Berlin – Das Hupen ist sehr laut. Daran erinnert sich David B. noch genau. Er läuft gerade mit seiner Freundin durch einen verkehrsberuhigten Bereich in Charlottenburg. Da ist eine Kirche und direkt daneben ist am Sonnabend immer ein Wochenmarkt, so auch an diesem Tag. B. ist mit seiner Freundin in Richtung Schlosspark unterwegs. Sie wollten nicht durch die Menschenmenge des Markts laufen. Es ist April 2021, die wenigsten Berliner sind zu diesem Zeitpunkt geimpft. Als es hinter ihm hupt, erschrickt er.
§ 16 Abs. 1 StVO: Schall- und Leuchtzeichen darf nur geben, wer außerhalb geschlossener Ortschaften überholt oder wer sich oder andere gefährdet sieht.
„Ich habe mich umgedreht, und da sitzt dieser Mann, Mitte 40, in einem silbernen SUV und schaut mich wütend an“, erzählt David B. der Berliner Zeitung am Wochenende. „Wir sind da völlig regelkonform gelaufen, es war wie gesagt verkehrsberuhigt, und außerdem war neben uns viel Platz, so dass er hätte ausweichen können, wenn er es eilig hat.“ Doch die Beifahrerin habe ihr Fenster geöffnet und laut gerufen: „Runter von der Straße, Spinner!“ Wieder das Hupen. Die Leute auf dem Markt drehen nach den Streitenden um. David B.: „Wir stehen, er steht.“ Dann fährt der SUV langsam auf den Mann und die Frau zu, berührt seinen Oberarm.
Der 37-jährige TU-Professor für Informatik hat diesen Vorfall selbst auf Twitter in dieser Woche bekannt gemacht, es ist eine jener Geschichten, die in Berlin auf einen großen Resonanzboden fallen: Fußgänger gegen Fahrräder gegen E-Scooter gegen Autos gegen Laster. Fast tausendmal wurden die elf Tweets, in denen er die Geschichte zusammenfasst, geteilt. Gelesen haben es noch viel mehr und in Blogs weitergetragen. Obwohl das Erlebnis fast ein Jahr zurückliegt, schreibt er jetzt darüber, weil B. den Fahrer angezeigt und das Gericht über den Fall vorläufig entschieden hat.
Es ist eine Geschichte darüber, was passieren kann in dieser Stadt, wenn ein Fahrer eines zweieinhalb Tonnen schweren Autos denkt, er habe Macht über einen Fußgänger, und Regeln ihm egal sind. Es ist auch eine Geschichte über eine bestimmte Stimmung in der Stadt, die viele Berliner derzeit erleben. Nur aus dieser Woche: die wütende Lichthupe eines Autos, weil die Grünphase verpasst wurde (Mittwoch, Torstraße). Ein Radfahrer, der einen anderen Radfahrer anbrüllt: „Dann überhol mich doch, du Vollidiot!“ (Mittwochmorgen vor dem Kanzleramt am Tiergarten). Ein Radfahrer, der einem Autofahrer im Vorbeifahren einen Mittelfinger zeigt, einfach so. (Dienstag, Eberswalder Straße). Jeder Berliner kann solche Geschichten derzeit erzählen.
David B. zog im Jahr 2014 von Karlsruhe nach Berlin. „Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich hier eingelebt habe“, sagt der Informatik-Professor. Als Fahrradfahrer habe er immer wieder Dinge erlebt, die ihn schockieren und ärgern. Außerdem kennt er die Zahlen: 39 Fahrradfahrer und Fußgänger im Berliner Straßenverkehr gestorben. „Deswegen habe ich irgendwann die Straßenverkehrsordnung mehrfach komplett gelesen.“ Er wollte, dass er sich sicher sein kann, dass er die Regeln kennt, wenn er anderen Fehlverhalten vorwirft. Er betreut gleichzeitig ein Projekt, bei dem Fahrradfahrer in ganz Berlin gefährliche Gegenden in eine App eintragen können. B. möchte sein Verkehrsprojekt aber nicht mit diesem Erlebnis bewerben, das würde den falschen Eindruck erwecken.
§ 42 Abs. 4 StVO: In einem verkehrsberuhigten Bereich (darf) nur mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden. Jegliche Behinderung oder gar Gefährdung von Fußgängern (…) muss verhindert werden.
David B. weicht zurück, als die Kühlerhaube des SUV ihn berührt, das Auto rollt weiter und berührt ihn erneut. Fahrer, seine Beifahrerin und Fußgänger schreien einander an. B. zückt sein Mobiltelefon und beginnt, das Auto zu fotografieren: das Nummernschild, die Beifahrerin, den Fahrer, die ganze Szene. Dann ruft er dem Fahrer zu: „Ich rufe jetzt die Polizei!“ Plötzlich setzt der Fahrer zurück und rast an ihm vorbei in Richtung Hauptstraße.
Die Polizei kommt kurz darauf und nimmt die Anzeige auf, spricht mit Zeugen, die allerdings laut David B. erst später dazugekommen sind. Er glaubt zu dem Zeitpunkt, dass für den Fahrer zumindest ein Bußgeld fällig wird. Weil niemand zu Schaden gekommen sei, trifft „Fahrerflucht“ nicht zu, sagen ihm die Beamten, aber sie werden den Fahrer des SUVs kontaktieren und sich anschließend bei ihm melden. Zumindest Nötigung im Straßenverkehr könnte eine Begründung für die Strafe sein.
Der Begriff der „Nötigung“ kommt nicht in der StVO vor, aber im Strafgesetzbuch. Niemand soll lauf Paragraf 240 durch Gewalt zu einer Handlung gedrängt werden. Im Internet sind Beispiele für diesen Umstand angegeben, auch in den Kommentaren zu B.s Tweets sind derartige Geschichten erzählt: Wie Autofahrer Fahrradfahrer anfahren, weil sie nicht vorbeikommen, wie sie Fahrradfahrer zur Seite drängen bis zum Umfallen. In den Kommentaren wird auch deutlich, wie verhasst SUV-Fahrer in Berlin sind.
Erst im Februar dieses Jahres war ein SUV-Fahrer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er an der Invalidenstraße vier Menschen getötet hatte. Er hatte die Kontrolle über sein Auto verloren, weil er einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Diese schweren, großen „Sport Utility Vehicles“ sind eine Mischung aus Limousine und Geländewagen, über zwei Millionen sind in Deutschland zugelassen. Der Vierradantrieb ist für den Betrieb in der Stadt im Grunde unwichtig, aber viele – meist ältere – Fahrer schätzen an diesem Auto, dass sie einsteigen können, ohne sich nach unten beugen zu müssen.
Nach ein paar Schriftwechseln zu diesem Vorfall kommt im Januar dieses Jahres ein Brief bei David B. an. Darin steht nur ein Satz: Gemäß Paragraph 153 Abs. 2 StPO wird das Verfahren gegen den Fahrer des SUVs eingestellt. B. schlägt in der Strafprozessordnung nach und erfährt dort, dass dieser Paragraf greift, wenn geringe Schuld oder kein öffentliches Interesse vorliege. Er ärgert sich: „Das bedeutet für den Fahrer, dass nichts passiert sei und er weiter so handeln kann, wie er es getan hat.“
Mona Lorenz von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat sich auf Anfrage noch einmal sämtliche Akten zu dem Fall zukommen lassen. Sie sagt, dass kein Schaden entstanden sei, dass der Tatverdächtige nicht vorbestraft sei und spricht außerdem von einem „tatprovozierendem Verhalten des Geschädigten“, das „nicht ausgeschlossen werden könne“. Am Ende ihres Berichts zum Fall noch ein interessantes Detail: Die Amtsanwaltschaft hat zugestimmt, dass das Verfahren eingestellt wird, unter der Bedingung, dass der Beklagte die Kosten seines Anwalts selbst trägt.
David B. will trotzdem eine Beschwerde einreichen. Er wundert sich, dass die beiden Insassen des Autos offenbar leugnen, ihn mit dem Auto berührt zu haben – und damit durchkommen. „Warum wurden wir nie mit den Aussagen konfrontiert?“ Seine Freundin hätte schließlich den gesamten Vorfall ebenfalls bezeugen können. Die anderen Zeugen waren 20 bis 30 Meter weiter weg. Am Ende sagt B. einen versöhnlichen Satz: „Ich weiß, dass nur ein Bruchteil der SUV-Fahrer sich so verhält, aber sie müssen sich bewusst sein, dass sie mit einer Waffe agieren.“
§ 1 Abs. 1 StVO: Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.