Am 5. Dezember schreibt Susanne Leger eine Nachricht an Linh Chi: „Hallo, ich habe gehört, Du bist krank. War das Essen in der Schule schlecht?“ Linh Chi: „Nein. Ich kein Problem. Danke.“ Frau Leger schreibt: „Ok, dann gute Nacht und viel Spaß in der Schule morgen.“
Susanne Leger ist Linh Chis Vormund und das Mädchen ihr Mündel. So etwas gibt es immer häufiger in Deutschland. Linh Chi kam als unbegleitet geflüchtete Minderjährige Mitte 2016 aus Vietnam nach Deutschland. Schleuser brachten sie aus Moskau mit dem Auto nach Berlin, sie kamen aus Polen. Mehr erzählt sie nicht. Ihre Eltern seien tot. Ihren Pass, sagt sie, habe sie verloren. Linh Chi zeigte ein Foto von einer Bretterhütte in Vietnam. „Mein Zuhause“, sagte sie.
Die 57-Jährige Susanne Leger arbeitet in einem Bundesministerium, sie ist verheiratet, hat keine Kinder. Aber mehr will sie gar nicht von sich erzählen, es geht nicht um sie. Deshalb ist Susanne Leger auch nicht ihr richtiger Name. Als sie klein war, hatte sie selbst einen Vormund, mit dem sie sich gut verstand. Nach der Flüchtlingskrise wollte sie sich engagieren, meldete sich beim Verein für Vormünder. Sie wollte das auch für jemanden sein: Ein Anker in der Welt. Im Herbst 2016 lernt sie Linh Chi kennen.
„Sie war schüchtern, sehr zurückhaltend und hat kaum gesprochen“, erinnert sie sich. Leger erzählt von einem Ausflug zu einer Schmetterlingsfarm auf Rügen, da habe Linh Chi geweint, weil sie das an Vietnam erinnert habe. Oder von dem Mandala, das Linh Chi für ihre Sozialarbeiterin Ariane B. ausgemalt hat. „Wie konzentriert sie war“, sagt Ariane B. Das bunte Mandala hat sie über ihren Schreibtisch gehängt.
Am 6. Dezember 2017 schrieb Susanne Leger um 9.53 Uhr: „Liebe Linh Chi, Ariane sucht dich den ganzen Tag. Wo bist Du? Du warst heute wieder nicht in der Schule.“ Um 12.54 Uhr: „Bitte melde Dich.“
Hinter den Meldungen ist nur ein graues Häkchen. Die Nachrichten sind versendet, aber sie haben sie nie erreicht. Linh Chis Telefon ist abgestellt. In ihrem Zimmer fehlen ein paar Dinge, das „Allernötigste“, wie man sagt.
Laut Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) leben derzeit rund 23.000 von Geflüchteten unter 18 Jahre in Deutschland. Diese bekommen in den meisten Fällen einen gesetzlichen Vormund. Die haben häufig bis zu 50 Mündel auf einmal zu betreuen. Ehrenamtliche Vormünder können diese Lücke schließen.
„Ich besuchte sie rund einmal in der Woche. Am Wochenende machten wir Ausflüge“, sagt Leger. Sie redeten über den Alltag, machten Hausaufgaben. „Erst war sie unsicher, aber mit der Zeit öffnete sie sich, erzählte von der Schule, ihrer Willkommensklasse.“ In der Dreier-WG kam Linh Chi gut zurecht.
Aber: Warum geht sie dann einfach weg? Warum ist sie verschwunden? Susanne Leger lässt diese Frage keine Ruhe. „Ich habe einfach Angst, zur Polizei gerufen zu werden, und ihre Leiche zu identifizieren.“
Linh Chis Geschichte ist ein Kriminalfall, der mitten in Deutschland immer wieder passiert. Fast 5200 unbegleitet geflüchtete Jugendliche und fast 2000 geflüchtete Kinder werden derzeit in Deutschland vermisst. Seit 2012 wurden in Berlin allein 472 minderjährige Vietnamesen als vermisst gemeldet, das meldet der „Tagesspiegel“ unter Berufung auf die Berliner Polizei. In Brandenburg gelten derzeit laut RBB-Recherchen noch 32 minderjährige Vietnamesen als vermisst.
Doch wirklich „vermisst“ werden diese Mädchen und Jungen meist von niemandem, keiner stellt Fragen. Und wenn doch, dann werden sie häufig schnell abgewimmelt.
So ergeht es auch Susanne Leger. Ein vietnamesischer Pfarrer sagt: „Sie wird von der vietnamesischen Community aufgenommen. Keine Sorge.“ Ein vietnamesische Sozialarbeiterin sagt: „Das höre ich oft, es tut mir leid für Sie, aber normalerweise kümmert sich die Community sehr gut.“
Ein deutscher Polizist sagt: „Die vielen asiatischen Namen auf meiner Liste sind wie Augenpulver. Aber ich kann nur sagen: Bei Vietnamesen kommt es durchaus vor, dass sie einfach mal weg sind.“
Doch zwischen die vielen Beruhigungen mischen sich auch andere Töne. Ein Vietnamese zischt Susanne Leger per Du an: „Halt Dich da besser raus, wir regeln das unter uns.“ Ein anderer Bekannter, der „sich mit Vietnamesen auskennt“, erzählt von illegalen Bordellen nur für Asiatinnen oder dunkle Keller, in denen sie nähen müssen, in Frankreich, Belgien, Großbritannien oder den Niederlanden.
Als Drehkreuz für den Menschenhandel, so erfährt der RBB, dient offenbar Warschau. Die Arbeitgeber nutzen die Arbeiterinnen und Arbeiter aus, die Pässe werden abgenommen und sie müssen „Schulden“, die Kosten der Schleusung, abarbeiten.
Leger schreibt Experten für Menschenhändler an und erfährt, dass manche geschleuste Flüchtlinge Schulden von bis zu 15.000 Euro haben. Ist Linh Chi vielleicht auch deshalb verschwunden?
Aktuell häufen sich die Zahlen der jungen Vietnamesen in Berlin und Brandenburg, die bei Razzien zwar dem Kindernotdienst übergeben werden, dort aber freiwillig wieder gehen.
Warum sie sich lieber in die Illegalität flüchten, danach fragt niemand. Und wenn jemand fragt, wie Susanne Leger, ist häufig Schweigen die Antwort.
Einige Hilfsorganisationen lehnen eine Zusammenarbeit mit ihr ab, weil sie keine Verwandte sei. Aber Linh Chi hat nach eigenen Angaben keine Verwandten in Deutschland. Die einzigen Verbündeten bei der Suche sind zunächst Linh Chis Lehrer und Betreuer.
Susanne Leger trifft sich mit den Nachhilfelehrerinnen, die ein gutes Verhältnis mit ihr hatten. Ihre Fortschritte im Deutschen waren gut und es sah so aus, dass sie bald eine Regelklasse hätte besuchen können. Sozialarbeiterin Ariane B. schlägt vor, Zettel mit einem Foto von Linh Chi aufzuhängen. Oder bringt das Linh Chi in Gefahr? Sie geht zum Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg, schaut in die Gesichter der Menschen. Sie trifft einen vietnamesischen Blogger, der sich gut „in der Szene“ auskennt. Er will sich umhören, aber erfährt nichts über Linh Chi. Er sagt, vielleicht ist ihr richtiger Name ein anderer?
Susanne Leger fällt auf, wie wenig sie vom Vorleben von Linh Chi weiß. Sie ruft bei einem Jugendhaus für Vietnamesen in Berlin-Tegel an. Doch die Betreuerin dort sagt nur, sie könne ihr nicht weiterhelfen. Im Februar 2018 trifft sie schließlich einen anderen Vormund, dessen Mündel ebenfalls verschwunden war. Der Vormund beruhigt sie: „Keine Sorge, sie taucht wieder auf, die will nur etwas Geld verdienen.“ Sein Mündel kam wirklich nach drei Monaten zurück, blieb allerdings in der Illegalität.
Im März 2018 bricht der vierte Monat ohne Linh Chi an. Susanne schaut sie sich bei einem Vietnam-Vereins-Treffen den Film „Obst und Gemüse“ an. Es ist ein fröhlicher bunter Kurzfilm über das Lebensmittelgeschäft von „Herr Nguyen“ in der Schönhauser Allee. Es geht um Missverständnisse, zum Beispiel dass das Vietnamesische „Cà“ (Aubergine) und „Cá“ (Fisch) gleich klingen. Der ihr bekannte Akzent der Vietnamesen im Film macht sie froh und traurig zugleich.
Nach dem Film sprechen Vertreter der „Vietnamesischen Community“ auf einem Podium. Jemand auf den Podium sagt: „Wir sind die Unsichtbaren.“ Viele nicken. Nach dem Vortrag geht Leger auf einzelne Vietnamesen zu: „Kennen Sie Linh Chi? Wo könnte sie sein?“ Einige Antworten machen sie wütend: Wie können Einzelne aus dieser Community in Deutschland so ganz nach ihren Regeln leben wollen und dabei deutsche Gesetze wie Schulpflicht oder den Jugendschutz ignorieren?
Im Mai 2018 ist es ein halbes Jahr, dass Linh Chi verschwunden ist. Inzwischen hat Susanne Leger erfahren, dass die letzte Handyortung von Linh Chis Mobiltelefon am Alexanderplatz war. „Aber das kann überall sein“, sagt ihr der Polizist. Die Funkzellenabfrage könne auf bis zu zwei Kilometer ungenau sein. Sie ruft regelmäßig bei der Polizei an.
„Ich fühlte mich wie ein Störfaktor“, sagt sie. „Die wunderten sich, dass da überhaupt jemand nachfragt.“
Der „Jahrhundertsommer 2018“ in Deutschland beginnt und erinnert sie an die Ostseereise im Jahr zuvor. Auf ihrem Schreibtisch liegen noch immer zwei Muscheln aus Rügen. Und das Freundschaftsarmband, das Linh Chi für sie geknüpft hat. Blau und Grün.
Aber da gab es auch diese Wochenenden kurz vor dem Verschwinden, an denen sie nur sagte, sie sei unterwegs. Wenn man sie fragte, blieb sie stumm. Susanne Leger dachte dann: Sie ist fast erwachsen.
Oder war es doch dieser eine Termin bei der Ausländerbehörde? „Es gab ein Treffen, das ich als traumatisch bezeichnen würde.“ Das war im Oktober 2017, sechs Wochen vor ihrem Verschwinden. Damals wurde Linh Chi direkt nach der Ankunft in der Behörde von Susanne Leger getrennt. Es waren vietnamesische Beamte, die Linh Chi anschließend verhörten. Susanne Leger wurde der Zugang zu dem Verhör verweigert.
Als Linh Chi nach drei Stunden wieder aus dem Raum kam, war sie eine andere. Sie klammerte sich an ihren Vormund. „Das hat sie sonst nie gemacht“, sagt sie, „solche körperliche Berührungen waren sehr untypisch.“ Sie holten sich dann an dem Tag noch den Stempel für die Verlängerung ihres Duldungsstatus. „Aber Linh Chi war danach verändert, noch in sich gekehrter.“
Auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Vietnam ist seit dem Jahr 2018 gestört: Kurz zuvor wurde der Öl-Manager Trinh Xuan Thanh auf offener Straße entführt, in einem Transporter zum Flughafen gefahren und nach Hanoi geflogen. Inzwischen ist er wegen Misswirtschaft zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
Das Vorgehen der Vietnamesen in diesem Fall bricht sämtliche internationalen Regeln. Es gab ein Gerichtsverfahren, Gefängnisurteile für Beteiligte, aber der Fall belastet die diplomatischen Beziehungen bis heute.
Das letzte Treffen: Mathe und ein Tanz ohne Lachen
Susanne Leger denkt noch heute immer wieder an ihr letztes Treffen mit ihrem Mündel. Hätte sie etwas merken sollen? „Am Abend, als ich bei Ihr war“, sagt sie, „war sie ganz aufgeräumt.“ Sie hatte mit sehr viel Mühe begonnen, eine Zusammenfassung der „Geschichte des Mädchens Kieu“ für Susanne Leger in Deutsch zu verfassen. Das ist eine vietnamesische Volkssage, in der ein junges Mädchen in die Hände eines Bordellbesitzers gerät. Jeder Vietnamese kennt die Geschichte. „Sie hatte angefangen, die Kapitel für mich zusammenzufassen.“ Dann haben sie noch ein wenig Mathe gemacht und am Ende hat sie ihr vorgetanzt. „Aber nur, wenn du nicht lachst“, hatte Linh Chi gesagt. Susanne Leger lachte nicht.
Vor einem halben Jahr hatte sie noch einmal Hoffnung. Ihr Mann hatte Linh Chi gesehen, oder jemanden, der genauso aussieht. In der Nähe des Bayrischen Platzes in Schöneberg, eine Gegend, die Linh Chi gut kannte.
Am nächsten Tag verließ Leger ihre Arbeit etwas früher. Sie saß den ganzen Nachmittag auf einer Bank und schaute in jedes Gesicht, das asiatisch aussah. Linh Chi war nicht dabei.
Seit eineinhalb Jahren ist Susanne Leger jetzt ein Vormund ohne Mündel. Ein Lichtblick ist, dass Anfang dieses Jahres die vietnamesische Community sie ernst nahm. Sie waren plötzlich da für sie und hatten Zeit. Sie nahmen ihr Foto mit zu Treffen, erkundigten sich, auch der Pfarrer ließ seine Kontakte spielen. Doch Linh Chi bleibt verschwunden. Bis zu ihrem 18. Geburtstag in wenigen Monaten hat sie noch einen Aufenthaltsstatus. Aber wenn die letzten 18 Monate etwas gezeigt haben, dann das: Es gibt jemanden, der nicht aufhört, diese Frage zu stellen: Kennen Sie Linh Chi?