Das „Spiel mit den Nilpferden“ geht so: Junge Mitarbeiter, die einen Bericht für ihre Chefs bei den Vereinten Nationen erstellen, versuchen darin ein Wort zu verstecken, das nichts mit dem Inhalt des Berichts zu tun hat. „Badewannenstöpsel“ in einem Bericht über Kindersoldaten zum Beispiel oder „Sesamstraße“ in einem Text über ein überfülltes Flüchtlingslager – oder eben das Wort „Nilpferd“, wenn es um Völkermord in Burundi geht.
Gewonnen ist das Spiel, so schreibt Nora Bossong in ihrem neuesten Roman „Schutzzone“, wenn der Text an die höchste Instanz gegangen ist, ohne dass das Wort jemandem aufgefallen ist. Es ist natürlich ein zynisches Spiel, weil es brisante Texte plötzlich zu einem Spielbrett für gelangweilte Nachwuchs-Diplomaten macht. Und ganz nebenbei zeigt es, wie wenig solche Texte wirklich gelesen werden. Oder gilt das für alle längeren Texte?
Als ich Nora Bossong beim Spaziergang durch den Park neben dem Rathaus Schöneberg auf das Spiel mit den Nilpferden anspreche, sagt sie, dass es wirklich einige spielen. Überhaupt habe sie viele Erlebnisse von Freunden und Bekannten bei den Vereinten Nationen eingebaut. „Einige haben sich wiedererkannt“, sagt sie, „andere fanden die Arbeit in Afrika zum Teil noch aussichtsloser, als ich sie im Buch beschrieben habe.“ Sie wollte mit „Schutzzone“ auf die Misere hinweisen, in der Mitarbeiter in Krisengebieten immer wieder stecken: Zwischen Hilfe und Paternalismus, zwischen der Armut der Bevölkerung und dem Privileg, mit dem Taxi in ein Luxushotel oder mit dem nächsten Flug nach Genf oder New York fliegen zu können.
An dieser Stelle des Gesprächs, noch ganz am Anfang, treffen wir auf eine Ratte. Wir sind soeben die Treppe beim Brunnen mit dem goldenen Hirsch hinuntergelaufen, auf einer Bank sitzen zwei Damen und reden ungerührt miteinander. Nur drei Meter hinter ihnen läuft das Tier unter einem Mülleimer entlang, schaut kurz zu uns nach oben. „Die sieht genügsam aus“, sagt Nora Bossong – und tatsächlich: Das Tier kümmert sich um die Gegenstände, die neben dem Mülleimer liegen. Als die Schriftstellerin „Oh, jetzt kommt sie auf uns zu“ sagt, beschließen wir, die Treppen wieder nach oben zu gehen.
Nora Bossong kennt den Park gut. Aufgewachsen ist sie in Bremen und Hamburg, aber sie wohnt seit 15 Jahren in Berlin, die Gegend um das Schöneberger Rathaus ist ihr Kiez. Genauso lange ist die 38-Jährige inzwischen Schriftstellerin. Nach ihrem ersten Jahr in Berlin erschien im Jahr 2006 ihr Debüt „Gegend“. Er behandelt Verletzungen, die durch Patchworkfamilien entstehen und den Versuch einer Tochter, sich vom Vater abzunabeln. Die FAZ nannte den Roman „überfrachtet“, attestierte ihm aber auch „atmosphärische Dichte“.
Seitdem hat sie noch vier weitere Romane geschrieben, einen Reportageband über Sexarbeit sowie drei Gedichtbände. Für all diese Bücher hat sie diverse Preise gewonnen, die meist nach männlichen Kollegen benannt sind: Peter Huchel, Wilhelm Lehmann, Joseph Breitbach und Thomas Mann. In diesem Park – benannt nach dem Schöneberger Politiker Rudolph Wilde – ist sie oft spaziert, wenn sie den Kopf frei bekommen musste, auch während der vergangenen Corona-Monate.
„Eigentlich wollte ich jetzt in der Schweiz sein“, sagt sie. Sie hatte ein Stipendium der Stadt Lenzburg bekommen, einem 10.000-Einwohner-Ort mit mittelalterlichem Stadtkern im Kanton Aargau. Nora Bossong hat Verwandte in Schweiz, sie hat dort ihre Ruhe. Und: „Ich wollte endlich einmal weg aus Berlin, ich habe mich hier nie ganz heimisch gefühlt, es ist mir alles ein bisschen zu groß.“ Das hänge vielleicht auch damit zusammen, dass sie zwischendurch immer wieder für mehrere Wochen oder Monate unterwegs war. In den letzten Jahren in Städten wie Rom, New York, Lüneburg, Paris und schließlich auch Genf und Nairobi.
Besonders die Reise nach Afrika habe ihr zugesetzt. Sie habe zwischen Burundi, Ruanda und Kenia gemerkt, dass der Genozid eben erst 25 Jahre her sei. „Ich habe Frauen gesehen, die plötzlich einfach schreiend zusammenbrechen, weil sie sich an ein Ereignis erinnern“, sagt Nora Bossong. „Und da gab es diesen jungen Mann, der auf meine Frage, ob er von seinen Eltern Englisch oder Französisch gelernt habe, sagte: Ich habe sie nie erlebt.“
Ich hatte mir das Schriftstellerleben an sich etwas weniger bewegt vorgestellt. In gewisser Weise entspricht Bossong aber mit ihrem alten Nokia-Telefon aus dem Vor-WhatsApp-Zeitalter schon dieser Idee einer Schriftstellerin. Außerdem trägt sie gedecktes Schwarz und macht oft Pausen beim Sprechen. Man kann ihr dann beim Denken zuschauen. Sie arbeitet „hanseatisch“ von 9 Uhr morgens bis Mittags 12 Uhr und sehr oft Abends noch einmal eine Stunde, zwischen 20 und 21 Uhr. Gerade diese eine Stunde am Abend sei im Grunde die produktivste Stunde. Und für Recherchen ist sie gern unterwegs und spricht mit Menschen, die Dinge aus erste Hand erlebt haben.
In Afrika erlebte sie scharfe Gegensätze
Doch von jener Afrika-Reise kam sie deprimiert zurück. „Es war traumatisch, so absurd, in einer Nacht in einem Flüchtlingslager Dadaab zu sein, an der Grenze zu Somalia, und am Abend darauf plötzlich in einem Luxushotel am Pool zu sitzen, wo gerade eine Veranstaltung einer Pariser Modefirma stattfand.“ Das passte für sie nicht zusammen – dieses Elend und das Leben der UN-Mitarbeiter mit ihrem Nilpferd-Spiel. „Ich hatte wohl die schlimmste Depression meines Lebens, das war so eine Art Verzweiflung, dass es im Leben nie wieder gut werden wird.“
Wir haben den Teil des Parks erreicht, wo der Spielplatz nach dem nahe gelegenen Rias-Rundfunk-Gebäude benannt ist. Es gab Wochen für Nora Bossong, da hatte sie jeden Tag einem Termin in dem Haus, um über ihre Bücher zu sprechen. Zu Hause in Bremen sind dann ihre Eltern in den Buchladen gegangen und haben stolz auf das neue Werk ihrer Tochter gezeigt. Und sie eilte von einem Interview zur Buchmesse und dann wieder zum Interview.
Und genau deshalb wäre dieser Aufenthalt in der Schweiz jetzt gut gewesen. Aber dann kam ja Corona. „Am Anfang war das relativ hart für mich“, sagt sie. „Da habe ich irgendwie Panik bekommen, allein in meiner Wohnung.“ Sie habe mit Türen geschlagen („meine armen Nachbarn!“), laut Musik gehört („Nessun Dorma“ von Pavarotti oder die Stones) und musste sich schließlich mit dem Gedanken anfreunden, genau da jetzt bleiben zu müssen, wo sie im Augenblick nicht sein wollte. „Aber dann habe ich begonnen, mein Denken wieder über das Schreiben zu organisieren.“
Sie habe gemerkt, wie angenehm ihr kleiner Balkon mit Lesestuhl sei und dass es ihr dann erst richtig gut gehe, wenn sie die Figuren eines Romans wieder um sich versammelt habe. „Das ist im Grunde wie ein neues Zuhause für eine bestimmte Zeit.“ Nur leider seien das eben keine echten Freunde, diese erfundenen Personen – und so ist das Ende eines Romans für sie auch immer ein „Rausgeworfen-werden“.
Um uns herum ist es inzwischen richtig belebt geworden. Frauen und Männer mit Kinderwagen laufen den Weg entlang und reden unter anderem Russisch, Arabisch und Englisch. In einiger Entfernung spielen unter einem Affenbrotbaum zwei Männer „Speedminton“. Das ist so eine Trendsportart aus den 90er-Jahren, die inzwischen „Crossminton“ heißt, aber nie so richtig Fuß gefasst hat. Es funktioniert so ähnlich wie Federball, nur dass es mit großem Abstand und ohne Netz gespielt wird. Außerdem fliegt der Neon-Federball um einiges schneller und vor allem weiter.
Nora Bossong hatte von „Crossminton“ nie gehört, als ich aber „Trendsportart“ sage, glaube ich sie laut aufatmen zu hören. „Ich hatte eine Zeit lang das Gefühl, ich müsse mich mehr in sozialen Netzwerken beteiligen“, sagt sie. „Deshalb war ich jetzt drei Monate auf Twitter.“ Sie kam über eine Debatte in das Netzwerk: Es ging um einen postkolonialen Denker aus Kamerun, dem Antisemitismus vorgeworfen wurde. Man kann sagen, es muss eine sehr spezielle Twitter-Gemeinde gewesen sein, die sich mit solchen Themen auseinandersetzte. „Einerseits merkte ich durch diese Zeit auf Twitter, dass ich plötzlich wirklich mehr Debatten mitbekomme“, sagt sie, „aber auch, wie ich mehr und mehr Zeit darin verbringe.“ Normalerweise liest sie täglich rund 120 Seiten in einem Buch am Tag, und plötzlich kam sie dazu nicht mehr. „Am Ende habe ich meinen Account genervt gelöscht.“
Wir haben jetzt eine Bank erreicht und setzen uns zwischen zwei Mülleimer. Als es neben mir raschelt, fahre ich mit dem Kopf herum, aber es ist nur ein Spatz, der aus dem Busch hüpft. Während wir über alte Freunde („noch drei Freundinnen aus der Schulzeit“), ihre Narben („hier eine von einem Sturz in New York nach einer Geburtstagsfeier im Januar“) und ihre derzeitige Lieblingsserie („The Twelve“ auf Netflix) reden, kommt ein älterer Herr auf einem Fahrrad vorbeigefahren. Er hält an und beachtet uns nicht. Vom Fahrradsattel aus beugt er sich in dem Mülleimer und kramt nach Flaschen. Er muss einige Wespen verscheuchen.
Ich frage sie nach ihrem Ausflug in Berlins Unterwelt, für das Reportagebuch „Rotlicht“. „Ich habe nette Frauen kennengelernt, damals“, sagt sie, „Frauen, die sehr tough waren, ich habe große Hochachtung vor denen.“ Sie meint nicht die Edel-Prostituierten, sondern Frauen vom Straßenstrich an der Kurfürstenstraße. „Die machen das nicht aus sexueller Selbstentfaltung, sondern da ist immer eine Art von Zwang dabei.“ Es sei egal, ob da neben ihnen jemand steht, der sie dazu bringt, oder sie jemandem verfallen seien. Sie erzählt, dass damals, als das Buch erschien, mehr als einmal Männer jenseits der 60 ihr bei Lesungen erzählt haben: „Sie schreiben doch nur Bücher über Sex, weil Sie schwanger werden wollen. So ist das ja bei Frauen Mitte 30.“
Wer sich länger mit ihr unterhält, versteht, dass sie das richtig wütend gemacht haben muss. Sie hatte zu dem Zeitpunkt schon einen Roman über einen Vizekonsul in Mussolinis Italien geschrieben („Webers Protokoll“), hatte von Aufstieg und Fall eines Familienunternehmens erzählt („Gesellschaft mit beschränkter Haftung“) – und ihr vierter Roman „36,9 Grad“ über den italienischen Politiker und Philosophen Antonio Gramsci wurde 2016 in den höchsten Tönen gelobt.
Solche Kommentare von Männern könne sie aber weglächeln, auch sonst habe sie im Literaturbetrieb nichts „Anzügliches“ erlebt. Was sie ärgere – und da wird sie sehr ernst – sei, wenn man ihr Vertrauen erschleiche. Es habe da diesen Theaterregisseur gegeben, mit dem sie kurz zusammen war. „Ich bin vielleicht zu blöd gewesen, ihn gründlich zu googeln, aber ich bin über ein halbes Jahr nicht dahinter gekommen, dass er noch verheiratet war.“ Wahrscheinlich wisse seine Frau jetzt noch nichts davon. „Das ärgert mich ziemlich, weil es so einfach meine Idee von Feminismus doppelt kaputt macht.“ Bis heute verstehe sie es nicht, „Wir übernachteten in einem Hotel, und er wollte da nicht frühstücken.“ Da seien zu viele Kollegen im Hotel, die seine Frau kennen. So habe sie erfahren, dass sie seine geheime Affäre war.
Rattenköder ist das nächste, was mir in die Augen springt, als wir wieder am Eingang des Parks stehen. Wir müssen unsere Rattenbegegnung also nicht melden. Das Gesundheitsamt ist den Biestern schon auf der Spur. Zum Abschied erzählt sie eine Geschichte aus Berlin, die zeigt, dass sie hier doch ganz froh sei. Sie war frisch aus Paris zurückgekommen, und ein Berliner Handwerker sollte ein Fenster reparieren. Mehr zu sich selbst als zu ihr sagte er: „Na, dann machen wir das jetzt mal heile.“ Sie fand das wunderschön. Und das Nilpferd in diesem Text hat sie sicher gefunden: Affenbrotbaum. Die wachsen natürlich nicht in Schöneberg.
Zur Person
Werdegang Nora Bossong, geboren 1982, wuchs in Bremen und Hamburg auf. Sie wollte eigentlich Physik studieren, bewarb sich dann aber am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Außerdem studierte sie Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik in Berlin, Potsdam und Rom. Ihre Magisterarbeit schrieb sie über die „Inszenierung des Bösen“ im Werk des US-Filmregisseurs David Lynch.
Werk Im Jahr 2001 erhielt sie ihre ersten Literaturpreise. Im Jahr 2006 erschien ihr erster Roman „Gegend“, der von der Kritik sehr positiv aufgenommen wurde, wie jedes ihrer Bücher. Zuletzt erschien „Schutzzone“ bei Suhrkamp. Beim Bachmannwettbewerb nahm sie nie selbst teil, allerdings las Nora Gomringer im Jahr 2015 einen Text, der von einer Autorin namens Nora Bossong handelte.
Im Wintersemester 2018/19 arbeitete sie als Dozentin für Poetik an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Sie ist außerdem Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und war 2017–2019 Beisitzerin in dessen Präsidium. 2019 recherchierte sie in Paris für einen Roman über die Gelbwesten. Nachdem ihr Computer gestohlen wurde, brach sie das Projekt ab. Sie lebt in Berlin.
Spaziergang Die Route führte vom Schöneberger Rathaus quer durch den Rudolph-Wilde-Park und wieder zurück zum Rathaus.
Erschienen in der Berliner Morgenpost am 30.8.2020