René lernt gerade, mit 45 Jahren, zum ersten Mal die Signalzeichen für Züge in Deutschland. Eine Sache lässt ihn dabei nicht los: Die Signale für Ost-Lokführer sind anders als die für West-Lokführer. Eine blinkende grüne Lampe rechts oben gibt es in der Version DV und DS. „DV“ stehe für den Osten, sagt er. „Als Eselsbrücke haben sie uns beigebracht: Das V heißt Verlierer, das S heißt Sieger.“ Von den West-Lokführern, sagt René noch, wolle bis heute keiner die Ost-Signale lernen.
Erzählt hat mir René das auf einem Klassentreffen an diesem Wochenende in Dresden. René hat es organisiert, vielleicht hätten wir uns alle sonst nie wiedergesehen: Romy, Marc, Anett, Robert, Anke, Wodny, Rainer und all die anderen. Es ist die Klasse 6b der 115. Polytechnischen Oberschule in Dresden-Niedersedlitz, die ich besucht habe. Es waren die Jahre 1989 bis 1991, ausgerechnet jene Schicksalsjahre eines Landes, über das manche gar nicht mehr sprechen wollen und über das andere nicht genug sprechen können derzeit.
Wir schreiben das Jahr 33 nach der Wiedervereinigung, und am Dienstag werden viele den Tag der Deutschen Einheit feiern. Laut einer aktuellen Umfrage fühlen sich 40 Prozent der Ostdeutschen eher als Ostdeutsche, hier am Tisch sind das schnell 100 Prozent. Das Vermögen der Einwohner zwischen Rostock und Zwickau entspricht immer noch einem Drittel des Vermögens der Menschen im Westen — und drei Viertel unserer Eltern hatten laut Statistik einen anderen Job nach der Wiedervereinigung als vorher. Sieger und Verlierer.
Das ist kurz Thema an dem langen Tisch im Restaurant Olympos, denn auch wir haben diese turbulente Zeit irgendwie doch zusammen durchgemacht. Einer sagt, sein Vater habe kaum bemerkt, ob sein Sohn zu Hause war oder nicht. „Die hatten so viel mit sich zu tun.“ Ich wiederum kann mich kaum erinnern: Was war eigentlich in den beiden Jahren mit uns passiert? Hatten wir normalen Unterricht? Einer meint, dass der Lehrplan total durcheinanderging. „Wir hatten doch drei Jahre hintereinander die Französische Revolution“, sagt er. Andere erzählen, dass sie nach dem Mauerfall jedes Jahr in einer anderen Klasse waren. Weil sich die Struktur mit Gymnasien erst langsam entwickelte. Auf jeden Fall ging der Russisch-Unterricht weiter, und im Sportunterricht gab der Lehrer allen Jungen einen Klaps auf den Hintern. Das gibt es heute nicht mehr. Und zum Glück auch nicht mehr Menschen wie unsere Klassenlehrerin.
Frau K. war eine Lehrerin, die selbst auf den Schwarz-Weiß-Fotos nicht glücklich aussieht. Vielleicht hatte sie es auch nicht leicht, auf jeden Fall erinnern wir uns hier am Tisch an sie nicht wegen ihres Unterrichts, sondern deshalb, weil sie uns Dinge wegnahm, die es in der DDR nicht geben durfte. Es ging vor allem um Asterix-Comics, Tintenkiller und irgendwann beinahe auch einen Sportbeutel. „Ich hatte einen gelb-schwarzen Turnbeutel von Netto“, sagt Maria, „den sollte ich lieber zu Hause lassen.“
Heute wohnen wir alle in Köpenick, Schöneberg, Prenzlauer Berg oder Bonn, Hamburg, Malmö und „haben noch ein Haus in Abuja“, weil dort die Frau herkommt. Das sind die Geschichten, die auch an diesem Abend erzählt werden, nur ein Drittel von uns ist in Dresden geblieben, manche waren einige Jahre im Westen und sind dann doch zurück nach Sachsen. In Bayern, sagt einer, war das mit der Diskriminierung am schlimmsten. Mit dem sächsischen Dialekt dürfe man sich dort jedenfalls nicht blicken lassen.
Gerade hat der Ostbeauftragte Carsten Schneider ein Konzept beschlossen, das unter anderem vorsieht, in Zukunft Personalverantwortliche zu sensibilisieren für Ostbiografien. Schneider will, dass sich die Zahl von Ostdeutschen in Leitungspositionen erhöht. Er spricht von einer „unbewussten Diskriminierung von Menschen aus dem Osten“, besonders im öffentlichen Dienst sei diese sehr ausgeprägt. Verlierer und Siegern eben. Hier am Olympos-Tisch lässt sich das kaum bestätigen. Ärzte, Professoren, Bundespolizisten, Chefköche und Projektleiter für Entwicklungshilfe, keiner hat einen Ost-Minuspunkt ertragen müssen in seiner Karriere. Oder will heute davon sprechen. Nur so viel: Wir alle verstecken manchmal, wo wir herkommen.
Zu schnell geht es dann in Gesprächen nicht mehr um das schöne Elbtal und den Striezelmarkt, sondern nur noch darum, warum denn dort die AfD so sehr erstarken konnte und wie man sich verhalte. Marc ruft: „Halt, keine Politik heute Abend!“ Er muss das einige Male tun bei diesem Klassentreffen. Als einer von seinem Leben erzählt, geht es um die Flüchtlingskrise 2015 und wie die sein Leben verändert hat. Da steht es plötzlich mitten auf dem Tisch, das N-Wort, und keiner weiß, ob man das in Sachsen nach dem dritten Bier ausdiskutieren muss. Hat er gehört, dass Robert in Nigeria ein Haus gekauft hat? Wir entscheiden uns gegen einen Streit an diesem Abend.