Teil-Lockdown in Berlin: Die Nacht der leeren Straßen

Berlin bei Nacht, Foto: David Heerde/Berliner Morgenpost

Berlin.  Ein Packung Toffifee, ein Teelicht, eine Flasche Rotwein. Mehr hat Ewald Klassen nicht dabei. „Ist das nicht eine märchenhafte Nacht“, fragt er. „Ich meine das rote und gelbe Laub auf den Straßen, das Licht der Straßenlaterne, die Leere.“ Der 34-Jährige sitzt auf einem Vorsprung an der Gabriel-Max-Straße in Friedrichshain auf einer Decke und wartet auf „Concrete Flower of Berlin“, die Berliner Beton-Blume. So nennt er die Frau, die er vor drei Wochen auf der Museumsinsel singen hörte. Er hat ein Video gemacht, wie sie im Säulengang der Alten Nationalgalerie ohne Begleitung „O mio babbino caro“ singt, eine Puccini-Arie. Er zeigt auf die Einschusslöcher vom 2. Weltkrieg neben ihr im Video. Er hat sie angesprochen, fuhr zurück nach Gstaad, wo er wohnt. „Heute bin ich den ganzen Tag von den Alpen bis hierher gefahren, um sie wieder zu treffen.“ Bei Whatsapp hat er sie unter „Ruth Herzberührt“ abgespeichert. „Wir haben uns heute geküsst.“

Es ist 21 Uhr, Montagabend. Die erste Nacht des Berliner Lockdowns hält auch solche Geschichten parat. Zum zweiten Mal in diesem Jahr wird das öffentliche Leben in der Stadt und im ganzen Land heruntergefahren. Bars, Restaurants, Kinos, Theater, Fitnessstudios bleiben im November geschlossen. Die Zahl der positiv Getesteten ist in Deutschland auf über 15.000 am Tag gestiegen, Friedrichshain-Kreuzberg ist aktuell der am stärksten betroffene Berliner Bezirk. Laut den neuen Regeln dürfen sich Personen aus maximal drei Haushalten treffen, die Gruppen sollten zehn Personen nicht übersteigen. Das gilt auch für Obdachlose. Und streng genommen ist der verliebte Deutsch-Schweizer auf der Decke genau das.

„Ich weiß noch nicht, wo ich heute wohne“, sagt Ewald Klassen, „aber das findet sich.“ Da kommt Ruth vom Boxhagener Platz zurück. Die 24-Jährige ist tatsächlich professionelle Sängerin, kam vor einem Jahr aus England nach Berlin. „Meine Heimatstadt ist Bedfordshire“, sagt Ruth Harley, „das ist bekannt, weil die Romanfigur Bridget Jones auch von dort kommt.“ Sie hat in Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain gelebt, jetzt wohnt sie in einer WG in Lichtenberg. Sie erzählt von ihren Auftritten auf der Museumsinsel. Weil es im Augenblick keine Bühnen gibt, singt sie manchmal an öffentlichen Plätzen. „Es ist unglaublich, manchmal fangen die Menschen an zu weinen, wenn sie vor mir stehen.“ Ewald habe sie angesprochen und sie hat sich sein Profil auf der Webseite „Soundcloud“ angeschaut. Er ist Pianist. „Sein Stück ‚Seelenspiel‘ hat mich berührt.“ Sie sagt, er werde schon nicht auf der Straße übernachten müssten. „Er hat Geburtstag am Mittwoch.“

Ein Hubschrauber kreist in der Luft, ein Mann führt in kurzen Hosen seinen Hund spazieren und zwei Männer vom Ordnungsamt vergeben Strafzettel für Falschparker, eines direkt vor dem kleinen romantischen Lager am Boxhagener Platz, wo Ruth und Ewald sitzen. Die Männer sagen, dass es eine ruhige Nacht sei. Sie vergeben wenig Strafzettel, es komme ja niemand von außerhalb in die Gegend. Die Menschen, die hier parken, wohnen hier. Auch die Simon-Dach-Straße, sonst eine belebte Gegend, ist leergefegt. Sechs Polizisten stehen um einen Betrunkenen und versuchen ihn zu überreden, nach Hause zu gehen. Es ist 21.30 Uhr.

 

Erschienen in der Berliner Morgenpost, 03.11.2020