Nach sechs Monaten auf Lachgas: „Ich spüre meine Beine nicht mehr“

Ballons

Lucas Wellmann* nennt es Fliegen, dieses Gefühl, das er wieder und wieder erreichen wollte. „Wenn ich mich richtig konzentriert habe“, sagt er, „und stark und lang an dem Luftballon gezogen habe, dann die Luft angehalten und mich in meine Couch eingekuschelt habe – dann hat sich das angefühlt wie fliegen.“ Er sei dann in einer anderen Welt gewesen. „Ganz, ganz weit weg.“

Dann war er nicht mehr der 32-Jährige aus Prenzlauer Berg, der frisch Geschiedene, der gerade „zwischen zwei Jobs“ lebte, der in seiner kleinen Wohnung auf der Couch saß, vor der sich die Lachgasflaschen stapelten, dazwischen schwarze Luftballons – sondern er war eben weg. Manchmal stundenlang, die ganze Nacht, bis zum nächsten Morgen und länger. Ein Luftballon nach dem anderen, nach etwa 35 Ballons ist solch eine Kartusche leer, eine kostet rund 30 Euro. „Es gab Nächte, in denen habe ich zehn Kartuschen weggezogen.“

Lucas Wellmann war ein halbes Jahr süchtig nach Lachgas. An diese Zeit wird er derzeit jeden Tag erinnert: Wenn die U-Bahn einfährt und er noch auf der Treppe ist, kann er nicht nach ihr rennen. Sein Kopf will es zwar, aber der Befehl dazu erreicht seine Beine nicht mehr. Wer es weiß, merkt, dass Wellmann etwas staksig läuft. „Es fühlt sich an, als seien meine Beine von der Hüfte abwärts eingeschlafen, sie fühlen sich taub an.“ Sein Archillessehnenreflex funktioniere nicht mehr, und manchmal habe er auch noch Lücken im Kurzzeitgedächtnis.

Begonnen hat es für Wellmann vor einem Jahr im September. Er lief an einem der letzten Spätsommerabende mit Freunden durch seinen Kiez, und einer kam auf die Idee, Lachgas bei einem Spätkauf zu besorgen. Sie saßen zu fünft dann noch bis spät zusammen und zogen an den Ballons. Sie wiederholten das zwei-, dreimal, erzählt Lucas Wellmann, und als der Herbst begann und er einmal allein zu Hause war, kaufte er zum ersten Mal eine Kartusche nur für sich. Dann brachte er sich allein zum Fliegen.

Der Stoff, der in solchen Momenten seine Lunge fast komplett ausfüllt, heißt Distickstoffmonoxid. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist dieses Gas farblos, riecht süßlich und wirkt sofort schmerzlindernd. Wer es direkt aus der Kartusche konsumiert, riskiert schwere Lungenschäden und Verbrennungen an den Lippen. Wohl deshalb wird es meist mit Luftballons verkauft. In Deutschland fällt Lachgas nicht unter das Betäubungsmittelgesetz, gilt also offiziell nicht als Droge. Damit sind Konsum und Verkauf erlaubt.

Auf vielen Websites wird darauf hingewiesen, dass es nicht körperlich abhängig macht, sondern nur psychisch. Die moderne Suchtmedizin macht diesen Unterschied längst nicht mehr. „Psychische Abhängigkeit passiert im Kopf“, sagt Tomislav Majić, Oberarzt im St.-Hedwig-Krankenhaus, „und der ist auch ein Teil des Körpers.“ Lachgas löse keine phyischen Entzugssymptome aus, wie Zittern und Übelkeit, aber es gebe durchaus Symptome für Abhängigkeit. In seiner psychiatrischen Abteilung habe er nur selten mit Lachgas zu tun gehabt. Doch er höre in der Fachwelt immer häufiger von Patienten, die mit bleibenden Schäden nach dem Konsum von Lachgas zum Arzt kommen.

Die Taubheit, die Lucas Wellmann nach einer Weile in den Füßen spürte, ging zunächst wieder zurück. „Ich hatte immer wieder mehrere Wochen ohne Konsum“, sagt er. „Da hab ich Freunde getroffen, oder meine Brüder haben mich zu sich eingeladen.“ Das war eine Zeit, in der sich immer wieder besorgt Menschen aus seinem Umfeld bei ihm meldeten und fragten, ob alles okay sei. In den Tagen ohne Konsum dachte er, er habe alles im Griff. Dann aber verlor er seinen Job, seine Frau hatte ihn schon vorher verlassen, und er hatte begonnen, sich bei verschiedenen Menschen Geld zu leihen: für Lachgas.

Lachgas ist seit etwa 250 Jahren als Rauschmittel bekannt, seine chemische Zusammensetzung wurde ungefähr zeitgleich mit der von Sauerstoff ermittelt. Es dauerte noch 70 Jahre, also bis ins Jahr 1844, bis sich erstmals ein Patient mit Lachgas betäuben ließ, um sich einen Zahn ziehen zu lassen. Im 19. Jahrhundert dann erlangte das Rauschmittel kurzzeitig Beliebtheit auf Jahrmärkten, und es wurden in England erste „Luftballon-Partys“ gefeiert, doch dann wurde es von anderen Rauschmitteln verdrängt. In den 1970ern war es kurzzeitig noch einmal beliebt und in Berlin dann wieder in den 2010er-Jahren.

Laut Psychiater Tomislav Majić konsumieren vor allem junge Menschen Lachgas, zum Teil als Mutprobe. „Sie wissen nichts bis wenig über die Probleme, die mit dem Konsum einhergehen können.“ Es beginnt mit Koordinationsstörungen, unter anderem verursacht durch Vitamin-B12-Mangel, der nach häufigem Lachgaskonsum auftritt. Dieser Mangel kann schwere chronische Folgen für das Rückenmark haben, bis zur Querschnittslähmung. „Außerdem können Schäden im Gehirn durch Sauerstoffmangel auftreten.“

Bei Lucas Wellmann wurden die Symptome immer heftiger. Schließlich ging er in einer der ersten Nächte im damals noch neuen Jahr 2024 in die Notaufnahme. „Ich hatte Atemnot und dachte, ich sterbe“, sagt er. „Alles in meinem Körper hat vibriert.“ Er saß acht Stunden im Warteraum – nicht ungewöhnlich für einen Fall, der nicht mehr akut ist. „Sie haben es dann heruntergespielt und gesagt, ich solle kein Lachgas mehr konsumieren.“ Als er einige Wochen später zum zweiten Mal nachts in der Notaufnahme saß, gaben sie ihm eine Überweisung zum Neurologen. Zu einem Suchttherapeuten schickten sie ihn nicht.

Lachgas-Rausch mit Folgen: Regelmäßiger Konsum kann zu einer Nervenschädigung und zu einem Vitamin-B12-Mangel führen.Annette Birschel/dpa

Psychiater Majić sagt, dass bei Lachgas das passiere, was bei anderen Drogen in der Geschichte passiert sei: Es wird zunächst verharmlost. Auch bei Heroin, Kokain und bestimmte synthetische Opioide hätten Ärzte die Gefahren erst mit einiger Verzögerung gesehen. „Außerdem wird Lachgas von Ärzten zur Betäubung benutzt und darüber hinaus zum Schlagen von Schlagsahne verwendet.“

Lucas Wellmann ging nur selten selbst zum Späti, meist bestellte er die Kartuschen bei einem Lieferdienst, weil er dazu auch gleich noch Essen bestellen konnte. Die Lieferdienste bringen neben Alkohol und Zigaretten auch das Lachgas. Auf dem Etikett steht zwar Sprühsahne, es gibt Geschmacksrichtungen wie Kokos, Erdbeere oder Ananas. Doch wenn jemand zehn große Kartuschen bestellt, ist auch dem Lieferdienstleister klar, dass sich damit jemand schädigen könnte.

Eine Sprecherin des Lieferdienstes weist auf Anfrage der Berliner Zeitung darauf hin, dass anders als gesetzlich vorgeschrieben auf der Plattform ein Mindestalter von 18 Jahren für diese Produkte gelte und dies bei Auslieferung überprüft werde. Einige wenige Händler bieten Lachgas auf der Plattform an, aber die Nachfrage sei gering. Die Regulierung liege nicht beim Lieferanten, sagt die Sprecherin, sondern bei den Behörden. Auch Späti-Besitzer verweisen gern auf die Behörden, wenn sie auf die Lachgas-Käufer angesprochen werden.

Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit sagt gegenüber der Berliner Zeitung, die Behörde verfolge „sehr aufmerksam die Berichterstattung der Medien“, in denen häufiger Einzelfälle geschildert werden, „bei denen Jugendliche im gesamten Bundesgebiet nach dem Konsum von Lachgas gesundheitlichen Schaden genommen haben“. Viele junge Menschen wissen demnach noch zu wenig über die möglichen gesundheitlichen Risiken, hätten keinerlei Problembewusstsein.

Auch Lucas Wellmann wusste wenig über Lachgas, erst als es zu spät war, fand er die Websites, auf denen von den drastischen Folgen die Rede war. Er hatte bis dahin nur Alkohol und Partydrogen konsumiert, doch nie so viel, dass es problematisch wurde. Drei- oder viermal im Jahr, sagt er, habe er auf Partys durchgefeiert. „Das war bis dahin nicht mein Ding.“ Er meint, Lachgas habe bei ihm so gut funktioniert, weil der Effekt sofort da war. „Ein tiefer Atemzug, und ich war weg.“

Der Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit merkt auch an, dass es noch Lücken gebe im Wissen der Behörden. „Bezogen auf die Risiken von Distickstoffmonoxid liegen bisher noch zu wenige Daten vor.“ Bekannt sei jedoch, dass häufiger Konsum das Knochenmark und das Nervensystem schwer schädigen könne. „Der Mischkonsum mit anderen Drogen birgt weitere Risiken.“

Wellmann hatte innerhalb weniger Monate 25 Kilogramm zugenommen, hatte über Wochen die Wohnung kaum verlassen. Im März dieses Jahres begannen seine Eltern und Geschwister ihn immer wieder dazu zu drängen, seine Wohnung auch mal wieder zu verlassen. „Meine Geschwister haben mir sehr viel geholfen“, sagt Lucas, „auch ein guter Freund von mir.“ Sie hätten sich nicht abwimmeln lassen und seien mit ihm für längere Zeit weggefahren. Seit April hat er keinen Ballon mehr angerührt, hat die Reste weggeworfen, die er zu Hause hatte.

Der Berliner Senat will prüfen, ob eine gesetzliche Regulierung durch Warnhinweise, Werbe- und Abgabeverbote vorgenommen werden kann. Dies muss aber auf Bundesebene passieren. Der Bundesrat hat Mitte Juni dieses Jahres den Beschluss gefasst, gegen Substanzen wie Lachgas vorzugehen. Vor allem das Land Nordrhein-Westfalen war mit einer parteiübergreifenden Initiative vorgeprescht.

Die meisten konsumieren das Gas aus einem Luftballon.imago

Wann die Regierung sich des Themas annimmt, ist unklar. In Großbritannien und den Niederlanden ist Lachgas seit 2023 verboten. In der Schweiz und Dänemark gelten strenge Vorgaben.

Derzeit bekommt Lucas Wellmann eine akute Vitamin-B12-Therapie, zum Teil per Infusion. Doch es ist nicht sicher, wie viel seiner Empfindungen zurückkehren und welche Schäden chronisch bleiben werden. In einer Psychotherapie bearbeitet er derzeit die Frage, warum er sich „abschießen“ muss, wovor er eigentlich wegfliegen wollte. Die 25 Kilo Übergewicht ist er während des Sommers losgeworden. „Ich hab gemerkt, dass Schwimmen wieder geht. Das war ein gutes Gefühl.“ Was die Droge noch angerichtet hat, erfährt er bei einem MRT-Scan, den er demnächst machen will. Wellmann: „Ich habe etwas Angst davor.“

*Name von der Redaktion geändert