Liao Yiwu, Porträt

Ling Jiu Jiu. Das ist Chinesisch und bedeutet „Null Neun Neun“. Liao Yiwu reagiert sofort, als ich ihn darauf anspreche. „Das ist meine Gefangenennummer“, sagt er. „Das ist wohl lebenslang, ich weiß dann immer, ich bin gemeint.“ Er steht am Steubenplatz im Berliner Stadtteil Westend und ist eben noch durch leise Berliner Straßen gegangen. Nun rauscht Verkehr vorbei. Er überlegt und sagt dann: „Ling Jiu Jiu, das ist auch meine Erinnerungsnummer.“

Das Wort Erinnerungsnummer gibt es offenbar im Chinesischen. Es macht auch deutlich, wie kompliziert unser Gespräch abläuft. Denn es gibt eine Übersetzerin, die vor Liao Yiwu geschaltet ist. Erst spricht sie, dann er, dann wieder sie. Das ist anstrengend, aber nicht zu vermeiden. Mein Chinesisch ist nach einem Jahr Unterricht vor mehr als zehn Jahren nicht über Höflichkeiten wie „Wo bu xi yan“ (Ich rauche nicht) hinausgekommen und Liaos Deutsch beschränkt sich nach zwei Jahren in Berlin fast auf „Uhlandstraße, alle aussteigen“. Frau Guo, die taiwanische Übersetzerin, kennt Liao sehr gut, ist sein „Tor zur Außenwelt“, wie sie sagt. Wenn er sich mit der Literaturnobelpreisträgerin Hertha Müller trifft, ist sie dabei. Wenn Liao Yiwu wissen will, warum alle über den Flughafen BER lästern, dann erklärt sie es ihm. Sie übersetzt schnell. Sie lacht, wenn er lacht, nur bei ihr klingt es lauter, als ob sie andere damit anstecken will. Doch weil sie so präzise übersetzt, erkenne ich chinesische Vokabeln aus dem ersten Semester wieder.

Spaziergang: Sanbu.

Berlin: Bolin.

Freiheit: Ziyou.

Als wir aufeinandertreffen, hat Liao Yiwu den größten Teil des Spaziergangs (Sanbu) schon hinter sich. Wir stehen in Frau Guos Wohnung, die beeindruckend eingerichtet ist. Alte chinesische Möbelstücke, gemischt mit einer modernen Einkaufsküche. Ihr einen Kopf größerer Sohn schaut durch einen Türrahmen, geht dann in sein Zimmer und hört lauten Hip-Hop. Liao Yiwu sagt, er möchte sich kurz hinsetzen, ausruhen, bevor wir wieder loslaufen. Frau Guo bringt Kaffeetassen, deren Porzellan so dünn ist, dass man fast hindurchsehen kann.

Liao erzählt von seinem Spaziergang, durch das Viertel hier im Westend, wo er wohnt. Er habe einen chinesischen Freund in Prenzlauer Berg besucht, und auf dem Rückweg habe er sich verirrt. „Das ist eine kleine Freude für mich“, sagt er. „Ich habe mich verlaufen, aber ich war nicht in Panik.“ Er habe die Eichenallee gesucht und sei immer wieder an den Straßen vorbeigelaufen: Akazienallee, Ulmen-, Nußbaum- und Ebereschenallee. „Die Sonne hat so schön geschienen“, sagt er, der übrig gebliebene Schnee habe geglänzt, und er war sich sicher, dass er schon irgendwie dieses Haus finden werde. Seine Mutter habe sich früher häufig um ihn gesorgt, sagt er und ergänzt einen seltsamen Satz: „Ich gehe oft verloren.“

Liao Yiwu ist erst 54 Jahre alt, aber sein Lebensweg könnte schon jetzt genug Stoff für drei Biografien bieten. Er hat im Frühjahr 1989 das Gedicht „Massaker“ über die Niederschlagung der Demonstrationen am Tiananmen-Platz geschrieben. Dafür musste er von 1990 bis 1994 ins Gefängnis, bekam die Nummer Ling Jiu Jiu, wurde misshandelt. Er hat sich mehrfach gegen seine Bewacher gewehrt, die Antwort war Folter. Das Buch darüber, „Für ein Lied und hundert Lieder“, erzählt grausam detailreich von dieser Zeit. Es beschreibt Vergewaltigungen, Hunger und Selbstmordversuche.

Hier am Tisch erzählt Liao Yiwu davon, wie er Monate nach dem Gefängnis impotent war, aber er beschwichtigt: Anderen Gefangen sei es noch schlimmer ergangen. Außerdem habe er von seiner Mutter eine große Portion Optimismus mitbekommen – und dazu noch den Humor der Sichuanesen erlebt. Als die Regierung im Frühsommer 1989 auch in seiner Provinz gegen protestierende Studenten mit Tränengas vorging, seien die ersten Salven sehr schwach gewesen. Die Studenten hätten dann gerufen: „Das ist ja nur made in China!“ Er lacht, Frau Guo lacht lauter.

Nach seiner Entlassung hatte ihn seine Frau verlassen, die Tochter hatte sie mitgenommen, Freunde hatten sich abgewandt. Er begann, in Gelegenheitsjobs zu arbeiten, Lastwagenfahrer, Koch, Straßenmusiker. Nebenher hat er Chinesen der Unterschicht interviewt, von der Bartänzerin bis zum Klomann. Mit dem Interview-Buch „Frau Hallo und der Bauernkaiser“ hat er im Ausland Preise gewonnen. Vor einem Jahr bekam er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er ist das, was man landläufig einen „chinesischen Dissidenten“ nennt, einer der nur im Ausland leben kann, weil die Heimat lebensgefährlich ist.

Am Tisch bei Frau Guo spricht er von seiner ersten Ankunft vor zwei Jahren in Berlin, „Bolin“. Am Flughafen Tegel habe er schon dort die Nase in den Wind gehalten: „Die Luft schmeckt so süß“ sagt er noch heute, wenn er sich an diesen Moment erinnert. Liao ist auf Einladung des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) in die Stadt gezogen und werde sie vielleicht nie wieder verlassen, sagt er. „Ich habe einen Albtraum hinter mir gelassen.“ Aber vollkommene Freiheit könne er auch hier nicht empfinden. „Freiheit, Zìyóu, muss von innen kommen“, sagt er. „Sie kann nicht durch äußere Umstände sofort hergestellt werden.“ Er könne sich schon deshalb nicht frei fühlen, weil seine Freunde Li Bifeng und Liu Xiaobo noch immer nicht frei seien. „Schon deshalb will ich weiterkämpfen.“

Sein Freund Li Bifeng wurde zwei Monate nach seiner Ausreise zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wahrscheinlich weil eben dieser Liao hier am Tisch sitzt, weil er geflohen ist und das Zentralkomitee Li Bifeng für einen Komplizen hält. Er war sein Verbündeter, als er die Nummer Ling Jiu Jiu war. Liu Xiaobo ist noch bekannter als Li Bifeng. Der Chinese hat vor drei Jahren den Friedensnobelpreis verliehen bekommen, durfte aber seinen Preis nicht persönlich in Empfang nehmen. Li, Liu und Liao sind seit Langem befreundet. Die drei Männer verbindet, dass sie sich für die Erinnerung an die Ereignisse des 4. Juni 1989 einsetzen, als Panzer auf protestierende Studenten schossen und Hunderte von ihnen töteten. Tiananmen. Ein Wort, das auf der chinesischen Version von Google andere Webseiten vorschlägt, als im Rest der Welt.

Frau Guo bietet kleine, bunte, süße Gummiplätzchen und Kekse an. Liao Yiwu rührt nichts davon an. Er sitzt nur da, schaut ernst, seine Glatze unterstreicht diese äußerliche Härte. Auch sie ist eine Gefängniserinnerung, vorher trug er volles Haar. Dann sprechen wir über die Vorwürfe des deutschen Sinologen Wolfgang Kubin, der vor zwei Wochen behauptet hatte, Liao hätte seine Gefängnisschilderungen übertrieben. „Das ist schlicht falsch“, sagt er, und es sei genau das, was sich die chinesische KP wünsche. Diplomatisch sagt er aber: „Ich habe Verständnis für die menschliche Schwäche, die in Wolfgang Kubins Handeln zum Ausdruck gebracht wird, weil er häufig zwischen China und Deutschland pendeln muss.“ Für ihn aber sei das Leben in China ein „Langzeit-Erlebnis der Angst“ gewesen. Wieder so eine Direktübersetzung: „Langzeit-Erlebnis der Angst“.

Liao Yiwu kommt nun in einen längeren Redefluss. Er erzählt von seiner Geburt im Jahr 1958 in der Provinz Sichuan im Südwesten Chinas. Es sei dem Mondkalender nach ein sehr guter Tag gewesen, nämlich der, an dem die Boddhisatwa in das Nirwana eintreten. Noch in seinem ersten Lebensjahr aber sei er beinahe verhungert. Mao Tse-tung hatte gerade den „Großen Sprung nach vorn“ ausgerufen, einen Plan, die Gesellschaft grundlegend in Richtung Kommunismus zu ändern. Die Folge des „Großen Sprungs“ war eine Hungersnot, der zwischen 15 und 45 Millionen Menschen zum Opfer fielen, beinahe wäre Liao einer davon gewesen. Gleichzeitig dichtete Mao damals – und wollte, dass auch die Bevölkerung anfängt, Gedichte zu schreiben. Liaos Gedichte brachten ihn ins Gefängnis. Auch über diese Ironie des Schicksals muss Liao Yiwu wieder lachen.

Viele Informationen über Chinas Geschichte und Gegenwart sind so widersprüchlich, nur eines haben sie gemeinsam: Es betrifft immer gleich Millionen Menschen, vom Bau eines Staudamms bis zur Inhaftierung von Kritikern. China ist aber auch einer von Deutschlands wichtigsten Handelspartnern. Neben Armut gibt es auch unglaublichen Reichtum, in Peking, Shanghai und auch im „China Club Berlin“, einem privaten Club am südlichen Ende des Hotels „Adlon“. Parallel gibt es Ai Weiwei, einen Künstler, der zusammengeschlagen und eingesperrt wird und der weiter protestiert, während im vergangenen Jahr der Autor Mo Yan den Literaturnobelpreis bekommt und staatliche Zensur mit der Sicherheitskontrolle am Flughafen vergleicht. Liao Yiwus Dankesrede für den Friedenspreis in der Frankfurter Paulskirche geriet auch deswegen zu einer Tirade gegen seine Heimat, in der Kritiker einsperrt und gefoltert werden.

Auch hier am Tisch mit Frau Guo ärgert er sich noch über den Preis für Mo Yan. Die chinesische Regierung hatte sich gefreut, dass ein anerkannter Autor nicht immer gleich ein Dissident sein muss. „Aber Mo Yan behauptet, in chinesischen Gefängnissen sitzen keine Schriftsteller“, sagt er. „Das ist eine Lüge!“ Liao wird laut: „Wo kangyi“ – „Ich protestiere!“, sagt er. Es ist ein Zitat aus seinem Gedicht „Massaker“. Er wiederholt: „Wo kangyi!“ Diesen Satz solle ich mir merken, sagt er. Protest gegen Unrecht sei wichtiger als Höflichkeitsfloskeln aus dem ersten Semester.

Er hätte gern, dass mehr Menschen gegen das Regime protestieren, auch in Deutschland. „Wenn man zum ersten Mal ein Geschäft mit einem diktatorischen Land macht, fühlt man sich schlecht“, sagt er. Beim zweiten Mal reduziere sich das Schuldgefühl. „Und nach dem zehnten Mal ist es schon selbstverständlich.“ Egal, ob man damit Umweltverschmutzung oder ungerechte Arbeitsbedingungen einkalkuliere. Er habe Kanzlerin Angela Merkel einmal eine chinesische DVD des Films „Das Leben der Anderen“ zukommen lassen, der im chinesischen Untergrund ein Kultfilm ist. Er heißt dort „Qie Ting Feng Bao“. Liao habe gehofft, Merkel so an ihren DDR-Hintergrund zu erinnern – „ihr zu erklären, in welchem Zustand ich lebe“.

Dieser Zustand habe Narben hinterlassen, zum Beispiel auf seiner Nase. Er nimmt die Brille ab, zeigt sie. Er war in Sichuan unterwegs, wollte der Geschichte über einen unschuldig Gefangenen nachgehen. Er hatte gehört, dass ein Mann 16 Jahre in einem Straflager mit dem Namen „Stadt der Freude“ verbracht habe, nur weil er in einen falschen Lastwagen eingestiegen war. Doch als Liao ihn besuchte, konnte der nicht mehr reden. Liaos Bücher sind voll solcher unglaublichen Begegnungen. Auf dem Rückweg von diesem Ausflug wurde Liao überfallen, bis heute weiß er nicht, von wem. Mit einem Messer wurde sein Nasenrücken aufgeschlitzt. Er verlor alles Wertvolle, behielt sein Leben.

Dann brechen wir doch auf einen kleinen Spaziergang (Sanbo) zum nahe gelegenen U-Bahnhof Neu-Westend auf. Liao trägt einen Mantel und eine Mütze auf der Glatze. Gerade als ich denke, er humpelt, läuft er doch wieder normal. Es gehe ihm gut, sagt er. Nur „frei“ sei er eben auch hier nicht wirklich. Er denke oft an seine Freunde, vermisse seine Mutter. Seine Sätze werden kürzer, Frau Guo übersetzt fließender. Er erzählt davon, dass ihn Berlin (Bolin) an das Chengdu von früher erinnere („Die Häuser waren früher auch so niedrig“) über junge Berliner, die ihm im U-Bahnhof ein Bier anbieten („Das ist mir nie vorher passiert“). Er sagt, dass er die Sichuan-Küche vermisse, sein Lieblingsrestaurant sei aber ein deutsches: die „Lindenwirtin“ hier in der Nähe.

Als wir an der Ecke Kirschallee/Eichenallee stehen, erzählt er von einem chinesischen Sprichwort, an das er hier oft denken müsse. Es erinnere ihn an ein Zuhause, an eine Zeit vor der Gefangenennummer 099, Ling Jiu Jiu. Es ist eines dieser viersilbigen Sprüche, die es Hundertfach im Chinesischen gibt. Dieses hier könne man auf alles beziehen, sagt er, auf das fließende Wasser, den unaufhörlichen Verkehr hier in Berlin und die Zeit, die immer weitergeht. Er sagt: „Chuan Liu Bu Xi.“ Frau Guo übersetzt: „Ein endlos fließender Strom.“ Das Sprichwort hilft, wenn man sich gerade „verloren“ fühlt.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 7.4.2013