Kurz vor Jianhe ging bei Christian Y. Schmidt der Umwerfer kaputt. Umwerfer, so heißt die Schaltvorrichtung an einem Fahrrad mit Kettenschaltung. Jianhe ist eine eher kleine Stadt in der Provinz Guizhou, die Einwohnerzahl liegt unter 200.000, das H wird wie CH bei Dach ausgesprochen. Es wurde also in Jianhe ein neuer Umwerfer für rund 100 Euro im Internet bestellt, und Schmidt stellte sich auf mehrere Tage dort ein. So eine erzwungene Pause hätte ja vielleicht auch ihr Gutes. Doch China zeigte hier einmal mehr, was logistisch möglich ist: Der Umwerfer der Firma Shimano war binnen eineinhalb Tagen da und die Radtour konnte weitergehen.
Zusammen mit seinem Freund, dem Reisebuchautor Volker Häring, hatte sich Christian Y. Schmidt im Herbst auf eine ambitionierte Fahrradtour begeben: Sie wollten die Strecke des Langen Marsches mit dem Fahrrad entlangfahren, jene historische 11.000-Kilometer-Route – die Angaben variieren je nach Historiker –, die Chinas Parteigründer Mao Zedong einst mit Gefolgschaft lief. Genau ein Jahr dauerte der Marsch der rund 90.000 Männer durch die Provinzen, nur etwa 7000 von ihnen erreichten das Ziel in Yan’an im Oktober 1935. Einer von ihnen war damals der Deutsche Otto Braun, der so auch Teil des Gründungsmythos der Roten Partei Chinas wurde. Im Jahr 1973 starb Braun bei einem Urlaub in Bulgarien eines natürlichen Todes, er war inzwischen Bürger der DDR.
Braun ist einer der Gründe, warum sich Häring und Schmidt auf diese Tour begeben haben. Der im Jahr 1900 in Bayern geborene deutsche Kommunist und Militärberater gehörte zu den ursprünglichen Initiatoren des Marsches, als die Rote Armee im Sommer 1934 in dem von ihr kontrollierten Gebiet im Süden Chinas durch die Nationalisten unter Chiang Kai-shek in schwere Bedrängnis geriet. Der Mann, den in China nahezu jedes Kind als Li De kennt (Li, der Deutsche), schlug vor, einen Ausbruch aus der Umklammerung zu wagen. Das bedeutete auch, einige Tausend Kranke, Frauen und Kinder zurückzulassen. Die Parteiführung stimmte zu und der Marsch begann, über Berge, durch Flüsse, im Zickzack, aufs tibetische Hochplateau und durch Sümpfe, bis man nach einem Jahr sicheres Terrain erreichte. So rettete sich auch die gesamte Führung der Kommunistischen Partei, und der Marsch wurde Teil chinesischer Nationalgeschichte.
Christian Y. Schmidt ist Mitte der Nullerjahre nach Peking gezogen, heiratete eine Chinesin, schrieb für Taz und Titanic – und veröffentlichte mehrere Bücher über China, wie „Bliefe von dlüben“ und „Allein unter 1,3 Milliarden“. Das Land liegt ihm am Herzen, er kennt auch die Probleme, weiß von Hungersnöten und anderen Herausforderungen unter Maos Regime, vom harten Alltag der Wanderarbeiter, von Menschenrechtsverletzungen gerade in den äußeren Provinzen, bei Tibetern und Uiguren. Während der Arbeit zu seinem Buch „Der letzte Hülsenbeck“ habe er zu viel am Schreibtisch gesessen, sagt er, deshalb kam er auf den Gedanken, sich mehr zu bewegen und Häring, der die Idee zur Tour hatte, zu begleiten.
Für die Geschichte von Otto Braun hat sich Schmidt schon lange interessiert. „Seine Biografie ist so etwas wie ‚Babylon Berlin‘ auf Speed, allerdings im globalen Maßstab“, sagt Schmidt der Berliner Zeitung. „In den 20er-Jahren war er in Berlin als Kommunist zunächst im Untergrund, dann im Gefängnis.“ Braun wurde aber mit Waffengewalt von seiner damaligen Geliebten Olga Benarrio aus seiner Zelle in Moabit befreit, floh nach Moskau, ging dort auf die Militärakademie. Als bekannter Womanizer war er gleich mit zwei Chinesinnen verheiratet. „Von der ersten Frau hat er sich scheiden lassen, obwohl sie für ihn lernte, wie man deutsche Wurst macht und Brot bäckt.“ Die zweite Frau war eine Sängerin.
Schmidt hat alles gelesen, was er über Braun in die Hände bekommen konnte. „Das ist allerdings angesichts der Bedeutung, die sein Engagement in China hatte, nicht viel.“ In der DDR war Braun eine Zeit lang erster Sekretär des Schriftstellerverbands, er liegt heute auf dem Friedhof der Sozialisten in Friedrichsfelde. Während seiner Zeit in China war er auch ein Gegenspieler Maos, obwohl sie zusammen den Langen Marsch bewältigt haben. Schmidt hat sich etliche chinesische Filme über Braun angeschaut, in denen der Deutsche oft als jähzornig und ungeduldig dargestellt wird, als jemand, der wütend Nüsse knackt und sich dabei selbst verletzt.
Christian Y. Schmidt und Volker Häring wollten eigentlich schon im April 2020 auf die gemeinsame Tour gehen und auf den Spuren von Otto Braun unterwegs sein. Doch die weltweite Corona-Pandemie ließ die Pläne der beiden Reisenden weiter in den Hintergrund rücken. Im Nachhinein hat sich das allerdings als Glück erwiesen, weil die beiden nicht während der Sommerhitze durch China reisen mussten.
Der nächstmögliche Termin für beide Abenteurer war dann der 17. Oktober 2023. „Das Schicksal hat uns also gedrängt“, sagt Schmidt, „dass wir ausgerechnet auf den Tag genau 89 Jahre nach Mao Zedong und Otto Braun in der gleichen Stadt mit dem Marsch beginnen: in Yudu.“ Gestartet sind sie einen Tag zuvor in dem ehemaligen Hauptquartier der Kommunisten, der Kleinstadt Ruijin. Dorthin kamen sie mit dem Zug aus Hongkong. Dann stiegen sie auf ihre E-Bikes.
Schmidt und Häring hatten sich extra für diese Reise Pedelec-Fahrräder zugelegt. Anders als ein reines E-Bike fährt ein Pedelec nur dann, wenn die Pedale bewegt werden, allerdings setzt dann eine Motorunterstützung ein, die es bis zu einer Geschwindigkeit von 25 Kilometern pro Stunde bringt.
„Anstrengend war es trotzdem noch genug“, sagt der 67-Jährige. „Gerade weil man hohe Berge bezwingen muss und es immer wieder Momente gab, in denen beide Akkus leer waren.“ Dann nämlich ist ein E-Bike wirklich schwer zu bewegen, zumal sie auch Gepäck dabeihatten. „Ich habe so eine Tour auch noch nie vorher gemacht“, sagt Schmidt. „Volker hat als alter Weltreiseleiter auf jeden Fall mehr Erfahrung auf dem Gebiet und ist deutlich besser im Training.“
Bis zum Dezember haben die beiden 2600 Kilometer zurückgelegt, was ungefähr der Entfernung zwischen Berlin und Lissabon entspricht. Dabei haben sie rund 35.000 Höhenmeter überwunden. Zwar kamen dann auch immer wieder lange Abfahrten, aber die haben sich fast als gefährlicher herausgestellt. Sie machen jetzt eine Pause bis Anfang März und starten dann mit der zweiten Etappe.
„Der gefährlichste Moment war eine Serpentine, wo Volker plötzlich in der Kurve ein BMW entgegengeschossen kam“, sagt Schmidt. „Das war so knapp, dass Volker beinahe unter die Räder gekommen wäre.“ Ansonsten haben sie die Tour bisher fast unbeschadet überstanden – nur ab und zu mussten Teile ausgetauscht und Reifen geflickt werden, nicht nur in Jianhe. „Auch mein iPhone ging irgendwo in der Provinz Sichuan einmal kaputt“, erzählt Schmidt, „aber innerhalb von zwei Stunden hatte ich ein neues Display, hineingebaut von einem jungen Chinesen, der wie Harry Potter aussah und einen kleinen Apple-Laden betrieb.“
Finanziert haben sie die Reise bisher unter anderem durch Spenden. Für 20 Euro kann man sich eine Postkarte aus China vom Marsch der beiden nach Hause schicken lassen – ein Konzept, was bisher aufging. Auch versuchen sie, in günstigen Hotels zwischen 100 und 200 Yuan (umgerechnet 13 und 26 Euro) pro Nacht zu übernachten. In den meisten Orten hat das bisher geklappt. Außerdem wollen sie einen Reisebericht schreiben, der unter dem Titel „So weit die Füße radeln“ bei Ullstein erscheinen soll.
Es entwickele sich gerade eine Art „Roter Tourismus“, sagt Schmidt und meint damit jene Touristen, die er immer wieder auf seiner Reise getroffen hat. Das sind Chinesen oder andere Reisende, die sich auf den Langen Marsch machen, ähnlich wie Europäer den Jakobsweg gehen. Manche haben sogar rote Fahnen dabei, die sie auf der Strecke schwenken. Die touristische Infrastruktur entlang der Strecke ist noch nicht vollends professionalisiert, aber die beiden Deutschen waren mit ihrer Idee bei weitem nicht allein. Als Orientierung lasen sie auch einen Reisebericht von zwei Engländern, die den Marsch vor rund 20 Jahren zu Fuß gemacht hatten.
So war es denn auch keine Überraschung, als sie in Tongdao Probleme hatten, eine Übernachtung zu finden. Die Stadt mit etwas mehr als 200.000 Einwohnern ist im Buch der Engländer schon erwähnt als komplizierter Ort. „Als wir dort ankamen, war es bereits spät“, erzählt Schmidt, „und die Fahrrad-Akkus waren leer.“ Doch das erste Hotel wies sie ohne Begründung ab, das zweite ebenfalls. „Als Europäer wird man in China dann auch schnell auf der Straße von der Polizei erkannt“, sagt Schmidt. Sie wurden dann das erste und einzige Mal auf ihrer Reise aus einem Bezirk offiziell ausgewiesen.
Erst in einer weiter entfernten Stadt, wohin sie dank eines Busses, der auch Fahrräder transportiert, gelangten, durften sie dann übernachten. Offiziell ist die Stadt nicht gesperrt. Im Internet kann man allerdings auf inoffiziellen Seiten nachlesen, dass dort ein Teil der chinesischen Atomwaffen lagert. Da Tongdao aber auf der Route des Langen Marsches liegt, wird die chinesische Tourismusbehörde dieses Problem auf lange Sicht noch lösen müssen, zumindest wenn mehr Menschen dem Beispiel von Häring und Schmidt nacheifern wollen.
Abgesehen von solchen Erlebnissen ist aber bei Christian Y. Schmidt viel Begeisterung über die Entwicklung Chinas der letzten Jahre herauszuhören – und zu lesen im Internet-Blog, den sie auf der in China verbotenen Plattform Facebook führen. Die Qualität der Straßen habe sich eklatant verbessert, die Entwicklung selbst kleiner Städte nennt Schmidt erstaunlich, deren Anbindung an das Schienen- und Bussystem gehe rasant vonstatten.
„Als ich 2007 auf meiner letzten Reise in Chengdu war, gab es in der Stadt noch keinen einzigen Kilometer U-Bahn“, berichtet er. Erst im September 2010 sei die erste Linie eröffnet worden. „Heute hat Chengdu mit 13 Linien und insgesamt 558 Kilometern das viertlängste U-Bahn-System auf der Welt.“ Die Entwicklung der Metro in Chengdu ist für ihn nur ein Beispiel für die rapide und zugleich systematische Entwicklung Chinas allein in den letzten 15 Jahren. „Sie sprengt jedes Vorstellungsvermögen eines Europäers“, sagt Schmidt. „Man muss sehen, was hier passiert, um es zu begreifen.“