Ratlos in Pjöngjang

Die Schlange sieht aus, als könne sie jederzeit aus dem Flaschenhals kriechen. Ihr Kopf schwebt unter dem Deckel, der dünne Bindfaden, der den Kopf am Hals der Flasche festbindet, ist kaum zu erkennen. Ihr Körper liegt in einer gelblichen Flüssigkeit, wie Formaldehyd. Wer daran riecht, dreht sich meist sofort angewidert weg. Es ist der Schnaps, den Nordkoreaner trinken. Nun steht er in meiner Berliner Küche.

Riech doch mal, so riecht es in Nordkorea.

Dieser Geruch bringt auch den Osten zurück, den ich kannte, bis ich zehn Jahre alt war. Er riecht wie das Gegenteil von „Westpaket“, nach einer Mischung aus Muff, Fäule, etwas undefinierbar Säuerlichem, so wie ein altmodischer Duftstein auf einer Kneipentoilette. So roch es tatsächlich in Pjöngjang, in Hotelräumen, in Restaurants oder im Museum an der Grenze zu Südkorea, wo Kim Il-sung vor genau 60 Jahren den Waffenstillstand mit dem Nachbarland unterschrieb.

Die Flasche stammt aus einem Laden in „Panmunjom“, jenem Grenzposten, an dem sich alle Probleme des Nordkorea-Tourismus bündeln: das Gespenstische, das Traurige, das Komische, das Weltpolitische und das Theatralische. Die Schlangenflasche erinnert daran, dass dieses Land etwas konserviert, was tot geglaubt ist, ein System, das überall sonst in der Welt nicht mehr existiert.

Ein Deutscher in Nordkorea, das ist auch immer ein Westbesucher. Vor allem Ostdeutsche können hier noch einmal nachempfinden, wie das ist, in ein Land zu kommen, das wie im Tiefschlaf ist. Keine Coffeeshops, nur wenige Geschäfte, keine Werbung mit schönen Menschen an den Hauswänden, Internet nur für eine Minderheit. Es ist auch ein Land, in dem, so sagen zumindest Nordkoreaner, die Menschen noch zusammenhalten, in dem sie improvisieren müssen, weil ihnen nicht alles zur Verfügung steht. Wenn am 9. November die Deutschen ihrer Wiedervereinigung gedenken, werden Südkoreaner sagen: „Ihr habt es hinter euch.“ Sie meinen dann die hohen Kosten. In Nordkorea ist die Hoffnung klar, auf das, was passiert, wenn „wie bei euch“ die Mauer fällt: Dann werde alles gut. Der koreanische Bürgerkrieg endete vor 60 Jahren, er forderte 4,5 Millionen Tote.

Nordkorea ist das vielleicht seltsamste Land dieser Erde, ein Land, das auch ausgelacht und gefürchtet wird für seine skurrilen Seiten. Es heißt „Demokratische Volksrepublik Korea“, hat einen Präsidenten, der – obwohl seit 19 Jahren tot – offiziell noch immer im Amt ist, und es gibt einen Staatschef, Kim Jong-un, der womöglich seine Ex-Freundin ermorden ließ, ein 3-D-Kino eröffnet, den USA mit Krieg droht und den US-Basketballer Dennis Rodman umarmt. Das alles passierte im Abstand von wenigen Wochen, in diesem Jahr. Nordkorea braut das beste Bier Asiens, hat die gefürchtetsten Straflager, das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen und das größte Militär der Welt. Südkorea soll 50-mal fortschrittlicher sein, die Einwohner sind dort zehn Zentimeter größer, weil im Norden noch immer Nahrungsmittel knapp sind, obwohl gleichzeitig der Staatsführer für fast eine halbe Million Euro jährlich Wein in Frankreich bestellen soll. Nichts passt zusammen hier.

Solche Geschichten erzählen sich Journalisten am Freitag im Seouler Correspondents’ Club, beim wöchentlichen 18-Uhr-Treff in der südkoreanischen Hauptstadt. Die meisten Journalisten zieht es nach Seoul, weil nur 50 Kilometer entfernt der Norden liegt und weil die Welt doch auf eine Einigung hofft, auf einen zweiten dieser Momente: Menschen, die auf der Straße tanzen und die Freiheit feiern. Die Vergleiche zum früheren Ost-West-Konflikt in Deutschland liegen nahe, Vergleiche auch zu meiner Kindheit. Ich hatte kleine Mauerteile mitgenommen nach Korea, eines der wenigen Touristen-Geschenke, die in diesem Teil der Welt wirkliche Emotionen auslösen. Der zersplitterte Trennungsgrund. In Korea fragt niemand, ob die Mauerstücke echt sind.

Einige haben ich Flüchtlingen in Südkorea geschenkt. Eine von ihnen war die Nordkoreanerin Chanyang. Sie ist 22 Jahre alt, vor zwei Jahren in Seoul angekommen und lebt im Stadtteil Gangnam, der inzwischen weltbekannt ist. „Gangnam Style“, ein Popsong des koreanischen Sängers Psy, der sich darin über die arroganten und schönheitsoperierten Menschen dieser Gegend lustig macht. Chanyang sieht aus wie ein Schulmädchen, sie lächelte viel, verhält sich ein bisschen wie eine Comicfigur: so gut gelaunt und mit wendigen Bewegungen. Das mag an ihrer Fernseh-Erfahrung liegen – sie ist so etwas wie ein Star der Serie: „Auf dem Weg, dich zu treffen“.

In diesem neuen südkoreanischen Fernsehformat über Nordkoreaner hat Chanyang ihre Flucht erzählt. Sie wurde von Chinesen aufgegriffen und wäre beinahe zurückgeschickt worden. Dann wäre sie jetzt vermutlich in einem Arbeitslager, wie rund 200.000 andere Nordkoreaner. Ihr Großvater, der mit Staatsgründer Kim Il-sung gekämpft hatte und später in Pjöngjang auf die Universität ging, musste für zehn Jahre in ein Straflager. Sein Vergehen: Er hatte über den „Großen Führer“ in der falschen Höflichkeitsform gesprochen. Im Koreanischen sind Höflichkeitsformen wichtig. Als der Großvater im Lager war, musste die Familie Pjöngjang verlassen, nur die regimetreuen Familien dürfen in der Hauptstadt leben – weil sie dort auch Ausländer treffen können. „Wenn wir Ausländer sehen“, sagt Chanyang, „sollen wir immer ein Pokerface machen.“ Man solle nur vor sich hinschauen. Das vermeide Probleme.

Vier Wochen später stehen vor mir am Check-in nach Pjöngjang in Peking zwei Nordkoreanerinnen auf dem Weg in ihre Heimat. Zwischen Nord- und Südkorea gibt es keinen Grenzübergang für Touristen; nur über Drittländer lässt sich eine Reise organisieren, meist über China. Die Nordkoreanerinnen sind schlank, tragen Röcke bis zu den Knien und haben viel Gepäck dabei. Sie sehen aufwendig frisiert aus, geschminkt, sie reden nicht miteinander. Wenn sie sich in meine Richtung umdrehen, schauen sie an mir vorbei, zumindest dann, wenn ich aufschaue. Bevor wir das Flugzeug besteigen, besucht meine Reisegruppe den Duty-free-Shop. Es hieß, wir sollen Zigaretten und Süßigkeiten mitbringen. Ich nehme „Gauloises“ und „Toblerone“, „Liberté toujours“ und Schweizer Gold-Verpackung. Der Westbesuch beginnt.

Die anderen Mitglieder der Reisegruppe sind Mitte 20, die meisten von ihnen US-Amerikaner auf Austausch-Semester in Südkorea. Sie können etwas Koreanisch, wissen von Straflagern, kennen die Geschichte von Bürgerkrieg und Waffenstillstand. Und sie eint noch etwas: Sie wollen eine gute Zeit haben. Das ist etwas, was Nordkorea inzwischen ganz offen anbietet: Alkohol, Sauna, Massage, Strand, Bowling spielen, Achterbahn fahren und als Reiseleiter Nordkoreaner mit Humor, mit denen man abends lachen kann. Das verspricht der Reiseplan, und organisiert wird all das vor Ort von Nordkoreanern, über die nur wenig hier im Text steht. Denn: Sie haben uns von ihren Kindern erzählt.

Die DDR war ein Land, aus dem diejenigen leichter in den Westen reisen durften, die eine Familie hatten. Die Vermutung war: Sie wollen zu ihren Kindern zurückkehren. Mein Vater fuhr nach Hameln, und er kam zurück.

Reiseunternehmen, die Reisen nach Nordkorea organisieren, machen Werbung, etwa mit der Arirang-Aufführung, jenem Spektakel, bei dem 100.000 Nordkoreaner auftreten. Doch die Werbung ist nicht nötig. Auch im Presseclub in Seoul sagt man, „Nordkorea ist kein Ort, es ist eine Erfahrung“, oder: „Diese Reise wird alle deine Sinne beanspruchen und dich nie mehr loslassen.“ Die Einreise ist inzwischen einfacher, weil die Umsätze im Tourismus wegen der Atomkrise im Frühjahr um 80 Prozent eingebrochen sind. Vor einem halben Jahr hatte Nordkorea dem Süden und sogar den USA mit einem Atomschlag gedroht. In Seoul packten die ersten Bewohner schon ihre Notfallrucksäcke, um in die U-Bahn zu ziehen. Seoul und Pjöngjang haben mit die tiefsten U-Bahn-Schächte der Welt.

Zum ersten Mal, seit es die organisierten Reisen gibt, wird es jetzt sogar möglich sein, Weihnachten und Silvester in Nordkorea zu verbringen. Es wird ein Ski-Resort geben. Das Land braucht die Devisen, die Touristen brauchen den Satz: „Ich war in Nordkorea!“ – „Wirklich? Wie war’s?“ – „Total irre!“ Es gibt Nordkorea-Experten im Süden, die jeden Touristen feiern, da so Kontakt zustande komme. Kontakt, sagen sie, könne etwas verändern.

Schon im Flugzeug nach Pjöngjang beginnt, was alle von Nordkorea erwarten: das Absurde. Die Erfrischungstücher mit aufgedrucktem „Koryo“-Logo werden von vielen ungeöffnet eingesteckt. Alles hat plötzlich Souvenir-Charakter. So schnell kommt keiner wieder her. Zu essen gibt es ausgerechnet Hamburger, von denen es heißt, Kim Jong-il habe sich dieses Gericht ausgedacht. Die Stewardess bringt Plastikbecher für die Getränke, sie wird sie später wieder einsammeln. Sie sehen aus, als würden sie geputzt und wiederverwendet. Sie lächelt freundlich, aber über die Köpfe hinweg. Beim Sicherheitsvideo auf den Flachbildschirmen läuft im Hintergrund eine bekannte Melodie – „Dreams“ von den Cranberries. Wir bekommen die „Pyongyang Times“, eine englische Wochenzeitung im Tabloidformat.

Auf Seite 1 steht, dass Kim Jong-un eine Fabrik besucht hat. Im Artikel dann genauer, wie er Dinge angeschaut und für gut befunden hat. „Um die Produktion auf einem hohen Level zu normalisieren“, so habe Kim Jong-un gesagt, „sollte die Fabrik das bereits vorhandene Material noch verbessern.“ Der Stil kommt mir bekannt vor. Die meisten Artikel in der DDR-Presse begannen mit „Der Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzender der DDR, Erich Honecker, …“ Dann stand dort auch, dass es gut voranginge, dass er eine Fabrik besucht hätte. Sicher haben Besucher aus dem Westen damals über solche Meldungen gelacht.

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Die Cranberries singen im Hintergrund davon, dass in „Träumen nichts so ist, wie es scheint“; auf den hinteren Seiten steht, dass die USA 1950 den Koreakrieg begonnen haben (falsch), dass der Süden im politischen Chaos versinke (sehr falsch) und dann gibt es noch ein Foto, das auch in der südkoreanischen Presse gedruckt wurde. Es zeigt neun Jugendliche, die über Laos nach Südkorea fliehen wollten, dort aber von Sicherheitskräften in die nordkoreanische Botschaft geschafft wurden. In Südkorea gab es einen Aufschrei der Politiker. In der „Pyongyang Times“ steht, dass die Jugendlichen von „gierigen Fleisch-Schmugglern“ in den Süden gebracht werden sollten und von ihren „christlichen Entführern zwangsmissioniert“ wurden. Sie seien froh, wieder zurück zu sein, heißt es. „Zu Hause.“

Direkt nach der Ankunft fotografiert jeder aus der Reisegruppe alles vom grauen Flughafengebäude bis zur Maschine. Das ist also die Republik, die nicht weiß, wie die Welt über sie spricht und schreibt. Der Spiegel druckte „Kim Jong Bum“ auf seinem Titel, im US-Film „Olympus has fallen“ sprengen Nordkoreaner das Weiße Haus in die Luft, und in diesem Jahr ging der Pulitzerpreis an Adam Johnson für sein Buch „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“, einen Nordkorea-Roman, der nach einer Reise nach Pjöngjang entstand. Jun Do ist ein trauriger Held, der grausame Dinge erlebt, auch in Lagern. Das Buch hat kein echtes Happy End.

Auf der Fahrt zum Hotel: Plattenbauten und Standbilder von Kim Il-sung und Kim Jong-il. Die ostdeutschen Architekten, die beim Bau von Pjöngjang mithalfen, haben ihre Handschrift hinterlassen: Hochhäuser mit zehn bis 20 Stockwerken, grau, heruntergekommen, mit großen Wasserflecken. Wenn sie angestrichen wurden, dann haben die Wasserflecke verschiedene Farben. Meine Grundschullehrerin in der DDR hatte einmal gesagt: „In westdeutschen Zeitungen drucken sie immer nur Bilder von einer alten Frau vor einem Plattenbau, so denken sie, sehe es bei uns aus.“

Solange die Tour-Guides das Fotografieren nicht verbieten, so die Regel, ist es erlaubt. Doch wir sehen nicht nur alte Frauen: Neben unserem Bus schreibt ein Nordkoreaner Fahrrad fahrend eine SMS, Frauen laufen in weißen Blusen und Blumensträußen die Straße entlang und in einem stark reparaturbedürftigen Bus steht ein Mann, der eine Art nordkoreanischen Tablet-Computer in der Hand hält. Es gibt Artikel im Internet über Tablets, aber dass sie so verbreitet sind, wusste niemand. Einige Quellen sagen, sie werden in Pjöngjang hergestellt, andere, in China.

Im „Chongnyon“-Hotel dann zum ersten Mal dieser Geruch, fast beißend, in der ganzen Lobby. Obwohl viele Lichter brennen, wirkt es dunkel in der großen Halle. Von vier Fahrstühlen funktioniert einer. Ich hatte davon gehört, dass meist nur die Etage bewohnt ist, in der die Reisegruppe wohnt. Wir beziehen den 21. Stock. Im Zimmer beginnt die Suche nach den Abhöranlagen. Wir finden nichts. Der Spiegel ist wirklich nur ein Spiegel, die Kommode zu verankert, um sie zu verrücken. Vielleicht ist diese Suche nach Mikrofonen schon das eigentlich Beunruhigende. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass ich das Land auch wieder verlassen möchte. Der US-Bürger Kenneth Bae wird gegenwärtig als „Spion“ festgehalten. Er hatte Fotos von verhungernden Kindern auf seinem Laptop. Auf meinem Tablet ist ein Buch von Barbara Demick gespeichert – über das Leben von Nordkoreanern. Als mich im Bus ein Reiseleiter bittet, doch mal mit dem Tablet spielen zu dürfen, lehne ich ab.

Beim Abendessen sitzen wir unter Nordkoreanern im Restaurant. Es beginnt wieder eine Suche nach Mikrofonen – in den Blumen? Die Mitreisenden müssen lachen, alle hatten die gleichen Gedanken. Wir tauschen Geschichten und Gerüchte über Nordkorea aus: Es gibt 28 festgelegte Frisuren, Kim Jong-il soll 1500 Bücher geschrieben haben, ein durchschnittlicher Nordkoreaner erhält 700 Gramm Reis pro Tag, der Staat kommt für alles auf. Kleider? Zweimal im Jahr vom Staat.

Chanyang hatte in Seoul von Schwarzmärkten erzählt, auf denen Nordkoreaner inzwischen auch einkaufen, mit Geld, das Flüchtlinge aus dem Süden geschickt haben. Auch sie schickt jetzt Geld. Als uns ein Reiseführer nahelegt, nicht so laut über Nordkorea zu sprechen, wegen der anderen Gäste im Restaurant, einigen wir uns auf Codewörter. Die US-Amerikaner schlagen vor: Kim Il-sung ist „Bush Senior“, sein Sohn Kim Jong-il heißt jetzt „Bush Junior“ und der aktuelle Staatsführer, Kim Jong-un, heißt von nun an „Dick Cheney“. Nordkorea, das ist leicht, nennen wir „Texas“.

Während die anderen nach dem Essen noch einmal an die Bar gehen, will ich das Hotel erkunden. Am Fahrstuhl öffnet sich die Tür, ein Nordkoreaner steht darin, in einer grauen Uniform. Er raucht eine Zigarette und sieht an mir vorbei. Rauchend fahren wir in den 21. Stock, ich steige aus und rufe den Fahrstuhl noch einmal. Jetzt ist er leer, ich drücke die 31. Im obersten Stockwerk gehe ich durch einen dunklen Gang zu den Zimmern, der Fahrstuhl schließt sich sofort wieder, hier ist kein Mensch. Wind pfeift durch den Gang, ich gehe ans Fenster, die Stadt ist dunkel, auch von hier aus ist nur das angestrahlte Propagandabild der beiden „Bushs“ zu sehen.

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Nichts passt für mich zusammen in diesem Land. Und von hier oben aus dem Hotelflur betrachtet bleibt es rätselhaft: Die Straßenlampen an der „Straße der Jugend“ und der „Straße der Befreiung“ liegen im Dunkeln, ab und an flackert das Licht einer Taschenlampe über den Fußgängerweg. In den Häusern brennen alle Lichter. Nur wenige Kilometer vor der Stadt, so steht es in Büchern aus dem Süden, gibt es mehrere Straflager. Plötzlich knallt eine Tür auf dem Gang. War noch jemand hier im leeren Stockwerk? Ich rufe: „Hallo?“, gehe ein paar Meter zu den Zimmern, in den dunklen Gang hinein. Der Luftzug wird stärker. Noch einmal knallt eine Tür ins Schloss. Ich gehe zum Fahrstuhl zurück, nichts wie weg hier.

An der Bar reden wir über Liebe in Nordkorea und lernen, dass die kommunistische Partei bestimmt, wer wen heiratet. Die Nordkoreanerin Chanyang hatte allerdings gesagt, dass schon vor zwei Jahren, als sie floh, vieles nicht mehr nach Parteiwillen ablief. Es sind nicht mehr die Kaderfamilien der Parteimitglieder, die heute in Nordkorea die besten Heiratsaussichten haben, sondern die mit Kontakt zu Nordkoreanern im Süden. Denn die bekommen Geld aus dem Ausland. Wer Flüchtlinge kennt, kennt westliche Filme und Serien. Chanyang kannte viele, die Radioprogramme aus Südkorea hören, sie telefoniert noch heute mit Freunden im Norden. Es gibt Anzeichen für Veränderung. Sie werden aufmerksam verfolgt. Freya Klier, eine ostdeutsche Bürgerrechtlerin, war in diesem Jahr in Südkorea und hielt dort einen Vortrag vor Nordkoreanern. „Halten Sie durch“, sagte sie, „Sie schaffen das auch.“

Nach einer kurzen Nacht und einer langen Busfahrt später stehen wir am Strand von Nordkorea, in Wonsan. Durch den Sand ist ein Zaun gezogen, aber der habe keine Funktion, heißt es. Wir könnten auf beiden Seiten baden. Auf unserer Seite baden vielleicht fünf Nordkoreaner im Wasser, auf der anderen Seite mindestens 300. Der Drahtzaun führt im Wasser zu einem Beton-Steg. Wir haben alle den gleichen Gedanken und schwimmen zu diesem Steg. Die Tour-Guides schauen so, als kennen sie das Spiel mit den Touristen, die immer an den Zaun wollen. Sie wissen, dass es ihre Aufgabe ist, genau diesen Zaun zwischen Nordkoreanern und uns immer wieder aufrechtzuerhalten und ihn trotzdem in unseren Köpfen verschwinden zu lassen.

Es gibt eine Stelle, von wo aus man den Steg besteigen kann. Plötzlich stehe ich inmitten von Nordkoreanern. Das südkoreanische „Annyeong“ für „Hallo“ funktioniert hier auch. Kinder winken zurück, Jugendliche grinsen zurückhaltend. Die Mädchen tragen Hello-Kitty-T-Shirts, die Jungs haben Aufdrucke von Donald Duck. Ich setze mich zu einer Gruppe auf dem Steg. Darum geht es doch bei solchen Westbesuchen, um Kontakt. Sie sprechen wenig Englisch: Woher kommst du? – „Aus Pjöngjang“ – Was macht ihr hier? – „Urlaub, eine Woche.“ – Wie heißt du? – „Schildkröte“. – Ist das dein Spitzname? – „Ja, so heiße ich. Woher kommst du?“ – Berlin, Deutschland. – „Ich verstehe nicht, was ist das?“

Europa ist hier weit weg, doch es gibt Nordkoreaner mit geografischem Wissen über die Welt. Chanyang, die Nordkoreanerin in Seoul, wusste sehr wohl, wo Berlin ist. „Das ist Europa, hier ist Italien“, hatte ihr Großvater ihr einst gesagt, „das sieht wie ein Stiefel aus, die Menschen spielen sehr gut Fußball dort.“ Als er starb, beschloss Chanyangs Vater zu fliehen, die Tochter folgte zwei Jahre später. Jetzt wohnt die ganze Familie in Seoul, Chanyang arbeitet für eine Filmproduktionsfirma, hilft einer südkoreanischen Schauspielerin, den nordkoreanischen Dialekt zu verstehen. „Wir sagen nicht Kenchana, wenn wir ‚Alles in Ordnung‘ meinen“, sagt Chanyang. „In Nordkorea sagt man ‚Il Opda‘.“ Noch jetzt in Seoul sagt sie „Il Opda“ nur, wenn sie unter Nordkoreanern ist. Ihre Aussprache ist härter, wenn Nordkoreaner in der U-Bahn reden, denken Südkoreaner häufig, die beiden streiten, sagt Chanyang. „Für mich klingen Südkoreaner dagegen viel zu weich.“

Der Tour-Guide ruft zum nächsten Programmpunkt am Strand: „Fußballspielen mit Nordkoreanern, sofort!“ Irgendjemand hat dafür gesorgt, dass pünktlich vier Nordkoreaner in lila Badehosen dastehen und Fußball spielen wollen. Die jungen Männer können Tore schießen, dribbeln, sie lachen, wenn sie in den Sand fallen, sie rufen einander zu, wenn sie frei stehen, sie schwitzen und nach dem Abpfiff gehen sie. Sie schütteln unsere Hände, aber es bleibt eine distanzierte Begegnung, ohne Austausch. Wir wechseln Teams, „Texas“ gegen den Rest der Welt, das finden wir lustig. Wir jubeln gemeinsam, am Ende steht es 3:3. Einmal habe ich „Il Opda“ gesagt, sie haben es verstanden.

Die kommenden Tage sind voller Programmpunkte: ein Museum, das einen Stuhl ausstellt, auf dem Kim Il-sung gesessen hat, eine Schule, in der uns Mädchen zum Tanzen auffordern, eine Bibliothek, die auch ein Katzenbuch aus Deutschland hat – und das Mausoleum, in dem jetzt auch ein Saal für den verstorbenen Staatsführer Kim Jong-il aufgebaut ist. Ich lasse mich in einer Luftschleuse von Staub befreien und stehe dann in Viererreihe vor seinem Sarg, der Raum ist in dunkles Rot getaucht, in der Schlange steht eine Nordkoreanerin und schluchzt laut auf. Ich gehe noch einen Schritt vor und verbeuge mich. Dabei schaue ich nach vorn und sehe direkt in seine Nase. Die Hände liegen friedlich auf dem Bauch, er lächelt nicht, wieder so ein ausdrucksloses Gesicht. Wir werden an Urkunden und Geschenken vorbeigeführt, an einem Auto, in dem Kim Il-sung gefahren ist, ein schwarzer Mercedes. In einem anderen Raum ein weiterer schwarzer Mercedes, das Auto von Kim Jong-il. In einem Zug steht ein Computer, ausgerechnet ein blauer iMac. „Als Kim Jong-il starb“, sagt eine der Führerinnen, „gab es noch keinen Ort, an dem wir trauern konnten.“ Jetzt aber kommen viele Bürger hierher, um das zu tun. Und sie sehen dabei auch einen Apple-Computer und Luxus-Autos.

An all diesen Orten geht es darum, Respekt zu zeigen. Gleichzeitig wird immer dafür gesorgt, dass andere sehen, wie wir Respekt zeigen. Es heißt, die Tour-Guides wären irritiert, wenn wir uns nicht verbeugen, also tun wir es. Manchmal sehe ich andere West-Besucher in der Schlange. Sie haben diesen Blick, der sagt: „Was passiert hier gerade mit uns?“ Die Blicke sagen aber auch: „Toll, dass wir das machen, irre.“ Wir besuchen den Geburtsort von Kim Il-sung, der laut südkoreanischen Quellen gar nicht der Geburtsort von Kim Il-sung ist, sondern nur ein großer Park mit einem Haus. Aber die Angestellte dort erzählt viele Geschichten aus dessen Kindheit, wie er anderen geholfen habe, wie schon die Großmutter an ihn geglaubt habe. Sie sagt, es arbeiten 400 Menschen auf dem Gelände. Auf dem Rasen hocken Nordkoreaner und schneiden das Gras – mit einer Papierschere.

Man könnte lachen darüber, über die Schere, über Plakate, die den DDR-Mosaiken so sehr ähneln, über den Musikraum in der Bibliothek, in dem Madonna „American Pie“ singt, über Restaurants, vor denen dann ein Auto des „World Food Programme“ steht. Es passt für einen Besucher einfach nichts zusammen. Es gibt südkoreanische Psychologen, die Nordkoreanern eine Art Schizophrenie unterstellen, die sich durch Generationen hindurchziehe. Sie leben das eine und sagen das andere. In etwa vergleichbar mit Ehemännern, die ihre Frau lieben und gleichzeitig eine Affäre haben. Das Goethe-Institut in Südkorea hatte das zu spüren bekommen: Für dieses Frühjahr war ein deutsches Filmfestival in Pjöngjang geplant. Als Kim Jong-un die Welt mit Drohungen überzog und ausländischen Botschaftern die Ausreise nahelegte, sagte das Institut die Delegationsreise ab. Die Antwort war große Enttäuschung: „Wir hatten doch alles vorbereitet, der Saal ist gebucht! Wie können Sie so kurzfristig absagen?“

Die Gleichzeitigkeit von Lüge und Vision wird im Blumenmuseum in Pjöngjang sehr deutlich. Dort sind nur zwei Blumen ausgestellt. Die „Kim Il Sungia“ und die „Kim Jong Ilia“, die eine ist lila und klein, die andere groß, rund und rot. Auch hier im Museum riecht es nach Schimmel und Raumspray und kaputter Toilette. Die Spülung ist tatsächlich kaputt, und im Ausstellungsraum steht zwischen den Blumen nur Gerümpel. Die Mühe, ein ordentliches Präsentationsmodell des Landes herzustellen, ist nicht einmal mehr zu erkennen. Es wirkt fast, als wäre dazu keine Kraft mehr. Die tadellos gekleidete Museums-Führerin erklärt hingegen stolz alles über die Herkunft dieser künstlich gezüchteten Pflanzen. Jemand fragt: „Welche Blume gefällt Ihnen besser?“ Die Dame lächelt eisern, schaut ins Leere und sagt, sie singt fast: „Uns gefallen beide Blumen genau gleich gut.“

Gleichzeitig gibt es eine große Modernisierungskampagne. Vor zwei Jahren wurde in Nordkorea der 100. Geburtstag von Kim Il-sung gefeiert, auch „Juche 100“ genannt, nach der Philosophie des Staatsführers. „Juche“ bedeutet Selbstvertrauen. In jenem Jahr Juche 100 wurde ein neues Stadtviertel in Pjöngjang aufgebaut. Es sieht tatsächlich aus wie ein Stadtviertel in Südkorea: groß, modern, nachts strahlend angeleuchtet. In dessen Zentrum gibt es ein Spa, eine Bowlingbahn, eine italienische Pizzeria mit einer Sängerin, die auch „Killing me softly“ singt – sowie ein Luxus-Modegeschäft mit teuren Uhren und Nivea-Pflegeprodukten. Eine Tube Aftershave kostet rund zehn nordkoreanische Monatsgehälter. Der Nordkorea-Analyst Andrej Lenkov sagt, dass so die „Nouveaux Riches“ im Land gehalten werden sollen, also jene Schicht, die ins Ausland gereist ist und gesehen hat, was es dort gibt. Diplomaten, Sportler, Künstler. Sie sollen wieder ins Land zurückkommen wollen – und bleiben.

Für sie gibt es auch die Geschäfte mit DVDs von nordkoreanischen Filmen. Ganze Regale mit Zeichentrickfilmen und Spielfilmen aus dem Land, alle englisch untertitelt. Der Laden riecht auch muffig, aber man hat sich längst daran gewöhnt. Es gibt Süßigkeiten aus Taiwan, zu umgerechnet sechs Euro vollkommen überteuert, Verfallsdatum: 12.9.2010. Auch die Plastikflaschen mit Wasser sind überlagert. Seit 2008. Ich frage den Verkäufer, welchen Film er empfehlen würde. Er sagt den typischen nordkoreanischen Satz: „Alle unsere Filme sind sehr gut.“ Als niemand hinschaut, zeigt er auf zwei Filme und lächelt mich stumm an. Ist eine falsche Filmempfehlung schon ein politischer Verrat?

Einer dieser Filme ist „A Traffic Controller on the Crossroads“, entstanden in „Juche 101“. Darin geht es um eine pflichtbewusste Verkehrspolizistin auf den Straßen von Pjöngjang. Diese Polizistinnen sind so etwas wie eine Ikone, sie geben Verkehrsunterricht und werben auch auf dem Plakat mit dem Spruch: „Ich lebe im besten Land der Welt“. Als sich im Film ein Autofahrer in die Polizistin verliebt, leitet sie seine Liebe auf eine alte Freundin um. Sie bleibt allein und tut weiter ihre Pflicht auf den Straßen von Pjöngjang. Sie sind im Film beliebter als in Wirklichkeit.

Am dritten Tag kaufe ich für 120 Euro das nordkoreanische iPad-Imitat, ich muss oben links einen kleinen Knopf drücken, damit es sich einschaltet. Es öffnet sich ein Bildschirm, auf dem eine Rakete abgebildet ist. Ausgerechnet die Rakete mit dem Atomsprengkopf, die vor einem halben Jahr Nordkorea an den Rand der Katastrophe gebracht hat. „Angry Birds“ und „Zombies vs. Plants“ sieht genauso aus wie auf einem westlichen Tablet, das Basketball-Spiel könnte es so auch in der westlichen Welt geben. Nur das Internet will nicht funktionieren. Es erkennt kein WLAN, es gibt keinen sonstigen Internetzugang, aber es gibt einen vorinstallierten Internet-Browser, der keine Website öffnet. Eine kleine Antenne am Tablet soll Fernsehempfang bieten. Aber der Bildschirm zeigt nur: Schnee. Auf den langen Busfahrten wird in den kommenden Tagen der Hit: das Ego-Shooter-Panzerspiel.

Wie fortschrittlich Nordkorea gern sein will, sehen wir am vierten Tag, im Spa Pjöngjangs. Es wird der einzige Ort unserer Reise bleiben, an dem keine Bilder von den Kims an den Wänden hängen, es riecht nach Westpaket und Chlor. Die Angestellten des Spa kassieren 23 Euro Eintritt pro Person, zeigen die Handtücher, die Ruheräume und die Massageräume. In Südkorea gehört Sauna zur Lebenskultur wie sonst in der Welt wohl nur in Finnland. In Nordkorea gibt es das zumindest in Pjöngjang. Doch das Spa ist leer, bis auf wenige Masseurinnen. Sie sagen, bei ihrer Ausbildung in China haben sie gelernt, auf dem Rücken der Patienten zu laufen. Danach solle es uns besser gehen.

Es ist einer der Orte, die nichts mit Nordkorea zu tun haben, die überall sein könnten. Doch auch die nordkoreanischen Saunagäste kennen das bekannteste koreanische Kulturgut der letzten Jahre nicht, den Song „Gangnam Style“. Dabei könnten sie hier den Text verstehen. Als wir das Lied vorspielen, schütteln Nordkoreaner den Kopf, sie möchten das Lied nicht hören. Die hellen Gänge des Spas sind letztlich genauso abgeschottet wie die zugigen Stockwerke des „Chongnyon“-Hotels.

Am vorletzten Tag stehen wir an der Grenze zu Südkorea, der kleinen Sonderzone „Panmunjom“, nicht nur für Koreaner ein besonderer Ort. Hier stehen sich zwei Länder gegenüber, aber auch zwei Supermächte und zwei Systeme: USA und China, Demokratie und Diktatur. Keine Mauer, nur ein zehn Zentimeter hoher Betonstreifen bildet die Grenze. Manche Analysten sagen, dass genau hier der dritte Weltkrieg ausbrechen könnte, jederzeit. Es müsste nur jemand schießen oder die Grenze übertreten.

Unsere Gruppe winkt. Jeder von uns war schon auf der Südseite von Panmunjom. Dort ist sogar der Blitz des Fotoapparats verboten, es gelten sehr strenge Regeln bis hin zur Kleidung und dem Verhalten. Ein US-Soldat auf der anderen Seite winkt nicht zurück. Er geht zu einem Fernrohr und schaut hindurch. Vielleicht machen sie Bilder von uns, den Winkenden im Nordteil auf Panmunjom. Wir dürfen hier viel: Die Offiziere lassen sich den Hut vom Kopf nehmen, sie posieren Arm in Arm mit Touristen. Einer der Offiziere zeigt auf eine Hügelkette: Dort hinten die Gebäude gehören zu Kaesong, dem gemeinsamen Nord-Süd-Industriekomplex, der im Frühjahr geschlossen, aber gerade wieder geöffnet wurde, ein Symbol für eine Annäherung.

Die Nordkoreanerin Chanyang hatte gesagt, Korea sei wie ein Haus, in dem die Eltern zerstritten seien. Aber sie bleiben Vater und Mutter und eines Tages müssen sie sich vertragen. Sie hat dabei das Berliner Mauerstück in der Hand gehalten. Als ich ihr in Gangnam eine Skala aufmalte und sie sich entscheiden sollte, ob sie eher Süd- oder eher Nordkoreanerin sei, malte sie einen Kreis um die Skala: „Ich bin beides“, sagte sie. „Ich kann das nicht trennen.“

Auf dem Rückweg fahren wir an Sariwon vorbei, einer der schöneren Städte im Süden Nordkoreas. In der Innenstadt hat es eine Überschwemmung gegeben. Die Tour-Guides sagen, jeder müsse helfen, die Spuren der Überschwemmung wegzuräumen. Sechs Tage in der Woche müssen Nordkoreaner arbeiten gehen, am siebten Tag zum Freiwilligendienst. Wer das nicht kann, brauche einen guten Grund. Aus dem Bus sehe ich Frauen in Sariwon, die Kleider tragen und Steine schleppen, freiwillig, pflichtbewusst. Aus dem Bus winke ich drei Frauen auf einer Parkbank zu, die eine Pause machen, sie winken lachend zurück.

Wir stehen auf einem Aussichtspunkt. Von hier aus betrachtet, sieht Sariwon aus wie eine schöne koreanische Stadt im Süden mit kleinen Gassen. Vor der Stadt ist die Elitepanzerdivision „Guardians of Seoul“ stationiert, die Division hat 1950 Seoul in drei Tagen erobert. Die 22-Millionen-Stadt ist etwas mehr als 100 Kilometer entfernt. Oben auf einem Hügel steht ein kleines Häuschen. Mehrere Jugendliche rauchen dort, Zigaretten Marke „Pyongyang“. Ich biete ihnen eine „Gauloise“ an. Sage: Il opda. Alles in Ordnung. Ein kurzes Gespräch, woher? Aus Berlin. Wo ist das? Europa. Der Tour-Guide drängt zur Eile.

Die meisten Treffen bleiben so kurz. Immerhin wird gelacht, man schaut sich an. Geht es nicht darum, um den ganz einfachen Kontakt? Kann man denn noch mehr wollen?

Am letzten Tag in Nordkorea dürfen wir etwas herumlaufen, in der Nähe eines Restaurants. Bei einem kurzen Spaziergang sehe ich zwei Kinder in einer Pfütze, vielleicht fünf und sieben Jahre alt. Ich hocke mich zu ihnen und begrüße sie, habe Süßigkeiten dabei, Schokolade in Goldpapier. Alles in Ordnung? Sie schauen mich an und laufen wortlos weg. Meist werden solche kurzen Zusammentreffen verhindert, wie jenes, als junge Männer in den Buchladen kommen, in dem wir gerade Postkarten und Wörterbücher anschauen. Die beiden blicken auf den Buchhändler hinter der Theke. Der zeigt auf uns und schüttelt den Kopf. Die Nordkoreaner gehen wieder.

Eines der letzten Treffen findet in der U-Bahn in Pjöngjang statt. Die Station ist groß und mit prächtigen Mosaiken gestaltet, lächelnde Arbeiter, DDR-Kindheits-Heimatgefühl. Die U-Bahn fährt ein, Wagen, die 1992 aus Berlin importiert wurden. Aus einem Lautsprecher kommt sehr laut eine Stimme, es sind die Mittagsnachrichten, die immer um 12 Uhr verkündet werden. Dort also stehe ich unter den Kim-Porträts, neben einem Platz, der in Berlin für Rentner reserviert ist, hier für „Helden der Revolution“. Ein Mann liest ein Buch. Auf der aufgeschlagenen Seite ist auf Deutsch zu erkennen: „Junge (8) an Autobahnraststätte zurückgelassen“. Darunter ein langer Text. Ansprechen? Jemand, der das Wort „Autobahnraststätte“ auf Deutsch versteht, versteht auch mich.

„Sprechen Sie Deutsch?“

„Ja.“

„Warum lernen Sie Deutsch?“

„Es tut mir leid, ich kann nicht mit Ihnen reden.“

Die U-Bahn hält, wir steigen aus. Hundert Meter weiter oben stehen wir vor dem „Triumphbogen“. Das Bauwerk ähnelt jenem Bogen in Paris, ist aber größer. Der Deutschlernende steht da, raucht, wartet. „Möchten Sie Zigaretten?“ – „Nein danke.“ Er wendet sich zum Gehen, aber so, als wolle er das nicht. Ich frage: „Kommen Sie einmal nach Berlin?“ Er dreht sich um, bleibt stehen und er sagt deutlich: „Das. Ist. Leider. Nicht. Möglich.“ Dann geht er zu einer Unterführung und: „Auf. Wieder. Sehen.“ Er sieht mich direkt an.

Wenige Minuten später laufen wir zu einem 60 Meter hohen Freifallturm auf einem Vergnügungspark, der letzte Punkt im Spaßprogramm für den Nordkoreareisenden. Westbesucher müssen nicht anstehen, wir nehmen unsere Sitze ein, zwischen Nordkoreanern. Wir fahren nach oben und warten auf den Fall. Es ist windig, Dämmerung über Pjöngjang, nebenan das Kreischen von der Achterbahn, dem Karussell, der Schiffschaukel. Auf den Straßen nur wenige Autos, die Fenster der Plattenbauten leuchten, wie im Dresdner Stadtteil Gorbitz, im Berliner Marzahn oder im Rostocker Lichtenhagen, vor der Wende. In der Ferne ragt der Umriss einer gewaltigen Pyramide auf, die eines Tages als Hotel eröffnen soll. Oder nie?

Rund um den Triumphbogen stehen viele Nordkoreaner zusammen, es sieht wie ein Aufmarsch aus, oder eine Demonstration. In den Zeitungen stand nichts davon. Waren nicht Versammlungen von mehr als fünf Personen verboten? Ich atme noch einmal durch, weil es hier oben diesen Geruch nicht gibt, der „Texas“ so unerträglich macht. Ein Mauerstück drückt in meiner Tasche und neben mir winkt eine Nordkoreanerin ihren Freunden am Boden. „Klack“, wir fallen.

Erschienen in “Welt am Sonntag”, 27.10.2013