Ein Mann betritt eine Apotheke in Schöneberg und wartet, bis die Kundin vor ihm den Laden verlassen hat. Dann beugt er sich über den Tresen und sagt leise, fast verschwörerisch: „Ich bin seit 13 Tagen krank und möchte eine blonde Medizin.“ Der Apotheker nickt, macht sich eine Notiz, fragt nach der Adresse. Ungefähr zwei Stunden später klingelt ein 13 Jahre altes Mädchen an der Tür des Mannes.
Diese Art des Menschenhandels war durchaus üblich in Berlin vor rund 100 Jahren. Jeff Mannes erzählt davon in einer besonderen Führung durch Berlin, die er seit sechs Jahren in Berlin anbietet.
In vier Stunden erzählt der 34-Jährige nicht nur von der Freiheit, die in der gerade neu entstandenen Weltstadt gefeiert wird, sondern auch von den Schattenseiten, der Armut, der Gewalt, die sich in den 20er-Jahren schon ankündigte und die Stadt dann in den 30ern im Griff hatte.
Auf den ersten Blick ist es eine Stadtführung wie viele: Mannes führt eine bunt gemischte Gruppe an verschiedene Orte in Berlin, die vor 100 Jahren besonders wichtig waren. Die Gruppe steht vor Denkmälern in Tiergarten, läuft an der Spreeentlang, wo einst das Berliner Sexualinstitut errichtet wurde, und steht schließlich in Schönebergs Gassen, wo Christopher Isherwood die Vorlage für das Musical „Cabaret“ schrieb.
Doch es gibt Besonderheiten, die diesen Rundgang wirklich zu einer Reise in die Vergangenheit machen: An verschiedenen Orten hält Jeff Mannes sein mitgeführtes Tablet in die Höhe. Auf dem Bildschirm tauchen dank der App „Zaubar“ dann die Hauswand, die Straße, der Himmel auf, die wir alle sehen – und davor entstehen Bilder von Menschen aus der damaligen Zeit. Eine wirklich beeindruckende Augmented Reality: Es ist, als halte Mannes uns ein Fenster in die Vergangenheit vor Augen.
Die 20er in Berlin: Nicht nur Kokain und Federboas, auch Hunger und Syphilis
Als die Gruppe von der Bülowstraße in die Frobenstraße einbiegt, ist so ein Moment. Jeff Mannes zeigt auf das Tablet und erklärt anhand von Frauen auf Bildern Begriffe, die in den 20er-Jahren eben üblich waren: „Grashüpferinnen“ hießen die Frauen, die sich meist im Tiergarten neben die Büsche stellten und bei Bedarf schnell mit Freiern einen ruhigen Ort suchten. „Steinhuren“ war der Begriff für Prostituierte, die einen Hautausschlag hatten oder im Gesicht entstellt waren. Manche Freier suchten genau das. „Münzis“ waren schwangere Prostituierte, die sich damals rund um die Münzgasse in Mitte aufstellten. Und es gab auch einen furchtbar verharmlosenden Begriff für die Kinder vom Anfang dieses Textes: Medizinmädchen.
Mit jeder weiteren Vokabel entblättert sich das vermeintliche Lotterleben der Großstadt vor 100 Jahren, das eben auch eine Hauptstadt des bezahlten Sex war. Einige Europa-Abgeordnete sehen noch heute Berlin als ein Zentrum der käuflichen Liebe; eine Branche, bei der das Wort Zwangsprostitution immer mitgedacht werden muss – weil sie eine Realität ist. Die Berliner Zwanziger vor hundert Jahren waren eben nicht nur Bubikopf, Kokain-Döschen und Federboa, für viele Menschen bedeutete die Zeit zwischen den Weltkriegen auch Hunger, Armut und Syphilis.
Mannes erzählt auch von dieser Not, während er auf seiner Tour die verschiedenen Begriffe mit Bildern füllt: Da sind die „Halbseidenen“, Frauen, die sich nur etwas hinzuverdienen wollten durch Prostitution. Da sind die „Telefonmädchen“, die meist unter 20 Jahre alt waren und sich per Telefon bestellen ließen – und es gab die „Tauentziengirls“, eine sehr spezielle Form der Prostitution. Die Frauen liefen in sehr teuren Kleidern über den Kudamm und ließen sich von reichen Männern einladen: zum Essen, zum Theater und vielleicht auch zum Sex. Manche waren verheiratet, manche waren in finanzielle Not geraten, manche hatte einfach Spaß daran.
Der Krieg, die Armut, wie viel Zwang war denn nun dabei? Eine Ausstellung will darauf ab dem 26. März näher eingehen. In „With Legs Wide Open – Ein Hurenritt durch die Geschichte“ wird die Geschichte der Prostitution in Berlin genauer beleuchtet. Das Schwule Museum, das mitten in Berlins letztem Rotlichtkiez rund um die Bülowstraße liegt, erzählt vom Strich als einem Ort der Selbstermächtigung. Sexarbeit, so die Autoren in einem Begleittext, sei auch eine „Überlebenskunst“. Ihre „Whorestory“-Ausstellung will sich auch mit der Sexarbeit der Zukunft beschäftigen.
Die Denkmäler für die offenen Zwanziger werden oft zerstört
In den 1920er-Jahren war das offenbar tatsächlich ein Weg, am Leben zu bleiben. Der Markt war sehr ausdifferenziert: Es gab jüdische Frauen, sogenannte „Chonten“, die oft einen polnischen Hintergrund hatten. „Fohsen“ waren dafür bekannt, vor dem Sex auch für eine gute Massage zu sorgen – das heute bekannte Schimpfwort hat wohl diesen Ursprung. Für Männer, die es rauer mochten, standen in bestimmten Ecken des Kiezes die „Stiefelhuren“ bereit. Deren Schnürsenkel zeigten an, für welche Spielarten sie offen waren. Und die Bezeichnung „Puppenjungs“ weist auch auf ein weiteres Kapitel der Prostitution hin: Junge Männer, die meist in Gruppen an bestimmten Orten darauf warteten, von älteren Männern mitgenommen zu werden. Auch einen Transstrich gab es in Berlin – nicht weit von der Friedrichsstraße.
Nach London und New York war Berlin die drittgrößte Metropole der Welt. Es war die Zeit, als Bertolt Brecht die „Dreigroschenoper“ schrieb und Alfred Döblin sein „Berlin, Alexanderplatz“, jener Platz, der in seinem Roman gerade wieder aufgerissen wird und über den Menschen auf Holzbohlen laufen müssen. Marlene Dietrich wird bekannt mit ihrem Lied über die „fesche Lola“, und bis im Jahr 1929 die Weltwirtschaftskrise viele Menschen in die Armut trieb, war Berlin die Stadt, die das Leben und die freie Liebe feierte.
Bis diese Orte allesamt eingestampft werden. Denn auch das ist eine Wahrheit, die Jeff Mannes ganz am Ende der Führung erzählt. Das Berlin der Zwanziger war ein liberaler Ort, aber das wurde auch vielen zum Verhängnis. Kein einziger Club überlebte die Nazizeit. Alle wurden geschlossen und erst sehr viel später wiedereröffnet. Und wer bekannt war, in solchen Clubs zu verkehren, für den konnte es in den 30er-Jahren wirklich lebensbedrohlich werden. Einen kleinen Einblick in diese Geschichte gibt die Dokumentation „Eldorado“, die vergangenes Jahr auf Netflix erschien.