Ziemlich in der Mitte des Konzerts im Nicolaisaal erzählt Andreas Dresen die Geschichte von Bob Marley in Hoyerswerda. Die geht so: Der Jamaikaner sei in den 70er-Jahren sehr an der DDR interessiert gewesen und besuchte das Land. Dresen: „Das hat so mancher Stuttgarter heute noch nicht geschafft.“ Bob Marley mietete sich also einen Trabant und fuhr in die Lausitz. „Doch wie der Zufall so will“, sagt Dresen wie alle schlechten Lügner, „blieb der Trabant auf der Landstraße liegen.“ Der Legende nach schlenderte Gerhard Gundermann vorbei und nahm Bob Marley mit nach Hoyerswerda zu einem Konzert. Dresen: „Und so kam der Reggae per kultureller Aneignung aus der Lausitz in die Welt.“
Diese irre Räuberpistole ist an diesem besonderen Abend in Potsdam nur ein Vehikel, um zu einem der großen Hits von Gundermann überzuleiten: „Hier bin ich geboren“, in einer Reggae-Version. Das Lied handelt vom Aufwachsen in der DDR und von den Widersprüchen, die im Lebenslauf eingebrannt sind. Die Sänger reichen einander symbolisch immer wieder einen imaginären Joint. Die Lausitz ist im Lied ein Ort, wo die Kühe „mager sind wie das Glück“, wo man „Junge Pioniere vereidigt“ und „alte Freunde beleidigt“. An einer Stelle reimt Gundermann „halb volle Teller“ mit „Leichen im Keller“ und spätestens da ist schon ziemlich viel von der Biografie des Sängers verraten.
Gerhard „Gundi“ Gundermann war ein Sänger und Bergarbeiter, der 1955 in Weimar geboren wurde, in Hoyerswerda eine Band gründete, heiratete, die Tochter bekam, und dessen Lebensgeschichte 2018 in einem Film von Andreas Dresen ein Denkmal gesetzt wurde. Darin bekommen nicht nur die melancholischen Lieder viel Raum, sondern auch die Enthüllung von 1992, dass der Sänger Mitglied der Staatssicherheit war und Freunde ausspionierte. Der unsentimentale Blick auf die DDR war nicht nur beim Publikum ein Erfolg, sondern bekam auch sechs Deutsche Filmpreise.
Der Hauptdarsteller Alexander Scheer, der schon zuvor als Keith Richards im Film und als David Bowie auf der Bühne aufgetreten war, verkörperte Gundi auf eine Art, die ihm eine neue Karriere ermöglichte: Zusammen mit Andreas Dresen und einer Band um das Ex-Pankow-Mitglied Jürgen Ehle treten sie seitdem immer wieder auf und spielen Gundermann-Lieder. Der Nikolaisaal legt für das Konzert am Sonnabend noch einen drauf und organisiert das Filmorchester Babelsberg, das Scheer und Dresen bei rund der Hälfte der Lieder begleitet. Die Karten waren kurz nach der Ankündigung ausverkauft, ein zweiter Auftritt ist derzeit nicht geplant, trotzdem warteten an der Abendkasse noch einige auf Restkarten („Wir nehmen auch Stehplätze“), aber es war nichts zu machen.
Als Trost verkündet Andreas Dresen schon bald nach seinem „Hallo Potsdam“, dass der Abend aufgezeichnet werde. Das erste Lied des Abends beginnt mit der Zeile „Alle Filme, die ich drehen wollte sind schon gedreht.“ Es ist Gundermanns Lied „Leine los“, das sich aber nicht auf ein Schiff bezieht, das auf große Fahrt geht. Dresen singt: „Ich bin nur ein armer Hund, aber wer, wer ließ mich von der Leine los.“ Alle Filme gedreht, alle Kleider genäht, alle Kaiser gehenkt, alle Schiffe versenkt. Das Lied ist 1997 erschienen, ein Jahr vor Gundermanns Tod.
Überhaupt ist es trotz des ausverkauften großen Saals und der vielen Menschen auf der Bühne eine recht familiäre Stimmung. Alle im Saal kennen die Begriffe „Amiga-Langspielplatte“ und „EVP“. Im Publikum sitzt die Tante von Alexander Scheer, Evi aus Luckenwalde, die er fröhlich grüßt und sich bei ihr bedankt für die vielen Stunden, die sie ihm klassische Musik auf dem Plattenspieler vorspielte. „Wer hätte das gedacht, dass wir einmal mit Orchester auftreten!“ Und dann ist da auch Conny Gundermann, die Witwe, die kurz aufsteht und winkt, auch Tochter Linda ist gekommen.
Ihr hat Gundermann alle Lieder vor allen anderen vorgespielt, außer einem mit dem Titel: „Ich kann mich nicht erinnern, warum ich grad bei dir hängen geblieben bin.“ Als Gundi es das erste Mal beim Konzert spielte, lief sie nach der dritten Strophe hinaus: „Früher konnte ich Weiber wie ein Schaffner die Fahrkarten lochen / heute sag ich, Baby willst du mir nicht was Schönes kochen.“ Dieses Mal blieb sie sitzen und hört auch das Ende des Liedes, das doch ziemlich deutlich ein Liebeslied ist.
Zusammen mit Orchester kann die Band ihren Sound deutlich erweitern. Alles klingt groß und weit, egal ob eine große Ballade mit Geigen, ein lautes Stück Rock’n’Roll oder ein politisches Lied – Band und Orchester sind nach nur sehr wenigen Proben gut eingespielt und man wünscht ihnen mehr gemeinsame Auftritte. Andreas Dresen singt auf der Bühne zurückhaltend, und ihm ist die Freude über Abende wie diese permanent anzumerken, während Alexander Scheer eher die große Geste liegt, irgendwo zwischen Herbert Grönemeyer und Tom Waits. Zusammen mit Jürgen Ehle bilden sie ein Trio, das sich am Ende, direkt nach Gundermanns wohl größtem Hit „Alle oder keiner“ vor das Orchester hinkniet, als große Geste der Dankbarkeit.
Genau diese Mischung aus sentimentalen Momenten und derben Worten zieht sich durch den Abend, sie hat auch Gundermanns Musik ausgemacht. Die Lieder handeln vom Bergbau, der die Herzen hart macht, von der Revolution, und schließlich singen sie auch ein Lied, das Gundermann für Egon Krenz geschrieben hat, damals im Sommer 1989. Es heißt „Oktober“: „Und über Nacht kam wieder ’n neuer Mann, ran an die Macht, nu war er Steuermann.“ Weiter heißt es, sei der neue Mann dann selbst ein alter Mann geworden – und an allem schuld.
Es ist einer dieser Konzertabende, bei denen man sehr viel lernt. Zum Beispiel, dass damals wie heute Freundeskreise sich politisch zerstritten haben. Und dass Gundermann das Lied „Baker Baker“ der US-Sängerin Tori Amos gecovert hat. Auch das singt Alexander Scheer: „Vater Vater“, ein Lied auch für Gundermanns Vater, der früh den Kontakt zu seinem Sohn abbrach.
Im zweiten Teil des Konzerts überwiegen eindeutig die sentimentalen Töne: Es geht um „Engel über dem Revier“, die Abschied nehmen, darum, dass Dresen und Scheer und Gundermann „Keine Zeit mehr“ haben, um sich in irgendwelche Schlangen anzustellen, um das „Kommen und Gehen“, das auch in Potsdam nicht immer eine Selbstverständlichkeit war – und schließlich, passend ganz am Ende, um das „Gras“, das über allem wächst: „Wild und hoch und grün“.