Fünf Jahre nach dem Attentat auf dem Breitscheidplatz

Breitscheidplatz

Berlin – Da gibt es diese Frau, die lieber anonym bleiben möchte. Sie stand nur wenige Meter entfernt von der Stelle, wo der Lastwagen in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt fuhr. 19. Dezember 2016, Breitscheidplatz. Neben dieser Frau starben Menschen, sie selbst war unter Schock, aber sie weiß noch, dass sie sich zu Schwerverletzten beugte, ihnen Wasser gab, sie beruhigte, bis die Notfallmediziner vor Ort waren. Sie streichelte Köpfe, redete.

Fünf Jahre später ist ihr Status als „Ersthelferin“ nicht anerkannt. Vielleicht wird das kommendes Jahr passieren, das kann Rainer Rothe so genau nicht sagen. Er ist Psychologe für Traumapatienten und betreut viele Opfer vom Anschlag auf dem Breitscheidplatz. 13 Menschenleben hat das Attentat gefordert, das letzte Opfer ist erst vor wenigen Wochen an den Folgen gestorben. Doch darüber hinaus gibt es viele Opfer mit psychischen Schäden. Rothe hat für sie in dieser Woche einen offenen Brief an den Bundespräsidenten geschrieben, darin flossen die Erfahrungen aus Gesprächen mit 18 Betroffenen des Terrorattentats ein.

Rothes Bilanz ist katastrophal. „Es gibt Patienten, da hat es vier Jahre gedauert, bis die Reha bewilligt wurde“, sagt er der Berliner Zeitung am Wochenende. „Andere Patienten haben mehr als ein Jahr gewartet, bis sich überhaupt jemand um sie gekümmert hat.“ Ihn habe die langsame Reaktion der Behörden zum Teil sprachlos gemacht. „Erst vor drei Wochen kam die Angehörige eines Opfers zu mir in die Praxis und weinte noch einmal, weil sie das immer noch so mitnehme.“ Viele Opfer haben sich inzwischen rechtlichen Beistand genommen und klagen für ihre Entschädigung.

In seinem Brief schreibt Rothe an Frank-Walter Steinmeier, dass viele Opfer des Attentats sich eher verhört fühlen als befragt. „Mütter, Väter, Kinder, Partner, Großeltern, die einen geliebten Menschen verloren haben, müssen sich sagen lassen“, schreibt er, „dass sie nicht betroffen sind, weil sie nicht vor Ort waren.“ Eines seiner betreuten Opfer habe sich von einem Sachbearbeiter anhören müssen: „Menschen sterben nun einmal an Krankheiten oder Unfällen.“ Er müsse als Therapeut mit ansehen, wie Menschen „systematisch ohne Empathie zermürbt werden“.

Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) sagt, dass sie grundsätzlich die Frustration verstehen kann. Selbstverständlich werden die Mitarbeiter im sensiblen Umgang mit den Opfern geschult. „Aber wir müssen den Bedarf bei jedem Fall einzeln prüfen“, sagt sie. Jeder Fall unterscheide sich stark von dem nächsten, hinzu kommen runde Tische und Absprachen mit anderen Ämtern. „Die Arbeit an diesen Fällen ist zum Teil sehr aufwendig und wird sich bei einigen auch noch Jahre hinziehen, weil einige Rentenzalungen lebenslang gezahlt werden.“

Kostner weist aber darauf hin, dass auch viel erreicht worden sei in den vergangenen fünf Jahren. Das Lageso habe nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) von fast 200 Anträgen 150 positiv bescheiden können. Nur 14 Anträge wurden abgelehnt. Die Schwere der Verletzungen und der jeweils gesundheitlichen Schäden ist bei Betroffenen sehr unterschiedlich. So gebe es Menschen, die nur kurzfristig beeinträchtigt sind, bei anderen seien die Verletzungen so schwer, dass ihnen neben einer Grundrente auch eine Zulage für Schwerstbeschädigte zustehe. Das sei vom jeweiligen Grad der Schädigung (GdS) abhängig.

Zudem, darauf weist das Amt hin, können sich die Mitarbeiter „sehr gut in die Situation der Opfer hineinversetzen“. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung seien Menschen, die den „Terroranschlag in unserer Stadt als beängstigendes Ereignis miterleben mussten“. Es war in diesem Fall auch für die Opfer nicht einfach zu verstehen, wer bei welcher Behörde Ansprüche stellen kann, sondern auch für die Zuständigen in den Ämtern. Alle Behörden mussten sich untereinander absprechen, um die Leistungen zu koordinieren. „Wenn uns die Opfer um Rat gefragt haben, waren wir bemüht so gut wie möglich zu helfen.“

GdS und OEG – für Mitarbeiter in diesen Ämtern sind das ganz normale Begriffe, auch wenn zum Teil harte Schicksale dahinterstecken. Beim Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz kommt noch hinzu, dass kurz danach nicht klar war, ob überhaupt das OEG greifen würde. Schließlich sei ein Auto keine klassische Waffe, mit der Terroristen töten. Vor fünf Jahren war diese Art des Anschlags noch neu, erst ein halbes Jahr vorher war es an der Promenade von Nizza zu einem ähnlichen Attentat gekommen, mit 86 Toten.

Silvia Kostner sagt, dass die Kollegen der Abteilungen sofort alles dafür taten, dass das OEG hier greift. „Wir haben damals sofort eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich bis heute über die Fälle mit anderen Abteilungen wie der Verkehrsopferhilfe, Traumaambulanzen, Versicherungen und anderen Bundesämtern auseinandersetzt.“ Diese Vernetzungen seien wichtig, damit die sehr individuellen Fälle auch die entsprechende Hilfe bekommen. „Das hat im Einzelfall gedauert“, sagt sie, „aber gemessen an der Menge an Fällen kann das den Mitarbeitenden nicht zum Vorwurf gemacht werden.“ Extrembeispiele, wie Rothe sie nennt, gebe es zudem auf allen Seiten und nennt Beispiele von überzogenen Forderungen. „Noch mal: Jeder Antrag wird einzeln geprüft.“

Rainer Rothe weist am Telefon aber noch auf etwas anderes hin. Er sagt, dass Studien bewiesen haben, dass die Folgekosten von nicht behandelten psychischen Erkrankungen für die Gesellschaft sehr hoch sind. In den USA wurden Kriegsveteranen begleitet, deren Traumata nicht behandelt worden waren. Ein Großteil dieser Männer erprobte die typischen Bewältigungsstrategien an sich selbst: Drogen, Alkohol, Glücksspiel. Diese Mittel schaffen kurzfristig Entlastung, aber auf lange Sicht wirken sie destruktiv für die Menschen. Rothe sieht diese Folgen auch auf die Angehörigen der Opfer des Breitscheidplatzes zukommen.

„Ich finde, man sollte pro Opfer den Faktor zehn anwenden“, sagt er. „Jeder der Toten hat Familie, Freunde, deren Leben durch das Attentat eine neue Richtung genommen hat.“ Der Psychologe geht davon aus, dass da noch viele unerkannte Traumapatienten auf uns zukommen. Einige von ihnen meiden den Platz rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Andere wiederum gehen dort regelmäßig hin, vor allem, seitdem dort ein Denkmal steht.

Seit dem 19. Dezember 2017 ist es eröffnet. Es zeigt einen goldenen Riss, der durch die Treppe vor der Kirche führt und bis zur Straße ausläuft. Es wird auch an diesem Sonntag wieder ein Treffpunkt für Angehörige sein und für Menschen, die nur durch Zufall in der Nähe waren und ebenfalls mit den Bildern der Tat in ihrem Kopf leben müssen. Neben den Namen der Opfer und ihren Herkunftsländern steht dort noch ein Satz: „Für ein friedliches Miteinander aller Menschen.“

Vieles hat sich in der Vergangenheit geändert: Das Land Berlin und der Bund haben für den Fall eines Terroranschlags eine Verwaltungsvereinbarung über ein gemeinsames Beratungstelefon geschlossen. Die Bundesregierung hat einen Opferbeauftragten und seine Geschäftsstelle eingerichtet.

Rainer Rothe wünscht sich neben einer sensiblen Aufarbeitung der Opferansprüche noch mehr. „Ich wünschte, dass auch in den Schulen die Gewaltprävention einen größeren Anteil bekommt“, sagt er. Auch einen Kongress über Traumafolgen regt er in Berlin an. „Denn nur so lassen sich in Zukunft solche Ereignisse vermeiden.“ Außerdem wünscht er sich einen weiteren Ort der Trauer. „Berlin braucht ein Denkmal gegen Terror“, sagt Rothe. Die Treppe gefalle ihm, aber sie sei zu spezifisch. Ihm habe die Beschäftigung mit den Betroffenen gezeigt, dass Menschen auf viele Arten beeinflusst werden durch diese Taten. Egal, ob sie auf Bali, in Brüssel, Paris, Nizza oder in Berlin passieren.