Berlin/Mannheim. Annette Klosa-Kückelhaus ist Leiterin des Programmbereichs Lexikographie und Sprachdokumentation beim Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim. Wir haben mit ihr über die “Corona-Sprache” gesprochen.
Berliner Morgenpost: Frau Klosa-Kückelhaus, die “Corona-Sprache” ist relativ neu als Forschungsfeld hinzugekommen, oder?
Annette Klosa-Kückelhaus: Die Linguisten haben das als Thema entdeckt, weil Linguisten eben dort genau hinschauen, wo sich Sprache verändert.
Wann wuchs das Interesse?
Das begann schon im Frühling, als die ersten Anfragen kamen zu dem Wort „Lockdown“ oder „Shutdown“. Ist das der richtige Begriff? Wird das Wörterbuch erweitert werden? Benutzen wir zu viele englische Begriffe? Dann kam „Social Distancing“ auf.
Jetzt sind wir im Winter, mitten im zweiten Lockdown. Gibt es inzwischen ein besseres Wort für Mund-Nasen-Schutz?
Ich habe von Arzthelferinnen neulich das „Muschu“ gehört, oder „Mu-Naske“. Aber das sind wohl Wörter, die sich nicht durchsetzen werden. Umgangssprachlich gab es noch „Schnutenpulli“ oder „Maultasche“, aber das sind eher Wörter, die jemanden zum Lachen bringen sollen.
Ich habe schon „Schnuffi“ gehört…
Die meisten sagen wohl einfach „Maske“. Viel interessanter finde ich die Wörter, die damit zusammenhängen. Man hätte wohl nie gedacht, dass ein Arzt bei der Operation jemals die Maske hätte verweigern könnte. Damit meine ich: Der „Maskenmuffel“ oder „Maskenverweigerer“ ist ein neues Phänomen, genau wie der „Maskomat“, also der Automat, der Masken verkauft.
Laufen Sie denn manchmal durch die Stadt und fotografieren Schilder oder Gegenstände?
In der Tat habe ich schon etliche Schilder fotografiert, vor Restaurants, in Wartebereichen. Wir Linguisten gehen auch mit der Zeit, Kollegen haben eine App entwickelt, in der man solche Fotos hochladen kann und die dann in eine Untersuchung mit einfließen. Da untersuchen Linguisten Schilder und Beschriftungen im öffentlichen Raum. Da gibt es ganz fantasievolle Formulierungen.
Zum Beispiel?
Ich habe neulich „Zum Außer Haus“ gesehen oder das immer häufigere „2go“. Es ist offensichtlich egal, wie sehr Rechtschreibung oder Grammatik beachtet werden. Die Schilder werden ja verstanden.
So wie das gemalte Virus mit Gesicht, das auch überall ist.
Ja, ich habe gesehen, dass es auch die Corona-Christbaumkugel gibt, ich weiß nicht, wer das an den Baum hängen will… Aber es gibt auch illustrierte Kinderbücher, in denen das Virus Kindern erklärt wird.
Wie nachhaltig ist denn diese Entwicklung, die wir gerade erleben?
Ich glaube, dass der größere Anteil dieser Entwicklung sehr zeitgebunden ist. Es wird viele Wörter geben, die brauchen wir eine Zeit und dann nicht mehr. Aber andere Wörter werden bleiben, weil sich unser Leben in einigen Aspekten ja auch dauerhaft verändert.
Haben Sie mit Mitleid mit der Brauerei Corona?
Die tun mir schon leid. Der Produktname besteht schon so lange. Dass der Name durch ein weltweites Ereignis jetzt plötzlich mit dieser Pandemie verbunden ist, ist nicht deren Schuld. Corona bedeutet Krone, und lange Zeit war das die einzige Bedeutung.
Ist es eine gute Zeit für Linguistik-Studenten?
Es ist eine gute Zeit für jeden, der sich für Sprache interessiert. Das ist ja das Spannende und Anstrengende in meinem Feld: Jeder ist im Prinzip „vom Fach“, solange er die gleiche Sprache benutzt. Aber ja, meine Kollegen an der Uni erzählen, dass Studenten schon an Abschlussarbeiten über die neuen Corona-Wörter arbeiten.
Sie arbeiten im Leibniz-Institut, ich nehme an im Home-Office?
Ja, wir arbeiten zuhause. Alle Sitzungen sind nur noch online. Wir hatten schon ganze Praktika, die nur online abgehalten wurden. Und: Es funktioniert.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Jeden Morgen scanne ich etliche Tageszeitungen nach Corona-Themen. Was schreibt die FAZ über das Impfen? Der Spiegel über die Maßnahmen? Ich mache auch Screenshots von den Texten. Dann scanne ich nach Wörtern und frage: Kenne ich das schon?
Gab es heute morgen so ein Wort?
Heute fand ich das Wort „Impfkarten“. Ich schrieb es auf, aber fand dann heraus: Das gibt’s schon mehrere Jahrzehnte. Also fliegt es wieder raus.
Es gibt also sehr lange Listen bei Ihnen?
Wenn wir eine Kurve malen würden, wäre die am Anfang sehr steil und jetzt haben wir einen Seitwärtstrend. Wir prüfen jetzt vor allem. Zum Beispiel „Deutsches Ischgl“. Bisher habe ich dafür nur fünf Belege gefunden. Das reicht vielleicht nicht für einen Eintrag. Und die „Umkehrquarantäne“, wenn also jemand isoliert wird, wenn er ein schlechtes Immunsystem hat, das gab es schon vorher. „Schülerballung“ hat allerdings gute Chancen.
Gibt es Wörter, die Ihnen besonders gefallen?
Neulich hat eine Kollegin das Wort „Fensterbesuch“ hinzugefügt, das ist, wenn z.B. eine Pfarrerin nur durchs offene Fenster mit ihren Gemeindemitgliedern redet. Das gab es vor Corona nicht. Und der Shoppingtourist hat vor Corona vor allem günstigere Preise gesucht — jetzt will er vor allem einkaufen, weil es in seinem Land die Geschäfte geschlossen sind.
Ist es nur ein Gefühl, oder sind viele neue Wörter englischen Ursprungs?
Das können wir beantworten: Es ist in der Tat eher ein Gefühl. Es liegt zum einen daran, dass wir kein eigenes griffiges Wort für „Lockdown“ entwickelt haben. Wir haben keine Akademie, die dafür zuständig ist, wie in Frankreich oder Spanien. Aber insgesamt sind nur rund zehn Prozent der neuen Wörter in unserer Liste englischen Ursprungs. Aber darunter sind eben einige, die häufig verwendet werden.
Wir Deutschen sind ja berühmt für lange Wörter. Was sind die längsten Wortmonster?
Schon „Mundnasenschutzmaske“ hat vier Bestandteile. Aber auch „Spuckschutztrennscheibe“ oder der „Wellenbrecherlockdown“. Die drücken letztlich viel mit wenig Buchstaben aus. Das längste aber ist wohl die „Telefonische Arbeitsunfähigkeitbescheinigung“ — auch die gab es vorher nicht.
Aber andere Wörter gab es von früheren Pandemien?
Das Bild der Welle ist eines, das bekannt ist. Wir sprechen schon lange von der Grippewelle. Und Wörter wie „Patient Zero“ kennen wir z.B. seit der HIV-Pandemie.
Was ist mit lustigen Wortwendungen, die doch nur für den Moment entwickelt wurden, wie „pandemüde“?
Was einmal einer im Gespräch bildet, ist auch relevant, deshalb lesen wir z.B. in Sozialen Netzwerken Texte und überlegen dann, was wir aufnehmen. „Covidiot“ ist so ein Wort, das es hinein geschafft hat, weil man es leicht erklären kann, genauso „Coronachten“ — Corona zu Weihnachten. Der „Coronazi“ lässt sich nur im Kontext genau erklären und ist deshalb (noch) nicht im Wörterbuch.
Das klingt, als seien sich die Experten auch mal nicht einig. Streiten Sie viel miteinander?
Sagen wir, es gibt viele Dinge, über die man diskutierten kann. Als Wissenschaftler versuchen wir, gründlich zu argumentieren. Manche Dinge erklären sich selbst, wie „Corona-Winter“, andere sind im Grunde komplizierter, wie „Corona-Toter“. Fällt darunter auch jemand, der nicht an der Infektion selbst gestorben ist?
Sie haben wahrscheinlich immer ein spannendes Gespräch für eine Dinner-Party — die es im Augenblick nicht geben darf.
Ja, das ist auch für mich spannend. Denn jeder kennt ja andere Wörter. Und wir können nicht wissen, welche Wörter bleiben werden. Oder ob unsere Zusammenstellung darauf einen Einfluss hat.
Wann müssen Sie entscheiden?
Die Liste des Corona-Wortschatzes mit ganz knappen Infos zu den Wörtern wird regelmäßig geupdatet. (https://www.owid.de/docs/neo/listen/corona.jsp). Bis wir vollständige Wörterbucheinträge schreiben können, müssen wir auf Texte aus der gesamten Corona-Zeit warten. Wir haben momentan nur Texte aus dem ersten Halbjahr 2020, mal sehen, wie lange es noch dauert. Als ich anfing, habe ich nicht gedacht, nicht geahnt, was da auf uns zukommt.
Es geht Ihnen nur um einzelne Wörter oder auch um Wendungen?
Wortgruppen erfassen wir auch, also so etwas wie „die Sparsamen Vier“ für die Länder, die sich gegen eine europaweite Corona-Hilfe gesperrt haben. Oder die „Doppelte Freiwilligkeit“, die im Zusammenhang mit der Corona-Warn-App ins Gespräch kam.
Was ist mit alltäglichen Phrasen, die plötzlich eine neue Bedeutung erhalten haben?
Bei „Bleiben Sie gesund“ als Verabschiedung überlegen wir noch. Schließlich ist das nicht neu – nur die häufige Verwendung ist es.
Wo ist Ihre Grenze?
Momentan ist das der Hashtag. Der Hashtag „#stayathome“ war zwar bekannt, aber wenn es wirklich nur bei Twitter als Hashtag verwendet wird, dann kommt das nicht ins Wörterbuch. Oder lassen Sie es mich so sagen: Wir sammeln das und beobachten es weiter.