tinnitus, das andere Mal hatte ich Ohrensausen, beim dritten Mal hatte ich große Schwierigkeiten zu sprechen, es ist jedes Mal anders. Einmal fühlte es sich an wie ein Kreislaufzusammenbruch oder ich werde einfach nur müde.
Kann man mit der Diagnose einen Alltag leben?
Ich bin glücklich, bisher davongekommen zu sein. Ich habe eine Reha gemacht und meine Familie unterstützt mich sehr. Ich war lange viel allein. Ich gehe aber inzwischen auch wieder unter Leute, treffe Menschen.
Ist Ihr neues Album deshalb etwas sentimental, vor allem nach hinten raus?
Sentimental war ich vorher schon. Die Diagnose liegt schon eine Weile zurück, die war im Jahr 2014. Und 2017 kamen die ersten Schlaganfälle. Seitdem ist das Todesthema in meine Liedzeilen hineingetropft.
Ein weiterer sentimentaler Song ist der über den letzten Flug einer Stewardess. Gibt es die wirklich?
Ich habe eine echte Stewardess für das Lied interviewt. Sie hat bei der Lufthansa gearbeitet. Sie ist Ende 40 und wartet darauf, wieder fliegen zu dürfen. Sie hat alles so erlebt, die Sexgeschichten mit Piloten, die Skype-Anrufe mit Mutti.
Sie sind gerade 50 geworden, warum gönnen Sie sich ein Programm für nur einen Abend? Warum all die Proben für nur eine Show?
Weil es das Geilste ist, was ich bisher gemacht habe. Das ist so eine Verschwendungsarie. Ich kenne ja das Tourleben, jeden Abend das Gleiche. Das ist diese Sehnsucht, dass man einmal was ganz Großes macht, an das sich alle erinnern. Etwas, bei dem es ungewiss ist, wie es ausgeht. Das geht beim Wetter los und geht mit der Technik weiter. So vieles ist offen. Ich habe das zweimal gemacht bisher und ich möchte es noch einmal machen.
Und danach wieder zurück nach Nordbrandenburg?
Klar, ich bin viel in Brandenburg, wir sind zwar als Berliner immer „die Bouletten“, aber wir machen Dorffeste mit den Einheimischen, den „Dorfis“. Inzwischen gibt es ja quasi einen Boulettenüberhang in Nordbrandenburg. Die alten Einwohner sterben aus.
Sind Sie als Wessi dort gut angekommen?
Ich wohne ja seit 1991 im Osten. Also, fremd bin ich schon lange nicht mehr. Im Lockdown war ich sechs Wochen am Stück da. Bis vor kurzem hatte ich kein Internet. Für eine E-Mail musste ich zu den Nachbarn gehen. Es verändert einfach die Gesprächskultur, wenn man plötzlich einen Namen vergessen hat und ihn nicht googeln kann. Ich denke den ganzen Abend darüber nach …
Und Sie sitzen mit Freunden am Lagerfeuer?
Zum Beispiel. Ich habe jetzt Zither gelernt, das ist ein Alpeninstrument, das kann man mit ans Lagerfeuer nehmen.
Wie klingt der Song „Brandenburg“ auf der Zither?
Die Zither hat nur sechs Akkorde, „Brandenburg“ kann ich darauf nicht spielen. Beatles-Songs aber funktionieren. „Let it be“. Und ich habe noch ein Lied gelernt: „Sah ein Knab ein Röslein stehn“.
Noch so ein Lied mit traurigem Ende. Im Lied „Der Tod“ erzählen Sie, dass selbst die Ärzte Sie auf den Brandenburg-Song ansprechen. Was sagen die Nachbarn?
Der erste Winter in Brandenburg, der war so hart, da platzten die alten Leitungen. Es gab eine Havarie. Und als ich die Feuerwehr angerufen habe, da kamen die Dorfis und standen dann da: „Ach nee, der Großkünstler!“ Da war schon klar, gegen welche Widerstände ich kämpfen musste. Aber ich fühle mich sowohl dort als auch in Berlin sehr zu Hause.
Erschienen in der Berliner Zeitung, 1.5.2021.